Rumänisches Presse-Echo zu Rüttgers

Die rumänische Presse schreibt wenig über die Rüttgers-Rede und enthält sich einer eigenen Bewertung.


Zuallererst wird Deutschland heute in der internationalen und auch rumänischen Presse mit seinen Rechtfertigungsversuchen für den Bombenangriff in Afghanistan mit offiziell über 50 Toten erwähnt.

Ich habe dennoch in den rumänischen Online-Ausgaben nach medialen Echos auf die verbale Verunglimpfung „rumänischer Arbeiter“ in Rüttgers‘ Rede gesucht. Die Rede selbst ist zwar vom 26. August, sie bekam aber erst gestern größere Aufmerksamkeit, nachdem sie bei Youtube auftauchte und gestern in einem Artikel bei Der Westen sowie einem Spiegel Online-Artikel aufgegriffen wurde.

Die rumänische Nachrichtenagentur mediafax.ro übernahm schnell und kommentarlos die sich in Deutschland verbreitende Nachricht.

Auch die rumänische Ausgabe der Deutschen Welle hatte gestern Abend in ihrem Artikel die gleichen Infos wie SpOn und Der Westen. Die im deutschen Original als Jusos bezeichneten Urheber des Videos sind bei der Deutschen Welle dann „militante“ Jugendliche, die das Video zu Youtube brachten – wobei ich die Quelle dieser Einordnung der Jusos als „militant“ nicht zuordnen kann. Die DW liefert jedenfalls auch die bei Der Westen zu findenden Äußerungen der sozialdemokratischen Bundestags-Vize Susanne Kastner, die auch Vorsitzende des Deutsch-Rumänischen Forums ist. Ihrer Meinung nach seien es nicht die Rumänen, die nicht wissen, was sie tun, sondern Rüttgers. Politiker wie er würden mit „billigen Vorurteilen“ die jahrelange Zusammenarbeit mit Rumänien geringschätzen, zudem seien diese Äußerungen „undemokratisch“.

Die rumänische Nachrichtenseite Ziare.com übernahm gestern Abend in ihrem Artikel die gleichen Informationen einschließlich Kastners Einschätzung.

Der gestrige Artikel bei realitatea.net stellte bereits die Entschuldigung Rüttgers‘ in den Vordergrund, die in einem weiteren Artikel von Der Westen zu finden ist und auch bei Spiegel Online thematisiert wurde. Darüberhinaus blickte realitatea.net noch in weitere deutsche Online-Ausgaben und zeigte deren ähnlich kritische Reaktionen auf Rüttgers‘ Ausrutscher.

Hotnews.ro übernahm die schnell verbreitete Information von DW und einem Artikel der Associated Press und schreibt darum auch Nordrhein-Westfalen weder deutsch noch rumänisch (Renania de Nord-Westfalia), sondern englisch.

In den Online-Ausgaben der meisten rumänischen Zeitungen und Boulevardblätter (die vorwiegend deutschen oder schweizer Verlagsgruppen gehören) wird die Rüttgers-Rede zumindest bisher nicht weiter thematisiert. Dem Jurnalul National ist sie eine Kurzmeldung wert, allein Adevărul.ro wird etwas schärfer im Ton und titelt: „Rumänen wegen Nokia in Deutschland verbal attackiert“. Ansonsten wurden auch im Adevărul-Artikel die Informationen ohne eigene Bewertung übernommen.

Interessant ist, dass keiner der rumänischen Berichte von den deutschen Originalen abweicht. Darüberhinaus findet auch keine wertende oder anderweitige Einordnung des Ereignisses statt, sofern diese nicht in den deutschen Artikeln vorgegeben ist (Wahlkampf, Rassismus, Polemik …).

Für den Ruf Deutschlands in Rumänien mag es positiv sein, dass die rumänische Presse dem CDU-Mann, zumindest bisher, keine große Aufmerksamkeit schenkt. Trotzdem ist es interessant, wie untendenziös die rumänische Presse das Thema aufgreift, bei dem es ja immerhin um den Ruf Rumäniens im Ausland geht. Aber hier sind es mal nicht „die Z***“ die am rumänischen Bild im Ausland kratzen, sondern nur ein polemischer CDU-Politiker – und dem vergibt man das offenbar.

