Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 13: Stefanie Schüler-Springorum — „Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit: Konzepte, Konflikte, Fragen“

13. und letzter Teil der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Am letzten Montag (8.2.2016) schloss Stefanie Schüler-Springorum die Ringvorlesung Rassismusforschung der TU Berlin / des ZfA ab. Unter dem Titel „Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit: Konzepte, Konflikte, Fragen“ gab es einen Überblick zur Antisemitismusforschung in Deutschland mit punktuellen Bezugnahmen auf die anderen Beiträge der Ringvorlesung. Ich war dort und gebe hier wieder eine kurze Zusammenfassung.

Stefanie Schüler-Springorum beabsichtigt in ihrem Resumé keine Zusammenfassung der gehaltenen Vorträge zu geben. Vielmehr will sie, als Historikerin der deutsch-jüdischen Geschichte, verschiedene angesprochene Topoi aufnehmen und aus der Perspektive der Antisemitismusforschung betrachten. Drei wiederkehrende thematische Felder sind ihr hierbei besonders aufgefallen: die Frage der Subjektivität, das Problem der Objektbestimmung und die Bedeutung der jeweiligen politischen/sozialen Kontexte.

Subjektivität / Sprechenden-Position in der Antisemitismusforschung

An der aus Ethnologie und Cultural Studies bekannten Forderung nach der eigenen Positionierung als Wissenschaftler_in sei die Antisemitismusforschung bisher „vorbei flaniert“. Das gelte allerdings für die gesamte Geschichtswissenschaft in Deutschland.

Die geforderte subjektive Positionierung bringe Schwierigkeiten mit sich, wenn es um die Beziehung zwischen Forschenden und Inhalten bzw. Forschenden und Erforschten gehe: Konsequenterweise müsste z. B. die gesamte deutsche Osteuropaforschung in Frage gestellt werden, und auch Stefanie Schüler-Springorum selbst würde sich „nur noch um westdeutsche Mittelschichtmädchen kümmern“ können. Die Forderung nach Benennung der Sprechenden-Position müsse vor dem Hintergrund ihres ursprünglichen US-Kontextes und der dort herrschenden Ausschlüsse verstanden werden.

Die Genese der Antisemitismusforschung sei anders verlaufen, als die der US-Rassismusforschung, wenn nicht gar in völligem Gegensatz dazu. Im Berliner Antisemitismusstreit (1879-1881) seien viele nicht-jüdische Intellektuelle gegen antijüdische Positionen laut geworden. Und auch im anschließend gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus seien insbesondere nicht-jüdische Deutsche dem Antisemitismus entgegengetreten. Bis in die 1920er Jahre habe ein „nicht-jüdischer Kampf gegen Antisemitismus“ in Deutschland stattgefunden. Der habe in dieser Form auch als erstrebenswert gegolten, da Jüdinnen und Juden sich beim Thema Antisemitismus nicht dem Vorwurf einseitiger Parteinahme hätten aussetzen wollen.

Dafür seien an der Erforschung des Judentums in den 1920er Jahren insbesondere Juden beteiligt gewesen. Als verbreitete Erkenntnis habe gegolten, dass Nationalismus und Antisemitismus sich konzeptuell ausschließen. Stefanie Schüler-Springorum hebt die 1926 erschienene Arbeit Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung : Versuch einer Soziologie des Judenhasses von F. Bernstein hervor. Die Soziologie insgesamt habe sich im 19.Jh. aus der Antisemitismusforschung entwickelt. Anknüpfungspunkte zeigten sich in der Frankfurter Schule der 1940er Jahre.

Nach 1945 gehörte die Ablehnung des Antisemitismus in beiden Deutschlands zur Staatsräson. Der Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der TU Berlin mit Reinhard Rürup entwickelte sich zu einem Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Nicht zufällig sei daher in enger Anbindung an die Geschichtswissenschaft der TU Berlin 1982 das Zentrum für Antisemitismusforschung entstanden, das nach Herbert A. Strauss und Wolfgang Benz heute Stefanie Schüler-Springorum leitet.

