Sarrazin – Ein Name und sein Thilo

Sehr eigen, das Fremde


Der Familienname „Sarrazin“ geht auf die Bezeichnung „Sarazenen“ zurück, mit der die „christlichen Europäer“ im Mittelalter die „unangepassten Muslime“ bezeichneten. Damit trägt der Oberlehrer in Sachen „unangepasste Muslime“ also den Namen, der vor hunderten von Jahren für die „drohende Islamisierung“ Europas stand. Dieser Tatsache widmete Jörg Lau vor einem Jahr bereits einen Artikel im Blog von Zeit.de. (Auch einen aktuellen Beitrag zum Thema gibt es von ihm.)

Der Name Sarrazin sagt natürlich nichts über die Person Thilo Sarrazin aus, aber über jenes Europa, das uns der Herr immer versucht zu erklären: In die große Kultur des Abendlandes, die von Thilo Sarrazin verteidigt wird, müssen sich in den letzten Jahrhunderten Muslime in großer Zahl eingeschlichen haben, denn der Name Sarrazin (Variante z.B.: Sarrasin) ist heute weit verbreitet.


Thilo Sarrazin, später Nachfahre (un)angepasster Muslime?
(Foto: CC Wikipedia/ Benutzerin Nina)

Thilo Sarrazin kennt die historische Dimension seines Namens. Möchte er davor fliehen? Ich meine ja. Denn ich glaube, Thilo Sarrazin hat keine Angst vor dem Islam in Europa heute, er hat Angst vor dem Islam als Teil seiner eigenen Identität. Aus dieser Angst heraus stört ihn alles in seinem Umfeld, was ihn an den Islam erinnert. Thilo Sarrazin bekämpft die muslimische Dimension der europäischen Identität – eine Dimension, die er in seinem eigenen Namen mit sich tragen muss. Darum ist er so ausweglos verzweifelt.

Tut doch nicht so!

Polemischer Einwurf


Wer mit den kollektiven Entfernungen der Roma aus Frankreich einverstanden ist, sollte zu seinem Rassismus stehen. Viel mehr ärgert mich, wie heuchlerisch Viele das idealistische Menschenbild der EU-Grundrechtecharta hochhalten – aber nur, solange es ein theoretischer Text ist. Der Artikel 19 darin hat die Überschrift „Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung“ und da steht unter §1: „Kollektivausweisungen sind nicht zulässig“. Dieser Artikel resultiert aus der Erkenntnis, dass Menschen Individuen sind und nicht nach irgendwelchen Gruppenkriterien behandelt werden dürfen. Der Artikel bringt die Ablehnung einer Menschenlogik zum Ausdruck, die in der NS-Zeit die Politik bestimmte.

Internationale Medien schauen jetzt auf die Politik Sarkozys. Entrüstung macht sich breit. Ich finde das heuchlerisch, denn bereits vor einem Jahr zeigte sich dort in der behördlichen Praxis ein sehr beunruhigendes Menschenbild. Auch gegenüber Italien gibt es hier und da verkaufsfördernde Medial-Entrüstung. Biometrische Erfassung von Menschen, einschließlich Kindern, nach kollektiven Gesichtspunkten – diese perverse Realität hat sich etabliert! In Umfragen stimmen große Bevölkerungsteile solchen rassistischen Vorgehensweisen zu. Es ist ja ganz schön, dass die Presse noch Ansätze rassismuskritischer Reflexe zeigt, aber genauso schnell ist das Thema dann wieder verschwunden.

Diese rassistischen Kollektivbehandlungen interessieren immer besonders, wenn man sie an Sarkozy oder Berlusconi festmachen kann. Die Bad Boys in der Saubermann-EU. So ein Quatsch! Diese Herren repräsentieren Europa und sie repräsentieren ein in Europa nicht wenig verbreitetes Menschenbild. Nicht an der EU-Charta lässt sich der Zustand unserer Gemeinschaft ablesen, sondern am alltäglichen Umgang mit Menschen. Berlusconi und Sarkozy zeigen uns, was möglich ist. Mit rassistischer Politik erhöhen die beiden ihren Beliebtheitsgrad. Das heißt nicht die beiden Herren Politiker sind das Problem, sondern die große Menge Menschen, die ihre Ansichten teilen!

