Rassismus ist für Nellys Abenteuer kein Hindernis

Ende 2015 nahm ich zwei Aufträge für eine Berliner Filmproduktionsfirma an: Ich übersetzte und transkribierte Interviews mit rumänischen Schauspieler*innen, die für ein Making Of gedreht worden waren – das Making Of vom Kinderfilm „Nellys Abenteuer“.

Zu dem Zeitpunkt war der Film noch nicht fertig. Im Februar 2016 bot mir dann einer der beiden Produzenten einen Folgeauftrag an. Inzwischen gab es Filmbeschreibungen online. Ich antwortete vorsichtig:

Ich habe mal einige der öffentlich zugänglichen Beschreibungen zur Filmsynopsis gelesen. Daraus habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Film „Nellys Abenteuer“ offenbar mit Klischees und Stereotypen arbeitet. Um mir ein genaueres Bild zu machen (wie oder ob überhaupt diese Darstellungsmittel im Film problematisiert bzw. gebrochen werden) würde ich den Film gern einmal sehen. Wäre das möglich? Ohne zu wissen, in welchem narrativen Kontext die Darstellung von „Kriminellen“ in einem „Roma-Dorf“ erfolgt, stehe ich für das Projekt leider nicht zur Verfügung.

Ich habe nie eine Antwort erhalten.

Nun ist „Nellys Abenteuer“ ein öffentliches Thema: Der Zentralrat der Sinti und Roma appelliert an die Fernsehsender SWR und KiKa, den Film aufgrund darin enthaltener rassistischer Klischees und Stereotype nicht zu senden. Der Programmdirektor vom SWR, Christoph Hauser, will den Film aber trotzdem senden, hat er gegenüber VICE gesagt.

Tja, weil er es kann. Diese Ignoranz der Extraklasse können sich nicht alle leisten, aber die Verantwortlichen für „Nellys Abenteuer“ offenbar schon. Sie sind nämlich weiße Deutsche und keine Roma. Darum wird dieser Film gesendet, trotz rassistischer Stereotype. Der Rassismus in dem Film ist aus Sicht weißer deutscher Filmverantwortlicher nämlich vernachlässigbar. Oder sogar unsichtbar. Ich kann mir vorstellen, ein großer Teil des deutschen Publikums wird Nelly begeistert bei ihren Abenteuern begleiten!

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Medienberichte zu diesem Thema:

“Nellys Abenteuer“ – ein zutiefst rassistischer Kinderfilm (Kira Ayyadi, Belltower News, 15.09.17)

Klauen und feiern (Sibel Schick, taz.de, 20.09.17)

Dieser rassistische Film läuft bald im Kinderkanal (Matern Boeselager, VICE, 20.09.17)

„Der Film zementiert antiziganistische Klischees“ (Sami Omar, MIGAZIN, 27.09.2017)

AND-EK GHES… — #Berlinale kurz notiert

AND-EK GHES…* ist ein Spiel mit filmischen Mitteln, bei dem die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktion verschwimmen. Es bietet eine Auseinandersetzung mit dem performativen Charakter gefilmter menschlicher Handlungen.

Die Aufnahmen, die von den romanessprachigen Protagonist_innen mit unterschiedlichen Kameras selbst angefertigt wurden, durchbrechen filmisch tradierte Blickrichtungen und reklamieren die Position der Selbstrepräsentation. Sie sind auch eine Abrechnung mit konventionellen Annahmen zur vermeintlichen Objektivität des Dokumentarfilms. Mit sichtbaren Inszenierungen oder selbstironischen Kommentaren wird die Verbindung zwischen den Darstellungen und ihrer Herstellung vergegenwärtigt.

Ein Film, erfrischend und politisch ohne Phrasen.

Einer der beiden Regisseure ist auf twitter: @ColoradoVelcu.

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* Transparenzinfo: Ich bin mit mehreren an dem Film beteiligten Personen, u.a. den beiden Regisseuren, befreundet.

AUF EINMAL — #Berlinale kurz notiert

Der Spielfilm AUF EINMAL (Sektion Panorama Special) erinnert anfänglich an einen Tatort: Eine Person tot, Ursachen und mögliche Motive unklar, Auffälligkeiten und Verdächtigungen vorhersehbar.

Im weiteren Verlauf liest sich der Film zunehmend als ethnographisches Portrait eines deutschen, kleinstädtischen Mikrokosmos‘. Dafür inszeniert Regisseurin Aslı Özge eine aus wohlhabendem Elternhaus stammende, männliche Hauptfigur. Deren zentraler Antrieb ist die Erhaltung des eigenen Rufs. Die Verteidigung der zivilisierten und moralisch anständigen Fassade. Mit allen Mitteln.

Am Ende beengend, beklemmend und nichts Neues. Aber sehr gut umgesetzt.

KIKI — #Berlinale kurz notiert

KIKI ist der großartige Dokumentarfilm aus der Sektion Panorama, mit dem die diesjährige Berlinale für mich begann. Ein Film zum Versinken.

Allein die Protagonist_innen erzählen über sich, ordnen ein, öffnen sich. Wo gewünscht, dürfen Familienmitglieder erzählen. Der Blick der Kamera bleibt sensibel. Von den dargestellten Personen und ihren Geschichten geht eine enorme Kraft aus. Der ganze Film lebt von den beeindruckenden Persönlichkeiten.

Die 95 Minuten bieten einen kurzen, intensiven filmischen Eindruck von den Erzählungen queerer Schwarzer Menschen und queerer Menschen of Colour aus New York. Allen weißen hetero-cis-Männern empfehle ich diesen Film als eine Gelegenheit zuzuhören.

Hier kann zwei der Protagonist_innen auf Twitter gefolgt werden:
@Chrisishandsome
@Gialov3

FUOCOAMMARE — #Berlinale kurz notiert

Der Dokumentarfilm FUOCOAMMARE lief im Wettbewerb. Er nähert sich dem Themenkomplex Flucht/Migration mit klassischen Mitteln.

Die Bilder von Geflüchteten, von Registrierungen nach der Ankunft auf der Insel oder die Schiffsfunkdialoge kontrastieren mit dem dargestellten Alltagsleben des zwölfjährigen Lampedusabewohners Samuele. Farbenfrohe Inselnatur und althergebrachtes Wohnungsinterieur auf der einen, schlecht beleuchtete Bilder von Geflüchteten auf der anderen Seite. Eine Verbindung zwischen beiden Ebenen ist der Arzt: Er ist Samueles Hausarzt und er untersucht die Ankommenden bzw. obduziert deren Leichen.

Die Inselbewohnerschaft um Samuele steht im Mittelpunkt, ihre Geschichte wird im Film detaillierter erzählt. Die Geflüchteten dagegen bleiben eine unbestimmte, teils voyeuristisch abgefilmte Masse. In einer Situation polizeilicher Registrierung und Kleidungskontrolle blicken durchsuchte Geflüchtete verunsichert in die Dokumentarfilmkamera. Das verstärkt ihre Positionierung in dem Film als reine Darstellungsobjekte.