Standortfaktoren post-bellum

Im Ressort Wirtschaft erschien bei Spiegel Online am 19. Juli der Artikel Kosovo bangt um den Wirtschaftsfaktor Nato von Astrid Langer. Ausführlich wird dort der Zusammenhang zwischen KFOR-Präsenz und wirtschaftlicher Situation des Landes beleuchtet. Mit dem geplanten Truppenabzug der NATO drohe ein „konjunkturelles Fiasko“.


Die Autorin stellt uns einleitend Rejhan vor, die, nach anfänglicher Skepsis, nun seit über zehn Jahren für die deutsche Armee im Kosovo als „Schneiderin“ Uniformen „kürzt“ und „flickt“. Zur Belebung trockener Fakten wird eine Anekdote verarbeitet:

„Einmal habe sie sogar einen Babystrampler aus Tarnfleck genäht, erzählt sie. Den hat der Kompaniechef dann einem frischgebackenen Vater geschenkt.“

Die Schilderung gibt dem Thema ein Gesicht, Individualität. Aber viel interessanter als die Anekdote finde ich allein schon die Tatsache, dass die Autorin dieses Geschichtchen in ihrem Artikel einsetzt. Vor meinem geistigen Auge kreuzen sich zwei gegensätzliche Welten – in todbringenden Kriegen agierende Armeen treffen auf einen Babystrampler. Aber leider folgt dieser grotesk-ästhetischen Überschneidung nicht etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der von Krieg durchzogenen Lebenswirklichkeit der kosovarischen Gesellschaft, sondern nur die Beschreibung (sozial)wirtschaftlicher Vor- und Nachteile der NATO-Präsenz in der Region.

„Man merkt: Die 30-Jährige ist stolz, als eine von rund 400 Kosovaren für die Kosovo Force (Kfor) zu arbeiten. „Alle wollen das“, sagt sie. Der Grund dafür ist simpel: Die Anstellung hilft ihrer ganzen Familie, denn mit 368 Euro netto im Monat liegt das Gehalt deutlich über dem Durchschnittseinkommen von 200 Euro. Auch die Krankenversicherung und den Rentenbeitrag zahlen die Truppen für sie, eine Seltenheit. „Für mich bedeutet die Kfor viel“, sagt sie auf Deutsch – denn auch den Sprachkurs spendierte die Nato-Mission.“

Die offizielle Arbeitslosen-Quote liegt bei rund 50%. Die Autorin stellt denn auch zurecht den krassen Gegensatz zwischen Hoffnungsträger KFOR und herrschender Armut heraus. Nur bleibt sie dabei auf der Ebene einer unreflektierten Zustandsbeschreibung, die sich liest, wie ein Werbeprospekt der NATO:

„Und tatsächlich sind die Stellen bei den ausländischen Truppen vielfältig: Es gibt Gärtner, Dolmetscher, Frisöre, Reinigungskräfte, Küchenhelfer, Bedienungen und Straßenbauer. Denn es gibt viel zu tun in den Camps. Aber auch außerhalb der Kfor-Zäune beeinflusst die Anwesenheit der Truppen das Wirtschaftsleben: So werden in Prizren die Kfor-Fahrzeuge in der örtlichen „Big Brother“-Auto-Werkstatt gewaschen und teilweise auch repariert. Benzin wird ebenfalls vor Ort gekauft. Ein einheimischer Bäcker backt das Brot für die Soldaten – extra nach deutschem Rezept und Hygieneauflagen. Das Truppen-Magazin „Maz & More“ wird wöchentlich vor Ort gedruckt, 15 Kosovaren sind damit beschäftigt. Und auch die Schmutzwäsche der Task Force Süd wird in Prizren gewaschen. Zwar gehört die Wäscherei nicht der Kfor – doch die Truppen sind der einzige Kunde.“

Wer will nach dieser Beschreibung den Abzug der NATO aus dem Kosovo?