Die Antisemitismusforschung werde von jüdischen Akteur_innen überwiegend vernachlässigt. Auch sei die Antisemitismusforschung kein Teil der Jüdischen Studien, sondern gehöre nach wie vor zur historischen Forschung.

Untersuchungsobjekt / „die jüdische Erfahrung“

Die Fokussierung auf eine — oder die — gemeinsame „jüdische Erfahrung“ könne unpassend homogenisierend sein. Während es Sinn mache, angesichts der Sklaverei von einer afroamerikanischen Erfahrung auszugehen, sei das in Bezug auf jüdische Deutsche weniger sinnvoll, da keine gemeinsame Identität vorliege. In den USA hätten Jüdinnen und Juden als erste Weiße den Rassismus gegen Schwarze benannt und seien dagegen von Schwarzen in ihrer Position als Weiße kritisiert worden. In den USA herrsche eine Frontstellung zwischen Rassismus- und Antisemitismusforschung.

Kontexte

Zu den Vorträgen der Ringvorlesung sei anzumerken, dass historische Kontexte bei der Untersuchung von Rassismus nicht verschwimmen sollten. Etwa die Sklaverei in den USA müsse von innereuropäischer Unterdrückung klar unterschieden werden.

Die Frage nach den Ursachen von Menschenfeindlichkeit müsse im Zentrum stehen. Wissenschaftliche Ansätze dafür böten die Psychologie und die Geschlechterforschung. Die Konstruktion der Norm als männlich/hetero/christlich gegenüber der Devianz als weiblich/homosexuell/nichtchristlich sei auch im Antisemitismus sichtbar. Hier zeige sich die Verzahnung von Homophobie und Mysogenie mit Antisemitismus.

Die Abscheu vor Abweichung, wie sie in gängigen Geschlechtervorstellungen tradiert werde, könne zur Erklärung von Antisemitismus beitragen. In diesem Sinne zitiert Stefanie Schüler-Springorum eine von Henryk M. Broder vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages im Juni 2008 dargestellte Position: Der Begriff ‚Ressentiment‘ eigne sich gegenüber ‚Vorurteil‘ besser in Bezug auf Antisemitismus, da Vorurteile harmlos seien und auf vermeintliches Verhalten abzielten. Antisemitische Ressentiments hingegen nähmen „dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert“ (die gesamte Rede von Broder ist bei welt.de dokumentiert). Die Ebene der Gefühle, die für das Ressentiment ausschlaggebend sei, dürfe bei der Untersuchung von Antisemitismus nicht unterschätzt werden.

Als weiterführdende Literatur empfiehlt Stefanie Schüler-Springorum A.G. GENDER-KILLER: Antisemitismus und Geschlecht.

Diskussion

  • Auf Nachfrage präzisiert Stefanie Schüler-Springorum, dass die Unterscheidung der Kontexte USA/Europa insbesondere wissenschaftsgeschichtlich vorzunehmen sei, da Sklaverei als globales System existiert habe.
  • In der Rassismusforschung müsse der gegen weiße Slaw_innen gerichtete antislawische Rassismus größere Beachtung finden.
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    In eigener Sache

    Damit endet die Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung. Diese Blogpost-Reihe ins Rollen brachte ein Tweet von Magda Albrecht, wofür ich ihr danke!

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 12: Jane Schuch — „Bildsamkeit: Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Antiziganismus“

    Teil 12 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Am vergangenen Montag (25.1.2016) präsentierte Jane Schuch ihren Beitrag unter dem Titel „Bildsamkeit: Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Antiziganismus“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Ich war dort und gebe hier eine Zusammenfassung des Vorgetragenen.

    [Content Note: Einige Links führen zu Texten, die die rassistische Fremdbezeichnung von Sinti und Roma enthalten. Diese Links sind mit CN gekennzeichnet.]

