„Lernen müssen, mit ihnen zu leben“

Vom Müssen


Der aus einer Einwandererfamilie stammende französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy sorgt gerade für Schlagzeilen wegen seines Umgangs mit Einwanderern. Damit gibt er uns (Menschen) den Anlass, über unser Menschenbild, kulturelle Vielfalt und über unsere Vergangenheit zu reflektieren. Diesen Anlass kann man nutzen. Oder man reduziert die Ereignisse um Sarkozy und Co auf ein Problem namens „die Roma“.

Karl-Peter Schwarz hatte mit seinem Artikel Lernen, mit der Minderheit zu leben in der FAZ sicher gute Absichten. Problematisch aber sind die Muster, mit denen er jene „Minderheit“ wahrnimmt – denn nach diesen Wahrnemungsmustern sind nicht die rassistischen Reflexe unserer Gesellschaft das zentrale Problem, sondern „die Roma“.

Zunächst ist da die klare Einteilung in „Wir“ und „Die“. „Wir“, das sind natürlich neben den FAZ-Lesern alle Europäer der Nationen und „Die“, das sind die Roma. Das ist eine Falle. Wenn wir adäquat beschreiben wollten, wozu Sarkozys Frankreich und andere Länder (siehe deutsche Abschiebungen ins Kosovo) fähig sind, müssen wir die Einteilung „Wir“ versus „Die“ aufgeben. Wir müssen „die Roma“ nicht unter einem ethnischen Sonderzeichen, sondern als Menschen, als Teil des „Wir“ wahrnehmen. Nur so können wir begreifen, was da gerade für geisterhafte Prozesse ablaufen.

Zusätzlich zu dieser konstruierten Zweiteilung behauptet Schwarz, die Roma seien „sehr auf Separation bedacht“. Das ist eine fahrlässige Behauptung, die zwar sehr weit verbreitet ist, aber deswegen nicht wahrer wird. Der Vorwurf ist eigentlich auch ausgelatscht, denn allen Minderheiten wird oft und gerne Assimilationsunwilligkeit unterstellt. Der Vorwurf ist außerdem alt(bewährt), so mussten sich auch die europäischen Juden Eigenbrödelei und „Separation“ vorhalten lassen (an dieser Wahrnehmung haben auch bestens „integrierte“ Juden nichts geändert). Dieser Vorwurf hat einen Zweck: Die Kausalität der Ausgrenzung wird umgedreht. Ursache und Wirkung werden vertauscht, sodann ist nicht mehr die Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft das Problem, sondern das Problem ist plötzlich die ausgegrenzte Minderheit selbst. Damit kann man jede Verantwortung von sich weisen und überhäuft der stigmatisierten Gruppe die Schuld an ihrer Lage.


Der französische Innenminister Brice Hortefeux lässt Sarkozys Anordnungen Taten folgen.
(Screenshot aus Al Jazeera-Beitrag über französische Roma-Ausweisungen, 19.8.2010)

Nur wenn wir die „Wir“-„Die“-Logik verwerfen und bereit sind, die Ursachen für Rassismus und Diskriminierung bei uns selbst zu suchen, können wir uns dem eigentlichen Problem nähern. Alles andere dient der Ablenkung und Vermeidung von Selbstkritik.

Eine „Lösung der Roma-Frage“ zeichnet sich nicht ab, nicht auf der Eben der Nationalstaaten und auch nicht auf der europäischen. Nach den Slowaken, Ungarn, Serben und Rumänen werden auch andere europäische Nationen allmählich lernen müssen, mit ihnen zu leben.

Davon abgesehen, dass mir die Wendung „Lösung der Roma-Frage“ (wenn auch in Anführungszeichen) sehr unglücklich gewählt scheint, entfaltet sich in dem zitierten Satz von Karl-Peter Schwarz dieses Denkmuster: „Wie Europäer“ haben ein Problem, für das wir keine „Lösung“ finden, nämlich ein Problem namens „Roma“. Der Informationswert dieser Aussage, bei allem Respekt für die FAZ und Herrn Schwarz, ist nicht nur gleich Null, sondern er entspricht einer europäischen Tageszeitung an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert (und dürfte schon zu diesem Zeitpunkt einigen Menschen als rückständig erschienen sein).