Erst nachdem ich akzeptierte, dass die Autorin hier eine rein ökonomische Perspektive auf die Gegenwart im Kosovo bietet, verstehe ich die Logik des Artikels. Die Faktenlage ist überschaubar: Einige Menschen in einer verarmten europäischen Region sichern sich ihre Lebensgrundlage mit Diensten für die Armeen aus vorwiegend wohlhabenden Ländern. Die Autorin hat dafür eigene Worte:

„Seit zehn Jahren läuft das so, seitdem die „Kosovo Force“ der Vereinten Nationen in den ethnischen Bürgerkrieg zwischen Serben und Albanern eingeschritten ist. Seitdem sichert die Kfor nicht nur den Frieden. Sie ist auch einer der größten Arbeitgeber im Land geworden, der viele neue Arbeitsplätze schafft.“

Während uns in der ersten Hälfte des Artikels noch einzelne Menschen vorgestellt wurden, ist die Sprache der Autorin im zweiten Teil wesentlich wirtschaftswissenschaftlicher:

„Was das Kosovo wirklich zu bieten hat, sind Arbeitskräfte. Sie sind billig, denn jeder sucht dringend einen Job“

Wie zum Beispiel Rejhan bald. Denn die Rede ist von „rückläufigen Direktinvestitionen“, zwischen vielen Zahlen erfahre ich, dass Unternehmen lieber nach Bulgarien oder Rumänien gehen, dort herrscht nicht ganz so viel Korruption und Instabilität.

Die Autorin weiß auch, dass es dank dem österreichischen Kommandeur Thomas Starlinger „erstmals einen Masterplan für das Kosovo“ gibt. Wie der Plan aussieht, steht nicht geschrieben, aber

„Das Ziel ist dabei eindeutig: ein sich selbst erhaltendes Kosovo.“

Das klingt nach einem guten Ziel. Ob es wirklich der erste Kommandeur ist, der mit seinem „Masterplan“ dem Kosovo Gutes tun will, bleibt dahingestellt.

Sicher, man kann für oder gegen den NATO-Krieg und die Besetzung des Kosovo sein. Die deutschen Medien entschieden sich mehrheitlich für die kompromisslose Verteidigung der deutschen und NATO-Strategie. Aber dass auf Spiegel Online der KFOR als Motor der kosovarischen Wirtschaft nachgeweint wird, ohne auf den Zynismus einer so paradoxen Situation näher einzugehen, führt mir doch einmal mehr den Zustand eines deutschen „Leitmediums“ vor Augen. Die einzige Aussage des Textes ist, dass wirtschaftlicher Aufschwung alle Probleme löst und dass das Militär im gegebenen Fall Teil dieser Lösung ist – nicht mehr nur als gewalttätiges Druckmittel, sondern als Wirtschaftsfaktor.

Die Autorin fragt nicht, ob der Krieg und die jahrelange Stationierung von Armeen auch wirtschaftliche Vorteile etwa für die entsendenden Länder bedeuten. Sie blendet aus, welche Folgen es für eine Gesellschaft hat, wenn eine militarisierte Alltags-Struktur einzig als Überlebenschance von den Menschen wahrgenommen wird. Sie präsentiert in ihrem Artikel keine einzige Idee oder Hoffnung für die Menschen im Kosovo, jenseits der Perspektive, als „billige Arbeitskräfte“ für Investoren zu enden. Der gesamte Fokus der Auseinandersetzung mit den Problemen dieser Menschen basiert auf der Vorstellung, dass sie für irgendjemanden arbeiten, um sich ihr Überleben zu erwerben.

Eine Logik, nach der Menschen als Standortfaktoren und „billige Arbeitskräfte“ bewertet werden, wird von einer jungen Journalistin im Jahre 2009 nicht mehr hinterfragt, sondern verbreitet.