    Begriff

    Jane Schuch stellt einleitend klar, dass sie sich als Aktivistin und Sintiza bewusst für die Verwendung des Begriffs Antiziganismus entschieden habe, der unter Sinti und Roma wegen der enthaltenen rassistischen Fremdbezeichnung zum Teil abgelehnt wird (vgl. 1, 2). Er bringe, parallel zum Begriff Antisemitismus, die historische Dimension der Sinti- und Roma-Feindschaft zum Ausdruck.

    Der in den 1920er Jahren vom sowjetischen Aktivisten und Autor Aleksandr German eingeführte Terminus sei im Rahmen der „tsiganologischen“* Forschung von Bernhard Streck in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum in klar rassistischen Kontexten verwendet worden, bevor er sich in jüngerer Zeit zur Bezeichnung des Rassismus gegen Sinti und Roma verbreitete. Das drängendere Problem als die Frage nach dem Begriff bestehe aber in der kontinuierlichen Dominanz weißer Wissenschaftler_innen, und in der damit einhergehenden Ausgrenzung von Sinti und Roma aus dem entsprechenden Forschungsbereich, wie es Isidora Randjelović in einem Artikel [CN] beschreibt.

    Bildungsvorstellungen und die Rassifizierung von Sinti und Roma

    Die menschliche Fähigkeit des Lernens und die damit verbundene Konstruktion des Selbst wurde mit dem Konzept der Bildsamkeit des Menschen Anfang des 19.Jh. von Johann Friedrich Herbart in die Pädagogik eingebracht. Die neuen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen hätten sich auf die rassifizierenden Konzepte über Sinti und Roma ausgewirkt: Das von mittelalterlichen Spionagevorwürfen über spätere romantisierende Idealisierungen und Abwertungen als Bestien reichende historisch geprägte Bild habe nun die Funktion erhalten, als Gegenentwurf zur Aufklärung und Zivilisation zu dienen. Während Bildung als Zivilisierungsperspektive galt — und damit weniger als Mittel zur Mündigkeit, denn zur Umerziehung — wurde den Sinti und Roma demnach pauschal u.a. Wildnis, Aberglaube und Randständigkeit zugeschrieben.

    Diese Vorstellungen begründeten die folgenreiche Praxis staatlicher Umerziehungsprogramme: Auf Anordnungen der Kaiserin Maria Theresia während ihrer Regierungszeit (1740-1780) in Österreich-Ungarn nahmen Behörden den Sinti und Roma ihre Kinder weg [CN]. Für das heute thüringische Friedrichslohra sind missionarisch motivierte Umerziehungsmaßnahmen gegenüber Sinti einschließlich der Wegnahme von Kindern zu Beginn des 19.Jh. dokumentiert [CN]. Der an Herders „Volksgeist“-Vorstellung anknüpfende erzieherische Mehrheitsblick, weiter verfestigt vom „Tsiganologen“ Grellmann*, sei auch ausschlaggebend für die im 19.Jh. intensivierten rassistischen Polizeipraktiken, bei denen Sinti und Roma per se als kriminell erfasst und behandelt wurden (1899 wurde speziell eine „Reichzentrale zur Bekämpfung des [***]nerunwesens“ [CN] gegründet).

    Feldforschung im Interesse der Rassenhygiene

    Eva Justin [CN], die für die Rassenhygienische Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt (RHF) [CN] tätig war, promovierte 1943 an der Berliner Universität mit einer Dissertation über die Erziehung von Sinti und Roma. Die erbbiologisch argumentierende Arbeit behandelt das „Mischlingsproblem“, das durch Zwangssterilisation zu lösen sei, und gilt als eine theoretische Grundlage für den Porajmos, den Genozid an den Sinti und Roma. Begriffe wie Erziehbarkeit und Bildung würden an keiner Stelle in der Arbeit definiert und auch sonst beziehe sich die Arbeit nicht auf den Forschungsstand.