Jetzt zu Deutschland. Wenn ich diese Empörung über Sarkozy in vielen deutschen Medien lese, wird mir übel. Nicht wegen der Artikel selbst, sondern weil ich weiß, was die gleichen Zeitungen sonst abdrucken. Der Buhamann Sarkozy wird jetzt zum Anlass genommen, Artikel von kritischen Journalisten abzudrucken und an europäische Ideale erinnern zu lassen. Ekelhaft. Die gleichen Redaktionen hätten in letzter Zeit die Gelegenheit gehabt, jeder einzelnen der grausamen Abschiebungen von Roma ins Kosovo einen Artikel zu widmen. Jetzt tun diese Redaktionen plötzlich so, als ob die Roma in Europa ihnen eine Herzensangelegenheit wären. Das ist doch heuchlerisch. Denn wenn Sarkozy und Berlusconi nicht gerade offenen Rassismus praktizieren, segnen jene deutschen Redaktionen Artikel ab, in denen Roma als drohende Einwanderungsgefahr, „penetrante Wischer“ und mit plärrenden Kindern vorgestellt werden. Die Überschrift „Wisch und weg“ wird in identischer Weise von mehreren Zeitungen als adäquat empfunden, über Roma zu berichten, mit denen man lernen müsse, zu leben.

Und als vom Landesparlament in Schleswig-Holstein entschieden wurde, dass der Minderheitenschutz für die dort autochthonen Sinti und Roma im Gegensatz zu anderen Gruppen nicht in die Landesverfassung übernommen wird, blieb der mediale Aufschrei auch aus.

Wer sich für eine derartige mediale Verarbeitung von Menschen entscheidet, bereitet den Nährboden für rassistische Praxis. Man sollte mit dem Kritischsein bei sich selbst anfangen, nicht bei Sarkozy oder Berlusconi.

Ich soll mich freuen, dass das überhaupt thematisiert wird? Nein, auf keinen Fall. In ein paar Wochen ist der internationale Rummel um Sarkozy vergessen. Und der herablassende Umgang mit Roma in Deutschland wird genauso wenig beachtet, wie immer.

Schlingensief


Ich kannte Christoph Schlingensief nicht persönlich und er hat auch nicht mein Leben verändert. Aber ich erinnere mich noch genau, wie ich und mein damaliger WG-Mitbewohner Schlingensiefs Film Terror 2000 zig Mal gesehen haben. Ganz oft waren dabei Freunde zu Besuch. Es war meine erste WG, man entwickelte sich, gerade 18 geworden, langsam zum politisch sensiblen Wesen. Ende 90er, eigentlich noch immer Nachwendezeit, mindestens Umbruch (zumal in Prenzlauer Berg). Damit fiel Schlingensief in eine wichtige Zeit, und mit dem, was er machte, nahm ich ihn definitiv als eine Besonderheit wahr. Über die nachhaltigen Spuren seines Wirkens wird sicher in den nächsten Tagen viel geschrieben und gesendet.

Als er dann sein TV-Projekt U 3000 (alle Folgen wurden in einer fahrenden U-Bahn gedreht, ab und zu gab es Stopps an festgelegten Stationen) bei MTV umsetzen durfte, wohnte ich bereits alleine in einer Einraumwohnung. Selbst für den „coolen“ Jugendsender war Schlingensief etwas sehr besonderes, im positiven Sinne. Irgendwie scheiterte die Sendung dann daran, dass Christoph Schlingensief den strengen Zeitplan nicht einhielt, den MTV von der BVG für die Drehs in der U-Bahn bzw. genauer gesagt für die Stops an den Stationen vorgegeben bekam. In einer Sendung fuhr der Zug dann weiter und Schlingensief stand mit dem Kameramann noch auf dem Bahnsteig. Danach gab es plötzlich dann keine Folge mehr.