Zum Thema:
Einen Job kriegen im Kosovo,
Die NATO in den Medien

Bettler nerven Bild

Wofür „Bild-Reporter“ Thomas Hoffmann am Alex 54 Euro investiert:


Der heutige Bild-Artikel Ihr Bettler, ihr nervt! wurde bereits bei BILD-blog auf seine Schwächen geprüft: Nicht nur, dass unter den Bettlerinnen betont oft „Roma-Frauen“ sind, auch der von Thomas Hoffmann ausgerechnete Stundenlohn eines Bettlers lässt ein wenig an dessen Beobachtungsgabe zweifeln – wohl kaum ein Mensch kann im 1-Sekundentakt jeweils einen Menschen ansprechen und wird dabei jede halbe Minute einen Euro erhalten, auch nicht im Durchschnitt, auch nicht Roma-Frauen.

Aber wenn man über Menschen, die man nicht kennt, berichten möchte, dann lohnt es natürlich nicht, über Roma zu berichten, die das Leben der Durchschnitts-Deutschen führen. Um gute Bilder zu liefern muss man sich schon mal undercover ins Feld wagen und darf dabei den Kontakt zu bettelnden Roma nicht scheuen. Thomas Hoffmann setzte sich in ein Café am Alexanderplatz:

„Was passiert, wenn man einem Bettler am Alex Geld gibt? Ich, der BILD-Reporter, wurde daraufhin von sieben weiteren angeschnorrt, 14-mal – in gut einer Stunde!“

Nanu, verfügt Herr Hoffmann etwa über eine große Anziehungskraft oder besonders individuelles Aussehen?

„Nach einer Stunde kostete mich der „eine Kaffee“ nicht 4 Euro – sondern 54 Euro! IHR NERVT, IHR BETTLER!“

Achso. Er hat 50 Euro in einer Stunde herausgegeben. Schade, dass ich um diese Zeit nicht am Alex war. Ich wusste aber leider nicht, dass ein Bild-Mitarbeiter dort den Menschen so viel Geld auf bloßes Bitten gibt. Na gut, ich hätte dann in Kauf (im wahrsten Sinne des Wortes) nehmen müssen, dass ich fotografiert werde und wäre dann mit meinem Gesicht ein Teil der Reportage von Thomas Hoffmann geworden, das hätte ich vielleicht doch nicht so gerne gewollt. Auch nicht für Geld. (In Anlehnung an seinen Satz könnte man fragen „Was passiert, wenn man Thomas Hoffmann am Alex um Geld bittet?“) Andererseits hätte ich es ohne Roma-Kleider vielleicht ohnehin nicht in den Hoffmannschen Alexanderplatz-Report geschafft.

Übrigens finde ich es widersprüchlich, dass Hoffmann im Fließtext den Eindruck erweckt, er habe jedem Fragenden etwas gegeben, auf den vielen Fotos hingegen ist er fast nur in ablehnender oder ignorierender Haltung (z.B. hier) den Menschen gegenüber zu sehen – außer im Falle zweier Kinder, denen er offenbar (man erkennt es nur schwer) eine Münze überreicht (hier).

Ha, man stelle sich vor, Thomas Hoffmann hätte nur schnell einen Nachweis gebraucht, um 50 Euro Ausgaben vor seiner Redaktion zu rechtfertigen, die er eigentlich für etwas ganz anderes ausgegeben hat, als für die Menschen am Alex. Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube er hat auch Fotos von sich machen lassen, auf denen klar erkennbar ist, dass er den „nervenden“ „Schnorrern“ insgesamt 50 Euro gab. Die auf den Fotos erkennbare ablehnende Haltung gegenüber diesen Menschen resultiert sicherlich nur aus einer anfänglichen Skepsis gegenüber dem Fremden, bis Thomas Hoffmann sich dann doch breitschlagen lies, Geld zu geben. Die Menschen fragen ja sicherlich auch gern danach und freuen sich jeden Morgen auf ihre geldbringende Tätigkeit. Schön, dass es dann Menschen wie Thomas Hoffmann gibt – ich würde, wenn ich Geld hätte, sogar einen Report machen über Menschen, die bei mir 1000 Euro in der Stunde erschnorren. Ich habe nur das Geld nicht.