    Justins eigene, an bürgerlichen Werten orientierte Kriterien wie Zuverlässigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit oder Lernfähigkeit dienten als positive Marker zur Einschätzung von Erziehbarket. Demnach setze sie Erziehbarkeit bzw. Bildsamkeit mit Anpassung gleich. Voraussetzungen zur Bildsamkeit sehe sie bei Sinti und Roma nur bedingt oder gar nicht vorhanden. Justin kategorisiere Sinti und Roma mit klassisch rassistischem Vokabular als „primitiv“ und beschreibe sie als Menschen ohne Charakter.

    Justins Beitrag habe direkt zur Sterilisation von Sinti und Roma als Teil der Rassenhygienepraktiken geführt. Ausdrücklich habe sie den Entzug staatlicher Sicherungsleistungen sowie den Zugriff des nationalsozialistischen Staates auf die Menschen empfohlen.

    Fazit

    Justins Dissertation sei als Forschungsarbeit zeitgenössischer Ethnologie einzuordnen. Sie sei von antiziganistischer Ideologie geprägt, veranschauliche die zu der Zeit üblichen Konzepte der Um-/Erziehung und diene als Stütze für die Forderung Robert Ritters, Sinti und Roma zu zerstören. Die Anwendung des Begriffs Bildsamkeit erfolge spezifisch im Sinne von Anpassung, und nicht im Sinne von Entfaltung des mündigen Subjekts.

    Das Bild der bildungsfernen, nicht anpassungsfähigen Sinti und Roma ist noch immer nachweisbar verbreitet, es fehlt an Sensibilität für die rassistische Kontinuität im Bildungsbereich. Zudem werden Sinti und Roma in Projekten zur vermeintlichen Verbesserung der Situation aus den Ebenen der Konzeption, Leitung oder Durchführung ausgeschlossen.

    Diskussion

  • Im Rahmen der abschließenden Diskussion mit dem Publikum verweist Jane Schuch auf die Tatsache, dass keine einzige Person, die für die rassenhygienische Erfassungsstelle arbeitete, nach 1945 verurteilt wurde. Eva Justin behielt ihren Doktorgrad und war an der Erhebung von Daten in der BRD beteiligt, wobei sie mit Sinti und Roma zu tun hatte.
  • Als weiterführende Literatur empfiehlt Jane Schuch diese Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma [pdf].
  • Mit Blick auf die fehlende Einbeziehung von Sinti und Roma nennt Jane Schuch beispielhaft den Berliner Senat: Bei der Konzeption des „Berliner Aktionsplans zur Einbeziehung ausländischer Roma“ sei mit keiner der vielen Berliner Roma-Initiativen zusammengearbeitet worden. Im Rahmen dieses Aktionsplans seien auch die sogenannten Willkommensklassen (de facto segregierte Schulklassen) eingerichtet bzw. fortgeführt worden, ebenfalls ohne Beteiligung von Roma.
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    * Die „Tsiganologie“ ist ein traditionell rassistisch und biologistisch geprägter Forschungsbereich, der Sinti und Roma als Untersuchungsgegenstand versteht und im deutschen Sprachraum Ende des 18.Jh. entscheidend von Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann geprägt wurde. Nach wie vor existiert an der Universität Leipzig ein „Forum Tsiganologische Forschung“. Eine im Leipziger Universitätsverlag erschienene Publikation der Einrichtung wurde 2013 hier im Blog als Gastbeitrag rezensiert.

    Vassilis Tsianos hat für kommenden Montag, 1.2.2016, abgesagt. Es war zuletzt unklar, ob eine andere Person ersatzweise vorträgt oder ob die Veranstaltung an dem Tag ausfällt. Die Veranstaltung fällt an dem Tag aus.

