Die Nomaden kommen

Auf Spiegel Online berichtet Zacharias Zacharakis über Roma in Berlin. Sein Artikel mit dem Namen Nomaden der Neuzeit verbreitet keine Informationen, sondern Angst.


Der Titel-Begriff „Nomaden“ ist beispielhaft für den Artikel. Roma, obwohl sie vorwiegend in Slum-ähnlichen Randbezirken, aber vor allem sesshaft, leben (Vergessen in Europa) lassen sich nach wie vor am besten in Bildern längst vergangener Zeiten verkaufen. Vielleicht ist es auch Unwissenheit und Zacharakis kennt die Lebensumstände der Roma Südosteuropas nicht, das ist aber unwahrscheinlich, denn eine kleine Internet-Recherche genügt, um das Nomaden-Bild als tief verwurzeltes Vorurteil zu erkennen (Brigitte Mihok und Peter Widmann: Sinti und Roma als Feindbilder). Die kritische Auseinandersetzung mit einem Problem wie Arbeitsmigration ist aber aufwändiger als der Griff nach dem Nomaden-Etikett.

Mit einschlägigem Vokabular auf Kosten Anderer klingen die Schlagzeilen eben auch flotter:

Erst haben die Roma-Familien unter freiem Himmel in einem öffentlichen Park gehaust, dann besetzten sie eine Kirche in Kreuzberg – und Fachleute erwarten für die Zukunft eine wahre Einwanderungswelle.

Die Bedeutungen des Verbs „hausen“ können im Wictionary nachgelesen werden, mit Verweisen auf mehrere Lexika.

Zacharakis dekoriert die lasche Faktenlage mit ein paar Klischeebildern, die am Begriff Roma so gut haften, wie die Sticker in einem Poesie-Album. Und seine angekündigten „Fachleute“ sind in Wirklichkeit nur einer, wie sich später herausstellt.

Interessant ist der (einzige) Absatz, in dem Äußerungen derer auftauchen, von denen uns der Spiegel-Online-Artikel erzählen will:

„Geht gut hier“, sagt die Frau. Auf die Frage, wie lange sie und ihre Angehörigen noch bleiben wollen, neigt sie den Kopf zur Seite, zuckt mit den Achseln. Warum sind sie nach Deutschland gekommen? Die Frau führt ihre Hand in schnellen Bewegungen zum Mund. Aus Hunger.

Diese Menschen (Weil sie fremd aussehen oder gebrochenes Deutsch sprechen?) werden gefragt, wie lange sie noch hier bleiben wollen und warum sie hier sind. Ist das eine persönliche Frage des Autors oder stellt er sie für seine Leserschaft?

Ansonsten bleiben die Roma in dem Artikel ein aus sicherer Entfernung ausgewertetes Phänomen. Mutmaßungen und Fakten verschwimmen ineinander. Was die Roma eigentlich wollen, wünschen oder vorhaben, erfahren wir aus der Sicht der Nicht-Roma:

„Sie würden gerne Leistungen vom Staat erhalten“

Diese Zwischenüberschrift soll verdeutlichen, was „schnelle Bewegungen der Hand zum Mund“, von Zacharakis eingangs als „Hunger“ interpretiert, eigentlich bedeutet. Da Sozialleistungsempfänger in Deutschland ohnehin kein hohes Ansehen haben, kann sich die Leserschaft nun zusammenreimen, warum diese Nomaden mit Wunsch nach Sozialleistungen nicht mit „Herzlich Willkommen“ begrüßt werden, sondern mit „Wann geht ihr wieder?“.

Der reine Informationsgehalt des Artikels ist geprägt von Urteilen, Meinungen und Vermutungen, weil der Standpunkt der Gruppe, über die eigentlich berichtet wird, fehlt.

Außerdem werden wichtige Informationen in sehr eigener Weise dargestellt:

[…] als EU-Bürger haben die Rumänen wenige Aussichten auf politisches Asyl. […] Nach dem Gesetz der Freizügigkeit in der EU dürfen sich die Rumänen als Touristen drei Monate in Deutschland aufhalten.