„14:42
Die Roma geht nicht eher, bis sie 6 Euro erschnorrt hat.“

Aber eines würde ich machen, auch ohne Geld: Wenn ich als „Reporter“ über weibliche Roma schreiben würde, würde ich vorher im kostenlosen Online-Lexikon nachschlagen, wie der weibliche Singular von Roma ist. Herr Hoffmann, es muss heißen: „Die Romni geht nicht eher, bis sie 6 Euro errschnorrt hat“. Korrekt: Die Roma schnorren, die Romni schnorrt, der Rom schnorrt. Für’s nächste Mal. Vielleicht in Kreuzberg? Na dann müssen aber alle drei Formen sitzen. Achso, und die Scheine schon mal klein machen…

Quelle: Wikipedia


andere Artikel über Antiromaismus

Ach lass gut sein

Der 1952 in Rumänien geborene und 1987 vor den Repressionen gegen die deutsche Minderheit unter Ceauşescu nach Deutschland geflohene Schriftsteller und Publizist Richard Wagner schreibt für „die Achse des Guten“ (achgut.com).


Erst jetzt stieß ich auf einen gut drei Wochen alten Artikel, in dem sich Richard Wagner zu den heiß diskutierten Roma in Berlin äußert. Für „die Achse des Guten“, die nach eigenen Angaben „populären Mythen auf den Grund zu gehen“ versucht, zeigt der Autor mit seinem Artikel Roma ohne Grenzen?, was er über „die Roma“ denkt.

Gleich einleitend betont Wagner, dass es für „das Roma-Problem“ keine Lösung gibt. Wie sein „Roma-Problem“ dabei genau aussieht, bleibt offen, den Bezugsrahmen bildet die Phantasie der einzelnen Leser. Der Begriff „Problem“ mit einem vorangestellten ethnischen Attribut ist ja nicht ungewöhnlich, man kann sogar jede beliebige Gruppe vor das Wort „Problem“ stellen, ob es diese Gruppe nun de facto geben mag oder nicht. Wer stand nicht schon vor einem unlösbaren Problem?

Es deutet sich an, was Wagner wurmt:

„Ein Gemeinwesen kann nur erfolgreich bestehen, wenn die, die sich ihm angeschlossen haben, sich an die vereinbarten Spielregeln halten, also die Geschäftsgrundlage berücksichtigen. Die Roma, jene, von denen hier die Rede ist, sind Spieler, die die Regeln ignorieren. Sie konstituieren sich zur Gruppe, um damit ein Individualrecht zu erwerben, das ihnen als einzelnen Personen so nicht zustehen würde.“

Das Wort „Spielregeln“ bleibt eine weitere unklare Größe, auch hier muss jeder Lesende selbst erahnen, was Wagner damit meinen könnte. Er mag das deutsche Verbot vom Übernachten im Park oder das „Wild-Camping“-Verbot meinen, auf das die Roma von der Berliner Polizei mehrmals hingewiesen wurden. Er könnte aber auch ungeschriebene Regeln meinen. Aber wie kann jemand wie Wagner die gesellschaftlichen „Spielregeln“ als unabänderliche Konstante verstehen? In einer Demokratie sind es doch eben jene ungeschriebenen gesellschaftlichen „Spielregeln“, die es täglich zu überprüfen gilt. Frauen, Homosexuelle, Menschen mit dunklerer Hautfarbe und viele andere haben sich aus der Stigmatisierung heraus als Gruppen konstituiert, um herrschende „Spielregeln“ zu durchbrechen und der Gesellschaft häppchenweise neue Freiheiten abzuringen. Bis dahin gab es für sie gesellschaftlich die Rote Karte. Ist Richard Wagner der Meinung, dass nur die jeweils herrschende Gesellschaftsmehrheit die „Spielregeln“ festlegen darf?

„Das ist, kurz gesagt, die Statusfrage um die Roma aus Rumänien, die im Berliner Görlitzer Park kampierten und die auf jeden Fall in Berlin bleiben wollen. Viele Menschen möchten in Berlin bleiben. Und es ist in der Regel ja auch möglich. Und zwar für den Einzelnen, für die Person, nicht für die Gruppe.“

Weil die „Spielregeln“ dagegensprechen?