    Im letzten Vortrag, am 8.2.2016, führt Stefanie Schüler-Springorum die in der Ringvorlesung gehaltenen Referate zusammen: „Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit: Konzepte, Konflikte, Fragen“ (facebook-Ankündigung).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 11 — Iman Attia: „Antimuslimischer Rassismus und Orientalismus“

    Teil 11 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Letzten Montag (18.1.2016) sprach Iman Attia zum Thema „Antimuslimischer Rassismus und Orientalismus“. Ich war leider verhindert und konnte nicht dort sein (falls es Schreibinteressierte gibt, die dort waren, stell ich den Text gern hier rein.) Um den Platz aber nicht ganz leer zu lassen, verlinke ich einige Texte von Iman Attia zum Vortragsthema:

  • „Zum Begriff des antimuslimischen Rassismus“, Interview von Zülfukar Çetin mit Iman Attia [pdf], 2015, in: Çetin/Taș (Hg.): Gespräche über Rassismus.
  • „Die Religion und Kultur der Anderen“ [pdf], 2015, in: Schneider/Sexl (Hg.): Das Unbehagen an der Kultur.
  • Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie bzw. Islamfeindlichkeit, MIGAZIN 27.10.2014.
  • Antimuslimischer Rassismus: Sie werden als Fremde behandelt (Interview), IslamiQ 22.6.2014.
  • Rassismus (nicht) beim Namen nennen, Bundeszentrale für politische Bildung, 18.3.2014.
  • Privilegien sichern, nationale Identität revitalisieren — Gesellschafts- und handlungstheoretische Dimensionen der Theorie des antimuslimischen Rassismus im Unterschied zu Modellen von Islamophobie und Islamfeindlichkeit, Journal für Psychologie Jg.21, 2013.
  • „Islamkritik zwischen Orientalismus, Postkolonialismus und Postnationalsozialismus“ [pdf], 2010, in: Uçar, Bülent (Hg.): Die Rolle der Religion im Integrationsprozess. Die deutsche Islamdebatte. 113-126).
  • „Aus blankem Hass auf Muslime“. Zur Rezeption des Mordes an Marwa el-Shirbini in deutschen Printmedien und im deutschsprachigen Internet [pdf], mit Yasemin Shooman, 2010, in: Jahrbuch für Islamophobieforschung.

    (Eine Publikationsliste von Iman Attia gibt es hier, Veröffentlichungen zum Herunterladen gibt es außerdem hier.)

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    Am Montag, 25.1.2016 spricht Jane Schuch über „Bildsamkeit: Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Antiziganismus“ (dazu die facebook-Ankündigung und mein Beitrag im Blog).

  • Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 10 — Barbara Schäuble: „Was die Antisemitismusforschung aus der Rassismusforschung lernen kann“

    Teil 10 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Am Montag vorletzter Woche (11.1.2016) gab es Barbara Schäubles Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Das Thema lautete „Was die Antisemitismusforschung aus der Rassismusforschung lernen kann“. Ich war dort und gebe hier eine kurze Zusammenfassung.

    Perspektiven auf Antisemitismus und Rassismus

    Barbara Schäuble bemerkt einleitend, dass Antisemitismus und Rassismus, trotz Gemeinsamkeiten, zwei zu unterscheidende Phänomene seien. Während Antisemitismus historisch einen religiösen Ursprung habe, auf dem Bild der Überlegenheit basiere und auf geistige Eigenschaften abhebe, sei Rassismus historisch mit dem Kolonialismus verknüpft, fuße auf Ausbeutung und fokussiere damit auf Körper.

    Bereichsübergreifende soziologische Ansätze ermöglichten Vergleiche der beiden Phänomene. Die bisher täter_innenzentrierten Erklärungsmuster, bei denen die Rechtfertigungen der Täter_innen Ausgangspunkt sind, müssten überwunden werden. Das als distanzlos kritisierte Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit habe sich als ungeeignet herausgestellt. Demnach sei nicht die Frage, wie(so) Jugendliche rechts würden zu untersuchen, sondern die lokalen Kontexte, die begünstigend zur Entstehung und Organisation rechter Strukturen beitragen. Die konkreten Folgen für die Betroffenen und Einschätzungen aus deren Perspektiven müssen dabei einbezogen werden.

