Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 5 — Natasha A. Kelly: „Rassismus, Macht und Sprache“

Teil 5 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Nachdem Lann Hornscheidt den Vortrag bei der Ringvorlesung Rassismusforschung der TU Berlin absagte, hat spontan Natasha A. Kelly zugesagt und zum angekündigten (unveränderten) Thema am letzten Montag, 23.11.2015, vorgetragen: Rassismus — Macht — Sprache.

Offenbar pegelt sich die Zahl der Interessierten und Studierenden ein, kaum mehr Menschen sitzen auf dem Boden, die Sitzreihen sind alle voll besetzt, der Raum in der Bibliothek der TU Berlin ist gefüllt. Nachfolgend gibt es wieder eine kurze Zusammenfassung des Referats.

Natasha A. Kelly leitet ihren Vortrag mit einem auf Video präsentierten Spoken-Words-Beitrag einer Schwarzen Künstlerin ein, die sich u.a. der Wirkmacht weißer Kolonialsprache auf die Kolonisierten widmet. Die Wirkmacht von Sprache im Allgemeinen sowie die rassistischen Dimensionen im Besonderen geben die Richtung des Referats vor.

Nach ihrem Rassismusverständnis (Natasha A. Kelly sagt bewusst „Mein Rassismusverständnis“) ist Rassismus dasselbe wie White Supremacy. In Anlehnung an Frances Cress Welsing sieht Natasha A. Kelly in einem ursprünglichen Unterlegenheitsgefühl weißer Europäer_innen eine Ursache für die, sozusagen kompensatorische, Überlegenheitsideologie und ihrer (wissenschaftlichen) Biologisierung, Rassifizierung und Kolonialisierung Schwarzer Menschen. Der Vorstellung europäischer, zivilisierter, kutlureller Überlegenheit liege die Intention zugrunde, das Überleben weißer Menschen zu sichern. Die stärkste Waffe für diese Mission sei die Schriftsprache, die mit der Bibel und der Erzählung eines weißen Jesus und einer weißen Maria in die kolonisierten Gebiete gebracht wurde. Bis heute dominiere die Wahrnehmung von weißen Menschen als gelehrt etc. und von Schwarzen Menschen als naturnah etc. als Folge kolonialer Narrative.

Natasha A. Kelly nennt W. E. B. Du Bois als Beispiel dafür, wie bereits zum Ende des 19., Anfang des 20. Jh. die soziale Dimension von Rassismus problematisiert wurde: Nicht tatsächliche Rassen, sondern an die Rassifizierung von Menschen geknüpfte Zugänge zu Ressourcen bestimmten die soziale Realität rassifizierter Menschen. Eine solche Wahrnehmung von Rassen als soziale Realität — im Sinne eines racial turns — fordert Natasha A. Kelly auch für deutschsprachige Kontexte und plädiert (wie der Vortragende von letzter Woche) für eine Beibehaltung bei gleichzeitiger Resignifizierung des Begriffs Rasse.

Nach der definitorischen Annäherung beschreibt Natasha A. Kelly die vielschichtige Wirkmacht von Rassismus, die auf der sprachlichen, der visuellen und der kognitiven Ebene gleichzeitig zum tragen komme. Sie illustriert das am N-Wort, dem Inbegriff weißer Vorherrschaft: Der Begriff selbst betrifft die sprachliche Ebene. Gleichzeitig wird auf der visuellen Ebene ein sichtbares Merkmal, zum Beispiel in der Kategorie ‚Hautfarbe‘, hervorgerufen — durch den Begriff, also unmittelbar mit diesem verbunden. Auf der kognitiven Ebene werden Vorstellungen von ‚Kultur‘ oder vermeintlichen Eigenschaften im weiteren Sinne aktiviert, die mit dem Begriff und der visuellen Vorstellung verbunden sind — also jene erlernten (stereotypen) Konzepte vergegenwärtigt, die unter den entsprechenden begrifflichen und visuellen Markern abgespeichert sind. Rassismus wirkt gleichzeitig auf den drei Ebenen.

Natasha A. Kelly erinnert daran, dass die Vermeidung des N-Wortes eine Errungenschaft Schwarzer Communities ist, und dass sämtliche Rechtfertigungsversuche („Kunst“, „Meinungsfreiheit“, „Satire“) den rassistischen Wirkkomplex des Begriffs kein bisschen reduzieren. (Jüngeres Beispiel, wie weiße Akteur_innen versuchen mit der Verwendung des rassistischen N-Worts originell zu sein hier). Mit Verweis auf Frantz Fanon beschreibt sie die Unmöglichkeit, die historischen Verhältnisse bei der Verwendung rassistischer Sprache auszublenden: Die Erfahrungen der kolonisierten Subjekte blieben in traumatisierender Weise als historischer Schmerz für die Nachfahren präsent — weiße Akteur_innen hingegen könnten sich nicht aus ihrer Relation zu den Kolonisierten lösen, sie tragen als Nachfahren der Kolonisierenden eine historische Schuld, die auch bei der Verwendung rassistischer Sprache nicht ausgeblendet werden könne. Das historische Verhältnis zwischen kolonisiertem und kolonisierendem Subjekt wird bei der Verwendung rassistischer Sprache stets aktiviert, dazu bedarf es keiner spezifischen Intention.