„Die Roma aus Rumänien sind EU-Bürger. Als solche genießen sie die Rechte und Freiheiten eines EU-Bürgers in Deutschland, aber nicht die Rechte der deutschen Staatsbürger. Dafür haben sie alle Rechte eines rumänischen Staatsbürgers. Es gibt keine gesetzliche Diskriminierung der Roma in Rumänien, auch wenn das gelegentlich in den deutschen Medien suggeriert wird.“

Wagner verschweigt die entscheidende Information, dass es derzeit zwei Klassen von EU-Bürgern gibt. Für die erste Klasse trifft seine Aussage zu, aber die Roma in Berlin sind nicht Teil dieser Klasse. Denn als rumänische Staatsbürger sind sie zunächst nur EU-Bürger einer zweiten Klasse, für die bis 2011 das Freizügigkeitsgesetz innerhalb der EU in Bezug auf freie Arbeitsplatz- und Wohnortwahl noch nicht in Kraft ist. Und in deutschen Medien, wenn sie sich denn mit Roma-Diskriminierung in Rumänien befassen, wird meiner Kenntnis nach eher auf die Form der Diskriminierung hingewiesen, die ohne Gesetz möglich ist. Für seine These nennt Wagner keine Beispiele.

„Dass viele der Roma in Berlin bleiben möchten, hat mehr mit dem Sozialgefälle innerhalb der EU zu tun als mit einer Verfolgung in Rumänien. Dort gibt es zwar eine ausgeprägte Anti-Roma-Rhetorik, einen oft ungehemmten Verbalrassismus, aber die Pogromstimmung, die man in unserer Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen zu berichten weiß, ist so nicht vorhanden.“

Seit Rumänien in die EU will, gilt es dort nicht mehr als „chic“, „Z***-Hütten“ anzuzünden, das stimmt. Zusammenhänge wären interessant. Warum bilden in jenem von Wagner angeschnittenen Sozialgefälle ausgerechnet die als Roma / „Z***“ (fremd- oder selbst-) bezeichneten Menschen den untersten Rand? Wieso benennt Wagner nicht, dass Sozialstruktur und Rassismus (auch unter EU-tauglichen Gesetzen) miteinander verknüpft sind?

Wagner kritisiert dann, wie ich finde zurecht, den Habitus europäischer Political Correctness:

„[…] Wenn wir uns politisch korrekt zu verhalten wissen, heißt das automatisch, dass wir von dem, was wir sagen, auch überzeugt sind? Werden wir tatsächlich von der Richtigkeit unseres Verhaltens gelenkt oder nur von dessen gefühlter Notwendigkeit? Kann es nicht sein, dass das Bekenntnis zum politisch Korrekten ein Ausdruck von Opportunismus geworden ist und schon lange nicht mehr den Gegenstand von Zivilcourage ausmacht?“

Dieser vernünftige Gedankengang reicht bis zur Nationalstaatsgrenze:

„Man kann durchaus berechtigt über die Roma in Rumänien behaupten, sie seien diskriminiert, das aber könnte man in der gleichen Weise auch von der Banlieue-Bevölkerung in Frankreich sagen. Käme aber jemand auf die Idee, diesen Franzosen in Berlin ein Aufenthaltsrecht zu geben? Nein.“

Abgesehen davon, dass man einem Franzosen in Berlin weder Arbeit noch Wohnung verwehren darf, einem Rumänen wegen der Einschränkung der Freizügigkeit aber schon, geht es Wagner stets um Legalität und Gesetzesmäßigkeit. Er fragt nicht, warum diese Menschen kommen wollen. Warum verlässt man sein Land mit dem Gedanken, in Deutschland besser überleben zu können? Stellt sich Wagner diese Frage mit Blick auf die Roma? Nicht in diesem Artikel.

Aber erst in der zweiten Hälfte seines Artikels schießt Richard Wagner richtig los.