Christoph Schlingensief war zum Ende meiner Teenager-Zeit eine wichtige Figur in meiner TV-Wahrnehmung. Er war irgendwie anders als alle, nicht so plump rebellisch wie so viele, sondern irgendwie spürte ich bei ihm mehr, mir fallen gerade keine Adjektive dafür ein. Ich weiß nicht, ob er sein Ende bei MTV dann als Scheitern sah, oder ob er keinen Bock mehr hatte auf den Laden und das ganze TV-Geschäft. Scheitern als Chance.

Unter Freunden bewunderten wir immer auch seine politischen Aktionen, von denen man hörte. Die Ausländer raus!-Container-Aktion in Wien war ein großes Ding. Im KaDeWe war er mit einer Gruppe weniger betuchter Menschen einkaufen und wenn ich mich richtig erinnere, versuchte er einmal, in einem Berliner Luxushotel obdachlose Menschen in leerstehenden Zimmern kostenlos unterzubringen. Ich erinnere mich auch, dass er vorhatte, aus dem Reichstag hunderte Banknoten von hohem Wert zu werfen, was er aber abblasen musste, weil die Sache vorher aufflog und ihm untersagt wurde.

Schlingensief suchte die Öffentlichkeit und die Aufmerksamkeit. Aber nie, um seine Person in den Mittelpunkt zu stellen, sondern er schaffte es, mit provokanten Aktionen Flutlichter auf die alltäglichen Schweinereien zu richten. Es gefällt kaum jemandem, an verdrängten Dreck erinnert zu werden.

Seit gestern ist er nun tot und ich finde das sehr seltsam. Ich kannte ihn nicht und wenn ich traurig bin, dann nicht über einen persönlichen Verlust. Für mich war er eine wichtige Figur in diesem ganzen Medien- und Kulturbetrieb. Diese Figur ist jetzt weg.


Siehe auch:
Kulturzeit Extra vom 22.8.2010

Nationalismus 2.0 – Deutschland Deutschland überall

„… und ein dickes Sorry für den Zweiten“


Der Nationalismus 2.0 geht um. Und zwar als Massenphänomen. Und genau deswegen ist auch eigentlich nichts neu am „neuen“ Patriotismus. Nur, dass man jetzt die Unverkrampftheit immer betont. Ansonsten bleibt es das Wesensmerkmal des Nationalismus, dass eine große „Masse“ unhinterfragt jeden Murks (Fähnchen, Fahnen, Autospiegelnationalisierung) mitmacht. Aus einem Gefühl der Zugehörigkeit.

Die Tatsache, dass nun auch Menschen mit sogenannten Migrationshintergründen die schwarz-rot-goldene Fahne schwenken, wird gern als Beleg für die neue deutsche Offenheit angeführt. Dabei ändert sich der abstrakte Charakter dieser Idee namens „Nation“ keineswegs. Wer konkret mitmachen darf im Deutschsein, entscheidet sich nicht beim Fahnenschwenken.

Die realen Nationalstaaten Europas sind alles andere als offen. Lasst euch von Freunden aus Nicht-EU-Ländern mal erzählen, welche teils demütigenden Schikanen man nehmen muss, bis man eine Erlaubnis zum längeren Verweilen in Deutschland erhält oder sogar (wenn überhaupt) deutscher Staatsbürger werden kann.

Seit 2006, als Nationalismus in Deutschland cool wurde, gibt es kaum mehr neue Einwanderung. Und für die Menschen, die aus Angst um Leib und Leben gerne hier bleiben würden, bleibt die deutsche „Nation“ verschlossen. Das alles ist Deutschland.

Die deutsche Fahne schwenken dürfen alle, auch die Touristen beim Public Viewing am Alex. Den entscheidenden Unterschied zwischen Schwarz-Rot-Geil und deutscher Staatsbürgerschaft bekommen die Menschen zu spüren, die einen Ausweisungsbescheid im Briefkasten haben oder die bereits im Abschiebeknast sitzen. Darum hat es bei mir keine entkrampfende Wirkung, wenn ich die Nationalschlüpfer an den Autospiegeln sehe.