In einer genaueren Betrachtung des Verhältnisses zwischen Rassismus und Sprache — mit Sprachhandlungen werden Wirklichkeiten gewortet, Identitäten konstruiert — erläutert Natasha A. Kelly Möglichkeiten, wie Rassismus sich auch im Unterlassen von Sprachhandlung äußern kann: Im deutschen Feminismus beispielsweise sei die Ausblendung von Rassismus durch Nicht-Thematisierung verbreitet, wodurch Realitäten von Schwarzen Frauen, Frauen of Colour gar nicht in Betracht gezogen würden. Feminismus, bei dem ‚race‘ kein Thema ist, sei white feminism. Neben solcher Praxis der ‚Entnennung‘, in der Weißsein durch Nicht-Nennung als Norm reproduziert und Abweichng davon unsichtbar gemacht wird (theoretisch basierend auf bell hooks, begrifflich eingegrenzt von Lann Hornscheidt), existiert die Praxis der ‚Enterwähnung‘, in der Selbstbezeichnungen der von Rassismus Betroffenen ignoriert, also die Betroffenen mit ihrer selbstgewählten Bezeichnung nicht erwähnt werden (Zurückgehend auf Alanna Lockward). Um über etwas zu sprechen, müsse dies benannt werden. Durch ‚Entnennung‘ und ‚Enterwähnung‘ werde die Thematisierung nicht-weißer Perspektiven verhindert.

Über die Unsichtbarmachung nicht-weißer Perspektiven gelangt Natasha A. Kelly zur Critical Whiteness. Diese Theorie werde fälschlicherweise oft der weißen Wissenschaft zugeordnet, obwohl es sich dabei um ein von Schwarzen Menschen für Schwarze Menschen entwickeltes Modell handelt, dessen Ausgangspunkt die Perspektive des Schwarzen Objekts sei. Die Entwicklung und Betonung eigener Perspektiven aus der Sicht Betroffener auf die rassistischen Machtverhältnisse und die kritische Auseinandersetzung mit der weißen Machtposition gehe bereits auf widerständige Gesangs_Sprach_Handlungs_praxen während der Sklaverei zurück. Diese Perspektiven würden allerdings in der weißen Geschichtsschreibung nicht wahrgenommen — sondern erst jetzt, als die kritische Betrachtung der weißen Perspektive via Critical Whiteness von weißen Menschen übernommen wird, als vermeintlich weiße Theorie beachtet. Das sei ein Missverständnis und beruhe auf der fehlenden Anerkennung Schwarzer Wissens- und Theoriegeschichte, die zur Critical Whiteness von Toni Morrison nachhaltig beeinflusst wurde, wobei von genanntem W. E. B. Du Bois bereits vor über 100 Jahren Grundlagen zur Critical Whiteness zusammengetragen wurden. Du Bois, der sich als Black Marxist einordnete und die Theorien von Marx um den Aspekt ‚race‘ erweiterte, beschrieb die sozialen Auswirkungen von Rassismus auf die rassifizierten ‚black subjects‘, denen der Aufstieg auf das Level von ‚white subjects‘ durch eine trennende ‚colour line‘ verwehrt bliebe. Trotz formaler Übereinstimmungen von sozialen Eigenschaften mit weißen Subjekten würde die ‚colour line‘ dafür sorgen, das rassifizierte Subjekte nie in der sozialen Ebene von ‚white subjects‘ angelangen. Die ‚colour line‘ versperrt Zugänge zu Macht und Ressourcen, die weißen Subjekten vorbehalten sind.

Natasha A. Kellys Empfehlungen zum Weiterlesen:

  • Du Bois, W. E. B.: The Souls of Black Folk (Die Seelen der Schwarzen)
  • Fanon, Frantz: The Wretched Of The Earth (Die verdammten dieser Erde), Black Skin, White Masks (Schwarze Haut, Weiße Masken)
  • hooks, bell: alles
  • Morrison, Toni: Playing In The Dark – Whiteness and the Literary Imagination (Im Dunkeln spielen: Weiße Kultur und literarische Imagination)
  • Welsing, Frances Cress: The Isis Papers: The Keys to the Colors

  • Natasha A. Kelly weist außerdem auf die von ihr mit initiierte Ausstellung EDEWA hin, die noch bis 12.12. in der Weserstr. 179 in Berlin zu sehen ist.