„In der Romafrage wird gerne moralisiert. Die von den Papiertigern der NGO’s auf den Weg gebrachte Thematik hat gute Chancen zur Chefsache in der europäischen Moralzentrale zu werden. Das Gutmenschentum, das hauptamtliche wie das ehrenamtliche, betreibt die moralische Landnahme. Nichts gegen die Arbeit, die viele Verbände vor Ort leisten, trotzdem aber muss man Einspruch gegen die Art und Weise erheben, wie manche Leute, Helfer und Experten zugleich, die Romafrage moralisieren, ja geradezu inszenieren, um die Aufmerksamkeit der Politik zu erzwingen. Nur für die Roma oder auch für sich selbst?“

Welche NGOs moralisieren? Es fehlen Beispiele. Meint er Human Rights Watch (Vergiftet mit Blei)? Meint er Amnesty International (Jahresbericht Rumänien 2009)? Und die Studie zur rassistischen Diskriminierung in Europa stammt von den Papiertigern der Moralzentrale (Vergessen in Europa)? Und „Gutmenschen“, wie die vom Standard (Slowakische Polizisten misshandelten Roma-Kinder), von der Presse (Rassistische Gewalt versetzt tschechische Roma in Angst), von BBC (‚Lessons learned‘ on race attacks) sowie Nikoleta Popkostadinowa (Kein Mathe, kein Wasser in Stoliponowo) oder Andrej Ivanji (Leben zwischen Ratten und Müll) sind es, die „die Romafrage“ inszenieren?

Mir scheint, das Unkonkrete und die fehlenden Beispiele in Wagners Artikel haben System.

„Man ist offenbar bestrebt, das Roma-Thema zu einem gesamteuropäischen Problem umzudefinieren.“

Diese Aussage von Richard Wagner ist sogar ein bisschen lustig, denn wenn es kein europäisches Thema ist, dann nur ein tschechisches, slowakisches, britisches, polnisches, rumänisches, ungarisches, kosovarisches, bosnisches, italienisches, serbisches, bulgarisches, mazedonisches, … Aber kein europäisches.

„Wie immer in solchen Fällen, wenn die Moralpächter den Europäer in die Pflicht nehmen, wird kräftig zugelangt, Geschichtsklitterung inklusive. Oft genug erweist sich der im allgemeinen Getümmel ausgerufene Pflicht-Antirassismus als das, was er vor dem Hintergrund des politisch Korrekten längst geworden ist: eine Formel der moralischen Schutzgelderpressung.“

Das Thema ist Richard Wagner wohl ein Grund zu großem Ärgernis. Oder ist das eine Beschwerde und er sieht sich als Opfer? Warum nicht ohne Pflicht antirassistisch sein? Stören Wagner eher die Fakten oder eher diejenigen, die sie benennen?

„Wie man’s auch angeht, es bleibt die Wahrheit, dass das ungelöste rumänische Roma-Problem nicht in Berlin verwaltet werden kann, weil es in seinem Kern Teil der sozialen Lage in Rumänien ist. Man sollte für die Roma nicht weiter Gruppensonderrechte einklagen, statt dessen ihnen besser ihre individuellen Rechte und Pflichten klarmachen, und zwar jenseits der Frage, ob Bettelei und Kleinkriminalität als kulturelle Merkmale anzuerkennen sind oder nicht. Es gilt die Gleichstellung zu betonen, nicht den Sonderstatus.“

Der Hinweis darauf, dass Deutschland nicht für die Probleme anderer Länder zuständig ist, wird ja von vielen gern gegeben, warum nicht auch von Richard Wagner. Wo er gelesen hat, dass Bettelei und Kleinkriminalität kulturelle Merkmale sein könnten, sagt er auch nicht. Schade, das hätte mich jetzt wirklich sogar interessiert. Schön, wenn er die Gleichstellung der Roma von nun an mit betont. Während er eben noch meint, „man sollte ihnen … klarmachen“, wechselt er einen Absatz später, abschließend, seine Empfehlung:

„Im Übrigen muss man die Roma aus Berlin auch nicht abschieben, das Abschieben innerhalb der EU ist, bei fehlenden Grenzkontrollen, ohnehin zwecklos. Man erreicht damit nur eine Diskurs-Eskalation im Sinn der NGO’s. Die Roma werden so zu Abgeschobenen. Dabei würde es genügen, ihre Forderungen zu ignorieren. Sie gehen dann erfahrungsgemäß von selbst.“

Wagner kommt nun doch noch zu seinem ganz persönlichen Lösungsansatz und nennt zwei Methoden, dass diese Leute wieder gehen, mit anderen Worten: Möglichkeiten, sie loszuwerden. Weil Abschiebung zu viel Aufsehen erregt (und „ohnehin zwecklos“ ist), empfiehlt Wagner „erfahrungsgemäß“: Ignoranz.