    Mit der von Schwarzen/PoC/Migrant_innen erkämpften Beteiligung an akademischen Diskursen ab den 60er Jahren hätten zunehmend Fragen zu Dominanz- und Machtverhältnissen Platz in rassismustheoretischen Überlegungen erhalten. Für den europäischen Kontext sei bspw. Philomena Essed zu nennen, die in den Niederlanden bereits in den 80er Jahren nach der Perspektive der von Rassismus nachteilig Betroffenen fragt. Die Antisemitismusforschung sei dagegen lange auf historische Phänomene ausgerichtet gewesen und rücke erst in letzter Zeit die Gegenwart ins Zentrum der Fragestellungen. Zwar habe es in den 1920er Jahren Analysen von Antisemitismus aus jüdischen Perspektiven gegeben, diese seien jedoch in der Forschung nach 1945 ignoriert worden.

    „Objektive“ Standpunkte

    Die Ungleichheit bei der Befragung dauere an: Opfer und Zeitzeug_innen von Rassismus und Antisemitismus gelten als weniger relevant bei der Untersuchung der Phänomene, als die sprachmächtige Forschung selbst. Das heißt, primär weiße nicht-jüdische Akteur_innen aus der Wissenschaft sprechen über Gewalt, die von ebenfalls weißen nicht-jüdischen Täter_innen ausgeht. Objektivität sei unmöglich. Die Forschung müsse die Perspektiven einbeziehen, aus denen die Gewalt erlebt wurde und wird, um nicht nur den Standpunkt zu repräsentieren, von dem (potentiell) Gewalt ausgeübt wird.

    Als Beispiel für die Einbeziehung rassifizierter Perspektiven in die Forschung nennt Barbara Schäuble u.a. Paul Mecherils interviewbasierte Untersuchungen (s. Prekäre Verhältnisse 2003, Beschreibung/Auszüge). Faktoren wie die Positionierungszwänge für die von Rassismus Benachteiligten und daraus resultierender Stress werden sichtbar gemacht und in der Analyse berücksichtigt. Beispielhaft wird auch die Arbeit von Susanne Offen zu Geschlechterordnungen erwähnt (s. Achsen adoleszenter Zugehörigkeitsarbeit 2013, Beschreibung/Auszüge), in der Betroffene nicht so sehr Diskriminierungserfahrungen problematisieren, als vielmehr die Positionierungszwänge, also den Druck, sich in Ordnungen einfügen zu müssen.

    Fragen der Antisemitismusforschung

    Die Frage nach den Möglichkeiten, sich als jüdischer Mensch in der Gegenwart sozial zu positionieren, werde auch in der Untersuchung von Antisemitismus bedeutender. So gehe die als Feindbildfoschung mit historischen Fragen etablierte Antisemitismusforschung allmählich zur Analyse von Ursachen in der Gegenwart über. Die Einstellungsforschung, bei der Taten auf einzelne Täter_innen individualisiert wurden und die pädagogische Relativierungen begünstige („Sie wissen ja nicht, was sie tun“), werde ebenfalls zunehmend zurückgelassen.

    Ähnlich wie beim Rassismus würde auch der Antisemitismus öffentlich von einer überwiegenden Mehrheit abgelehnt, aber gleichzeitig z.B. in Schlussstrichrhetoriken offen reproduziert. Um dem Phänomen gerecht zu werden müsse die Antisemitismusforschung zur Sozialforschung zurückfinden.

    Abschließende Diskussion

    In der Abschlussdiskussion nach dem Verhältnis zwischen Antisemitismus und Rassismus gefragt antwortet Barbara Schäuble, sie akzeptiere Rassismus als Oberbegriff für Antisemitismus, plädiere aber für die gesonderte Nennung, um spezifische Unterschiede zu anderen Rassismen, etwa Kolonialrassismus, hervorzuheben.

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    Am 18.1.2016 spricht Iman Attia zum Thema „Antimuslimischer Rassismus und Orientalismus“ (dazu die Ankündigung auf facebook und mein Blogpost).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 9 — Philipp Dorestal: „Alltagsrassismus“

    Teil 9 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Am letzten Montag (4.1.2015) referierte Philipp Dorestal im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Der Vortrag trug den Titel „Alltagsrassismus“. Nachdem es zunächst so aussah, als bliebe der Saal nur halbvoll, waren kurz vor Beginn fast alle Plätze besetzt. Hier folgt wieder ein zusammenfassender Überblick zum Vorgetragenen.