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    Für Montag den 30.11.2015 ist Astrid Messerschmidt angekündigt mit dem Vortragstitel „Rassismuskritische Bildung als machtreflexiver pädagogischer Ansatz“ (facebook-Ankündigung, und hierlang zum Blog-Beitrag).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 4 — Cengiz Barskanmaz: „Rassismus, Macht und Recht“

    Teil 4 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Letzten Montag (16.11.2015) sprach Cengiz Barskanmaz über „Rassismus, Macht und Recht“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung der TU Berlin. Es waren etwas weniger Interessierte anwesend als beim letzten Mal, so dass diesmal der ein oder andere Platz leer blieb und nur ein Mensch auf dem Boden saß. Die Raumkalkulation der TU Berlin ging damit erstmals auf. Es folgt wieder eine kurze Zusammenfassung.

    Cengiz Barskanmaz betrachtet aus einer jusristischen Perspektive die Schnittstellen zwischen den Konzepten Recht, Macht und Rassismus, wobei der Vortrag auf das Verhältnis von Recht und Rassismus fokussiere. Auf rechtlich-institutioneller Ebene werde das Verständnis von Rassismus durch das ICERD (international), die EMRK (in Europa) und das Grundgesetz (in Deutschland) juristisch definiert und geregelt — der Anspruch an diese Institutionen sei, mit ihren rechtlichen Maßgaben Schutz vor Rassismus zu bieten. Um die Ausgestaltung dieser Relation zwischen Recht und Rassismus zu analysieren, biete sich methodisch die Critical Race Theory an.

    Cengiz Barskanmaz folgt einer Definition, wonach Rassismus als Oberbegriff verschiedene Rassismen pluralisiert, etwa postkolonialen, antimuslimischen, antijüdischen oder Anti-Roma-Rassismus (er meidet ausdrücklich bewusst den immer weiter verbreiteten AZ-Begriff.) Ein zentrales Problem erkennt Cengiz Barskanmaz in der Frage um die Bedeutung des juristischen Begriffs ‚Rasse‘: Nach wie vor taucht ‚Rasse‘ in deutschsprachigen Gesetzestexten auf (z.B. in Art. 3, Abs. 3 GG), wodurch die tatsächliche Existenz menschlicher ‚Rassen‘ impliziert wird — gleichzeitig werde der englischsprachige Begriff ‚race‘ inzwischen als analytischer Begriff sozialer Positionierung verwendet, auch in deutschsprachigen Kontexten zur Vermeidung des Wortes ‚Rasse‘. Das Ausweichen auf den englischen Terminus hält Cengiz Barskanmaz für überflüssig und fordert, den Begriff ‚Rasse‘ ebenfalls ausschließlich im Sinne einer „performativen Kategorie“ zu verwenden, wie das englische ‚race‘, auf das dann nicht mehr ausgewichen werden müsste. Diese Begriffsbedeutung werde auch der sozialen und politischen Selbstbezeichnung ‚Schwarz‘ als racial category gerecht, die sich nicht auf die Existenz von ‚Rassen‘ bezieht, sondern auf eine Positionierung innerhalb rassistischer Strukturen. In diesem Sinne könne sich auch ‚Rasse“ auf die konstruktivisitische und sozial relevante Bedeutung beziehen — dafür brauche es die Übersetzung dieser Analysekategorie zu ‚race‘ nicht. Cengiz Barskanmaz betonte, der rassistische Bedeutungsgehalt von ‚Rasse‘ ließe sich nicht durch die Tilgung des Begriffs bekämpfen, im Gegenteil, lebe ihr biologistischer Gehalt bereits jetzt in unhinterfragten Ersatzbegriffen wie ‚Ethnizität‘ oder ‚Hautfarbe‘ fort, die genau jene Rassifizierung von Menschen fortführten, die durch den Verzicht auf ‚Rasse‘ eigentlich beendet werden sollte. So verhalte sich seiner Ansicht nach der Begriff ‚Ethnizität‘ zu ‚Rasse‘ wie ‚Ausländerfeindlichkeit‘ zu ‚Rassismus‘: Für die Analyse notwendige Benennungen würden vermieden und verwaschen. Vielmehr gelte es daher, die soziale Bedeutung rassismuskritischer Ansätze in die Bedeutung des Begriffs ‚Rasse‘ zu übernehmen, der als juristischer Terminus real existiert. Und der als „performative Kategorie“ immer aktiviert werde, wenn von Schwaren Menschen, PoC oder weißen Menschen die Rede ist.