Die Nomaden kommen

Auf Spiegel Online berichtet Zacharias Zacharakis über Roma in Berlin. Sein Artikel mit dem Namen Nomaden der Neuzeit verbreitet keine Informationen, sondern Angst.


Der Titel-Begriff „Nomaden“ ist beispielhaft für den Artikel. Roma, obwohl sie vorwiegend in Slum-ähnlichen Randbezirken, aber vor allem sesshaft, leben (Vergessen in Europa) lassen sich nach wie vor am besten in Bildern längst vergangener Zeiten verkaufen. Vielleicht ist es auch Unwissenheit und Zacharakis kennt die Lebensumstände der Roma Südosteuropas nicht, das ist aber unwahrscheinlich, denn eine kleine Internet-Recherche genügt, um das Nomaden-Bild als tief verwurzeltes Vorurteil zu erkennen (Brigitte Mihok und Peter Widmann: Sinti und Roma als Feindbilder). Die kritische Auseinandersetzung mit einem Problem wie Arbeitsmigration ist aber aufwändiger als der Griff nach dem Nomaden-Etikett.

Mit einschlägigem Vokabular auf Kosten Anderer klingen die Schlagzeilen eben auch flotter:

Erst haben die Roma-Familien unter freiem Himmel in einem öffentlichen Park gehaust, dann besetzten sie eine Kirche in Kreuzberg – und Fachleute erwarten für die Zukunft eine wahre Einwanderungswelle.

Die Bedeutungen des Verbs „hausen“ können im Wictionary nachgelesen werden, mit Verweisen auf mehrere Lexika.

Zacharakis dekoriert die lasche Faktenlage mit ein paar Klischeebildern, die am Begriff Roma so gut haften, wie die Sticker in einem Poesie-Album. Und seine angekündigten „Fachleute“ sind in Wirklichkeit nur einer, wie sich später herausstellt.

Interessant ist der (einzige) Absatz, in dem Äußerungen derer auftauchen, von denen uns der Spiegel-Online-Artikel erzählen will:

„Geht gut hier“, sagt die Frau. Auf die Frage, wie lange sie und ihre Angehörigen noch bleiben wollen, neigt sie den Kopf zur Seite, zuckt mit den Achseln. Warum sind sie nach Deutschland gekommen? Die Frau führt ihre Hand in schnellen Bewegungen zum Mund. Aus Hunger.

Diese Menschen (Weil sie fremd aussehen oder gebrochenes Deutsch sprechen?) werden gefragt, wie lange sie noch hier bleiben wollen und warum sie hier sind. Ist das eine persönliche Frage des Autors oder stellt er sie für seine Leserschaft?

Ansonsten bleiben die Roma in dem Artikel ein aus sicherer Entfernung ausgewertetes Phänomen. Mutmaßungen und Fakten verschwimmen ineinander. Was die Roma eigentlich wollen, wünschen oder vorhaben, erfahren wir aus der Sicht der Nicht-Roma:

„Sie würden gerne Leistungen vom Staat erhalten“

Diese Zwischenüberschrift soll verdeutlichen, was „schnelle Bewegungen der Hand zum Mund“, von Zacharakis eingangs als „Hunger“ interpretiert, eigentlich bedeutet. Da Sozialleistungsempfänger in Deutschland ohnehin kein hohes Ansehen haben, kann sich die Leserschaft nun zusammenreimen, warum diese Nomaden mit Wunsch nach Sozialleistungen nicht mit „Herzlich Willkommen“ begrüßt werden, sondern mit „Wann geht ihr wieder?“.
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