Auch die Berliner Rapper von K.I.Z wollen sich nicht vom Nationalstrom mitspülen lassen. Es wurde gezwitschert, dass einer der drei, Nico, es am gestrigen Freitag bei MTV auf den Punkt brachte:

„Patriotismus ist scheiße, das ist genau dasselbe wie Nationalismus.“

Dem National-Hype widmeten K.I.Z einen WM-Song namens „Biergarten Eden“ – eine hörenswerte Persiflage auf den etablierten Deuschbekenntnis-Rap.


http://www.youtube.com/watch?v=lcQnuydA4n4
(gefunden via Antifa Syke)

Lesenswert zum Thema: kurzer Kommentar von Alke Wiert bei taz online: Bitte gelassen bleiben.

Kristina Schröder, Hartz IV und ein Gerichtsurteil

Hartz und nicht herzlich

So reagierte Kristina Schröder auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Hartz-IV-Sätze für Kinder im Februar 2010:

http://www.youtube.com/watch?v=JkA0joRSadA

„Klarer Handlungsauftrag“, „tatsächliche Lebenswelt vieler Familien mit Kindern berücksichtigt, die auf Hartz IV angewisen sind“, „Bedürfnisse der Kinder“, „kindsspezifischem Bedarf gerecht werden“ … zählen alle diese Äußerungen nicht mehr? Kristina Schröder fragt per Tweet: „Eine Familie in Hartz IV, 2 Kinder, erhält inkl. Elterngeld 1885 € vom Staat. Netto! Ist das gerecht gegenüber denen, die arbeiten?“

Dieser Frage, die mich an Westerwelles Dekadenz-Rhetorik erinnert, liegt die Einteilung von Menschen mit niedrigem Einkommen in zwei Gruppen zugrunde: „Arbeitende“ und „Hartz-IV-Bezieher“ (bzw. sogar „Hartz-IV-Familien“). Die Tatsache, dass beide Gruppen eigentlich Teil derselben sind, die von sehr wenig Geld leben müssen, führt bei Frau Schröder nicht etwa zu der Frage, wie diese Menschen mehr Einkommen erhalten könnten, sondern zur Frage, ob 1885 Euro für vier Personen „gerecht“ (im Sinne von „in dieser Höhe gerechtfertigt“) sind. Ist die politische Welt so billig, das politische Verständnis einer Ministerin für Familie (!) so primitiv, dass ernsthaft eine Logik nicht nur gebilligt, sondern forciert wird, nach der unterbezahlte Lohnabhängige die Sozialleistungen einer vierköpfigen Familie missbilligen sollen? An welche ekelhaften Ressentiments soll mit so einer Frage appelliert werden?

In einer halbwegs aufgeklärten Gesellschaft werden die Menschen nicht auf billigen Populismus hereinfallen – und sich nicht von Frau Schröder, Herrn Westerwelle und Co in sozial Schwache mit Arbeitsplatz (Menschen die nicht nach „Freibier fragen“) und sozial Schwache ohne Arbeitsplatz (Menschen die nur auf „Freibier“ warten) einteilen bzw. spalten lassen. Schon gar nicht durch Menschen, für die Hartz IV ein Arbeitsbegriff ist, ein Werkzeug, und nicht Lebensrealität.

Mal sehen, ob das Bundesverfassungsgericht zu den neuen Sparplänen auch was sagt. Und dann wieder Frau Schröder. Und dann wieder … Demokratie 2010.

Achja, ich glaube ja, es geht so aus: Frau Schröder wird sagen, sie hat das nicht selbst getweetet, das war ein Mitarbeiter … [update] nein, es geht doch anders aus: Während Frau Schröder mit BLick auf die zu hohe Höhe des Elterngeldes bei twitter an den Gerechtigkeitssinn appelliert, erzählt sie Journalisten was anderes – Elterngeld für Hartz-IV-Familien war eh „systemwidrig“. Aha, verfassungswidrig geht nich, das entscheiden nämlich andere (siehe Video oben), also „systemwidrig“. Na da haben Frau Schröder und die Familien nochmal Glück gehabt, dass dank des Sparpakets nun eine Systemwidrigkeit aufgefallen ist.


Jörg Marx und Johnny Haeusler widmeten den Tweet-Äußerungen Kristina Schröders bereits Beiträge. Lesenswerte Kommentare zu den Schröderschen Kinderkürzungen gibt es auch im genderblog, bei Zivilschein, Volker König und unqualifiziert.net.