    Rassismus: Allgegenwärtige Produktion von Differenz

    Für die Definition von Rassismus folgt Philipp Dorestal dem differentialistischen Ansatz von Étienne Balibar und Stuart Hall (hier grob skizziert), und beschreibt Rassismus als System der Produktion von Differenz über Kategorien wie ‚Hautfarbe‘, Kultur oder Religion. Dieses System wirke in ‚Wir‘-vs.-‚Die‘-Logiken, Othering-Prozessen, Macht und Abwertung, und könne sich in der Praxis variantenreich entfalten, etwa in Form rassistischer Gesten oder Beschimpfungen sowie in physischen Übergriffen oder Grenzüberschreitungen. Rassistisches Handeln äußere sich durch das Abrufen bestehender rassistische Bilder, Diskurse und Normen, die in der konkreten Situation aktualisiert werden. Rassistische Handlungen sind demnach performativ und erfolgen durch Wiederholung. Nicht-Betroffene leugnen die von Betroffenen erfahrene Allgegenwart des Rassismus vor allem deswegen, weil sie sonst ihre eigene Sozialisation innerhalb einer rassistisch geprägten Gesellschaft anzuerkennen hätten. Mit anderen Worten, die Reflexion der eigenen Position im System Rassismus kann einfach vermieden werden, indem den Betroffenen ihre Rassismuserfahrung abgesprochen wird.

    Kein Entkommen

    Zur Identifikation und Benennung rassistischer Praktiken sei ein erweiterter Gewaltbegriff nötig, der über physische Verletzung hinausgeht. Kleine Spitzen, Gesten, Handlungen und microaggressions müssten als Gewalt anerkannt werden. Scham, Demütigung und Schuldgefühle kennzeichneten Rassismuserfahrungen. Die komplexe Wirkmacht von Rassismus ist allgegenwärtig, für Betroffene gibt es „kein Entkommen“. Therapieversuche der durch Rassismus erlebten Traumata blieben erfolglos, denn das hierfür notwendige Vermeiden re_traumatisierender Situationen ist bei Rassismus unmöglich.

    Mit dem auf Jane Elliot zurückgehenden Blue-Eyed-Experiment wird in Workshops eine soziale Situation simuliert, in der weiße Menschen, die ‚Blauäugigen‘, systematisch mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Abwertung konfrontiert werden (in Deutschland bietet Jürgen Schlichter solche Workshops an). Auffällig sei, dass die weißen Teilnehmenden meist ihre Teilnahme vor dem Abschluss abbrechen, da sie der simulierten Situation nicht standhalten — einer Situation, die für PoC und Schwarze Menschen Alltag ist, die sie nicht ‚abbrechen‘ können.

    Alltäglicher Rassismus bedeutet für Betroffene kontinuierliche seelische bzw. psychische Verletzungen aufgrund von Gewalterfahrung. Das fehlende Abbauen von Stress, der aus diesen Erfahrungen resultiert, kann zu Erkrankungen führen. Darüber hinaus können Momente der Erinnerung (ausgelöst z.B. durch unbewusste Trigger) retraumatisierend wirken.

    „Woher kommst du (wirklich)?“

    Die auf das Aussehen von Menschen bezogene Frage nach der (wirklichen) Herkunft impliziert „du gehörst nicht (wirklich) dazu“. Die so übermittelte Vorannahme, Körper von Schwarzen Menschen und PoC seien eine Anomalie (und Deutsch–Schwarz ein Oxymoron), erzeugt symbolischen Ausschluss. Obgleich die Frage aus Interesse oder Neugier gestellt wird, sei sie nicht unschuldig, denn mit ihr wird (auch ungewollt) weiß als Norm gesetzt. Das zeige sich auch daran, dass z.B. weiße Schwed_innen der 2. Generation in Deutschland diese Frage nicht hören, aber Schwarze Deutsche egal welcher Generation. (Einen lesenswerten Text mit konkretem, aktuellen Bezug zu dieser Thematik gibt es übrigens bei shehadistan.)