Wer „Roma“, „Türken“, „Juden“, „Schwule“, „Katholiken“, „Muslime“, „Raver“ als „Problem“ definiert, lenkt von sich selbst ab. Karl-Peter Schwarz verliert kein Wort darüber, welche Ursachen für Phänomene wie Ausgrenzung, Diskriminierung und Abschiebungen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft zu suchen sind. Sein Vorschlag, wir müssten lernen „mit ihnen“ zu leben, mutet so an, wie es dROMaBlog auf den Punkt brachte: als müssten wir lernen, mit einer Krankheit zu leben.

Wir werden keines unserer Probleme lösen, indem wir den Finger auf sozial oder ethnisch definierte Gruppen richten. Wir müssen den Finger auf uns richten, unsere Regierungsvertreter und unsere Zivilgesellschaft. Wir müssen uns fragen, wie sehr wir Humanität und Aufklärung nicht nur als Worthülsen für unsere europäische Identitätskonstruktion verstehen, sondern tatsächlich bereit sind, Menschenwürde, Offenheit und Demokratie in unserem konkreten, alltäglichen Handeln umzusetzen.

Wie gesagt, ich bin der Meinung, Karl-Peter Schwarz versperrt sich selbst die Sicht auf das Wesentliche. Interessanterweise hält er im Verlauf seines Artikels fest:

In Italien wird zwischen Roma und Rumänen kaum unterschieden.

Diesen Punkt könnte er doch als Beleg dafür nehmen, dass Rassismus und Diskriminierung generell irrational sind und die Definitionshoheit darüber, wer ausgegrenzt wird, immer bei denen liegt, die ausgrenzen. Diese Feststellung hätte er als Steilvorlage nutzen können, um zu zeigen, dass Ausgrenzung nicht auf dem angeblichen Gegensatz zwischen Nationalstaat und Roma basiert, sondern dass „Wir“-„Die“-Konstruktionen beliebig und austauschbar sind. Das macht Schwarz nicht.

Stattdessen weiß Schwarz von der ethnischen Homogenität rumänischer Roma zu berichten. So behauptet er verallgemeinernd über alle rumänischen Roma:

Manche ihrer traditionellen Berufe sind längst ausgestorben, aber die Kasten, die sich auf sie gründeten, haben überlebt.

Zweifellos gibt es auch unter den Roma familiäre und soziale Netzwerke, wie unter allen Menschen, vom Banker bis zum Punker. Aber das Wort „Kasten“ entspringt wohl eher einer entdeckerischen Wunschvorstellung, nach der alle rumänischen Roma Teil eines funktionierenden Gesamtsystems sind. Mit der realen Situation rumänischer Roma hat das so viel zu tun, wie Sauerkraut und Lederhosen mit meinem Alltag: nichts.

Zum Schluss behauptet Schwarz, die Eigenbezeichnung „rom“ aus dem Romani sei verwandt mit dem griechischen „rhomaios“. Das lässt sich meines Wissens überhaupt nicht belegen, stattdessen deutet alles, wie bei vielen Romani-Vokabeln, auf eine Sanskrit-Etymologie hin. Wer will kann sich dazu bei Wikipedia warmlesen (1, 2, 3, 4).

Die von Sarkozy abgeschobenen Menschen sind jetzt in Bukarest. Es wird weitere Abschiebungen geben, Deutschland plant bereits die Abschiebungen Tausender. Solange wir die betroffenen Menschen als Problem definieren, werden die inhumanen Akte ihnen gegenüber weitergehen und vielleicht schlimmere folgen.

Ich möchte nicht lernen müssen, mit Rassismus und Diskriminierung in Europa zu leben. Die aufgewärmten Märchen in der deutschen Presse, mit denen uns die Andersartigkeit der Roma weisgemacht werden soll, haben rein gar nichts mit unseren Problemen zu tun. Was wir lernen müssen, hat mit uns selbst zu tun.