Das sind beides zwar „wahre“ Informationen, aber die erste ist inhaltlich erweitert und die zweite abgespeckt. In Deutschland haben alle Einwanderer, egal woher sie kommen, wenige Aussichten auf Asyl, da von den bearbeiteten Anträgen durchschnittlich nur in 5% der Fälle Asyl gewährt wird. Gemessen an der Faktenlage müsste der erste Satz lauten: […] Einwanderer haben in Deutschland wenige Aussichten auf politisches Asyl.
Beim zweiten Punkt fehlt Wesentliches: Das Freizügigkeitsgesetz der EU regelt zwar unter anderem, dass man sich als Tourist in jedem EU-Land 90 Tage aufhalten darf. Aber das Freizügigkeitsgesetz regelt auch, dass EU-Bürger innerhalb der EU am Ort ihrer Wahl eine Arbeit und einen Wohnsitz aufnehmen dürfen – nur ist dieser Paragraph bis 2011 für Rumänen und Bulgaren ausgesetzt. Das heißt: das Freizügigkeitsgesetz gilt für die Rumänen nicht bezüglich Arbeitsplatz- und Wohnungssuche. Vollständig wäre die Information also: […] Das Freizügigkeitsgesetz gilt für die Rumänen nur teilweise, wegen einer Übergangsregelung dürfen sie sich nur als Touristen in Deutschland aufhalten und die sofortige Aufnahme einer Arbeit und damit verbundene freie Wahl des Wohnortes ist ihnen (im Gegensatz zu anderen EU-Bürgern) bis 2011 verwehrt.

Wozu also betonen, die Leute hätten als EU-Bürger kaum Chancen auf Asyl, was sie auch als Sudanesen oder Kasachen kaum hätten? Warum nicht gleich dazuschreiben, dass diesen Leuten gesetzlich verwehrt bleibt, Arbeit aufzunehmen?

Zwei Absätze später kommt der rumänische Botschaftsbeamte Remus Mărăşescu ins Spiel:

„Diese Menschen würden gerne in Deutschland arbeiten“, berichtet Marasescu. Er habe ihnen aber erst erklären müssen, dass dies aufgrund der noch bis 2011 eingeschränkten Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Ländern sehr schwierig sei

Darauf lässt Zacharakis unmittelbar die Worte von Anja Wollny (Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales) über die Roma folgen:

„Sie würden sich gerne hier niederlassen und Leistungen vom Staat erhalten, eine Wohnung etwa.“

Erscheint das nicht widersprüchlich? Wo ist die Stellungnahme der Roma? Und vor allem: Warum wählt Zacharakis die Aussage von Wollny zu den Sozialleistungs-Wünschen als Zwischenüberschrift, und nicht die von Mărăşescu? Ist eine Zwischenüberschirft wie „Die Roma würden gern in Deutschland arbeiten, geltendes EU-Recht verbietet das aber“ nicht erwünscht, oder fehlten Zacharakis die Informationen?

Ohne die betreffenden Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen vermittelt der Artikel den Eindruck, die Roma wollten nur auf Kosten Anderer leben.

Die eigentliche Bedrohung kommt aber noch:

Ab 2011 eine Masseneinwanderung nach Deutschland

Was hier (weil ohne Anführungszeichen) aussieht wie eine Wahrsagung des Autors ist eigentlich die Prognose der angekündigten Fachmänner und gleichzeitig die zweite Zwischenüberschrift in Zacharakis‘ Artikel. Da sich die Situation für Roma nicht nur in Rumänien verschlechtere, „prognostiziert“ Tilman Zülch von der Gesellschaft für bedrohte Völker (also nur eine Person),

dass es mit der vollen Freizügigkeit der neuen EU-Staaten nach 2011 „eine Masseneinwanderung nach Deutschland“ geben werde.

Das Schlagwort „Masseneinwanderung“ ist beliebt, entsprach aber trotz seiner häufigen Verwendung nach 1989 mit Bezug auf Deutschland noch nie den Tatsachen. Solche unsinnigen Prognosen gab es speziell über Polen und allgemein über „Osteuropäer“ seit den EU-Beitrittsverhandlungen.

Dass sich ein Journalist um die Bedürfnisse seiner Mitmenschen schert, mag man nicht erwarten, aber dass tatsächliche Fakten nur angedeutet und zugunsten bedrohlicher Mutmaßungen beiseite geschoben werden, ist fahrlässig.

Um das Ergebnis dieser journalistischen Konstruktion zuzuspitzen, kann man sich einfach mal die Überschrift und die zwei Zwischenüberschriften hintereinander auf der Zunge zergehen lassen: Nomaden der Neuzeit – „Sie würden gerne Leistungen vom Staat erhalten“ – Ab 2011 eine Masseneinwanderung nach Deutschland.

Über die Roma verrät das nichts, dafür umso mehr über den Autor und seine Zielgruppe.

Zacharakis schließt mit dem Satz:

Vielleicht sind die obdachlosen Roma von Berlin nur die Vorboten einer solchen Entwicklung.

Mir bleibt zu sagen: Vielleicht ist der Zacharakis von Spiegel Online nur eine Ausnahme, und kein Vorbote einer allgemeinen Entwicklung des Journalismus.


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