    Zwei Phänomene nennt Philip Dorestal beispielhaft für die körperliche Erfahrbarkeit von Alltagsrassismus: Einmal die Grenzüberschreitung, bei der ungefragt in den private space von rassifizierten Menschen eingedrungen wird, und zudem die Ausgrenzung, also die (räumliche) Isolation der von Rassismus Betroffenen. Rassistische Praktiken dieser Art sind ohne weitere verbale Artikulation für die Betroffenen spürbar.

    Political Correctness

    Verbreitete Mechanismen zur Vermeidung der Thematisierung von Rassismus zeigten sich in der Annahme von ‚racelessness‘ (‚race‘ als Kategorie mit konkreten sozialen Auswirkungen wird nicht wahrgenommen) und im Propagieren von color blindness (die Existenz von ‚race‘ wird bewusst negiert). Als Abwehrmechanismus sei auch das Konzept der Political Correctness einzuordnen: Der politische Kampfbegriff mache Schwarze/PoC-Politiken unsichtbar und stelle neue, ungewohnte Subjektivitäten infrage. Als in den 60er, 70er Jahren in den USA die Aufnahme nicht-weißer, weiblicher, LGBT-Perspektiven in die akademischen Strukturen gefordert wurde und sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse allmählich veränderten, diente der Begriff Political Correctness zur Diskreditierung dieser Entwicklung und zur Leugnung von Rassismuserfahrungen. Mit despektierlichen Verweisen auf Political Correctness würde auch im deutschen Kontext versucht, die Sensibilisierung für Rassismus zu diffamieren. Veranschaulichend zitiert Philipp Dorestal aus dem vorgeblich abwägenden Werk von Matthias Dusini und Thomas Edlinger, „In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness“ (Suhrkamp 2012), das Begriffe wie „paranoides Angstsystem“, „Antidiskriminierungswächter“, „Chor der Viktimisierten“ oder „sich überidentifizierende Adressaten von Diskriminierung“ enthält.

    Abschließend

    Zum Schluss verweist Philip Dorestal auf zahlreiche Beispiele für praktische Rassismuserfahrungen in Schule, Freizeit und bei der Wohnungssuche und beschreibt Testing-Methoden, mit denen rassistische Praktiken juristisch relevant nachgewiesen werden können.

    Fazit: Rassismus findet als wiederkehrende Erfahrung statt, die in allen Lebensbereichen — in subtiler oder offensichtlicher Form — auftritt, und zu erheblichen Folgen wie Traumatisierungen führen kann.

    Als Empfehlung gibt Philip Dorestal noch Claudia Rankine: Citizen, An American Lyric mit auf den Weg (Lese-/Hörprobe).

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    In der anschließenden Diskussion gibt Philip Dorestal auf Nachfrage an, aus Zeitgründen nicht alle wichtigen Aspekte im Zusammenhang mit (Alltags)Rassismus abgedeckt zu haben, so auch Intersektionalität.

    Er verweist zudem auf seine Ablehnung des zu sehr kontextgebundenen Begriffs ‚Rasse‘, dessen emanzipatorische Bedeutungswendung er nicht für realistisch hält, weshalb er für den als kritische Analysekategorie im englischsprachigen Kontext verbreiteten Begriff ‚race‘ plädiert. (War in den letzten Vorträgen immer wieder Thema.) Zwar gelte es, das Ideal „alle Menschen sind gleich“ zu erreichen, aber Analysekategorien mit Bezug zur Realität blieben notwendig, solange das Ideal nicht erreicht sei.

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    Montag, 11.1.2016 spricht Barbara Schäuble darüber, „Was die Antisemitismusforschung aus der Rassismusforschung lernen kann“ (dazu hier die facebook-Ankündigung und hier mein Blogeintrag).