    Seine Position für den Beibehalt des Begriffs ‚Rasse‘ in deutschen Gesetzestexten habe er auch als vom Berliner Senat gefragter Experte deutlich gemacht, und damit das Gegenteil der Empfehlungen bspw. der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (siehe Positionspapier dazu) oder des Deutschen Instituts für Menschenrechte (siehe Stallungnahme dazu) vertreten, die für die Streichung sind. (Zuletzt scheiterte die Streichung des Begriffs im Berliner Abgeordnetenhaus im Mai 2015.)

    Der rassismuskritischen Bedeutungsaufladung des Begriffs ‚Rasse‘ steht die historische, traditionell geprägte biologistische Bedeutung des Begriffs gegenüber. Und mit dieser kann er nach wie vor als Bestätigung für die Existenz von ‚Rassen‘ angeführt werden. In diesem Sinne gab es die Nachfrage aus dem Publikum, wie denn Juristinnen davon zu überzeugen seien, dass ‚Rasse‘ im Gericht nicht mehr in der biologistischen Bedeutung (mit der der Begriff in die Gesetzestexte nach 1945 gelangte), sondern fortan ausschließlich als soziale Konstruktion, als Analyserkategorie verstanden werde. Darauf entgegnete Cengiz Barskanmaz, dass der Kampf gegen Rassismus von der Begriffsdiskussion entkoppelt werden müsse. Juristische Akteur_innen und andere Menschen, wo es nötig ist, an die Nichtexistenz von ‚Rassen‘ zu erinnern, sei grundsätzlich als eigenständige Aufgabe der Sensibilisierung und Rassismusanalyse zu verstehen.

    Cengiz Barskanmaz ist grundsätzlich für eine machtkritische Rechtsforschung, die soziale Kategorien zwar kritisch reflektiert, aber ihre hohe Relevanz in Betracht zieht. Kategorien wie ‚Rasse‘, ‚Hautfarbe‘, ‚ethnische Herkunft‘, ‚Nationalität‘, ‚Sprache‘, ‚Religion‘ oder ‚Geschlecht‘ müssten hinterfragt werden, aber sie existierten als gesellschaftlich relevante Zuschreibungsebenen, „ob wir das wollen oder nicht“. Aus ihrer sozialen Relevanz heraus haben diese Kategorien Bedeutung als juristisch zu bewertende Diskriminierungsmerkmale. Das heißt, es müsse mit ihnen juristisch gearbeitet werden, ohne ihnen essenzialisierenden Charakter zuzuschreiben. Rassismus und essenzialisierende Sichtweisen kämen zwar vor in der (deutschen) Rechtssprechung, allerdings sollte das kritisiert und dafür sensibilisiert werden, ohne die Kritik allein auf die zur Diskriminierungsdefinition notwendigen Kategorien auszurichten.
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    Mit der präsentierten Thematik setzt sich Cengiz Barskanmaz auch in diesen zwei Aufsätzen auseinander: „Rasse – Unwort des Antidiskriminierungsrechts?“, Kritische Justiz 3/2011, 382-389 [pdf], und: „Rassismus, Postkolonialismus und Recht – Zu einer deutschen Critical Race Theory?“, Kritische Justiz 3/2008, 296-302 [pdf].

    Für den nächsten Montag, 23.11.2015, hat Lann Hornscheidt abgesagt (so der Newsletter). Es steht noch nicht fest, ob eine andere Person ersatzweise vorträgt. Natasha A. Kelly wird den Vortrag zu „Rassismus, Macht und Sprache“ übernehmen (facebook-Mitteilung, und hier entlang zum Beitrag hier im Blog).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 3 — Noa Ha: „Dekoloniale Theorie und Perspektiven auf Stadt“

    Teil 3 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Vergangenen Montag (2.11.2015) sprach Noa Ha über „Dekoloniale Theorie und Perspektiven auf Stadt — Prozesse der Rassifizierung im Kontext neoliberaler Stadtproduktion“ auf der dritten Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesung zur Rassismusforschung in Deutschland an der TU Berlin.

    Diesmal war ich früher dort und konnte erstmals einen echten Sitzplatz auf einem Stuhl ergattern. Wieder saßen um die 10 Personen auf dem Fußboden, aber von der anfangs in Aussicht gestellten Raumänderung wird nach Angaben der Veranstaltenden nun doch abgesehen (ich glaube es gilt noch nicht als „zu voll“, wenn nur 10 Personen auf dem Boden sitzen müssen).

    Nun zum Inhaltlichen. Noa Ha interessiert das Verhältnis von Rassifizierung und Stadtproduktion, und somit die Frage, welchen Einfluss Rassismus und Kolonialismus auf die zeitgenössische Stadtplanung haben. Denn, wenngleich die formelle Kolonialisierung abgeschlossen sein mag, so blieben als Hinweise auf das Fortbestehen kolonialer Praxis beispielsweise die globalen Abhängigkeitsverhältnisse oder das Schweigen der vormaligen Kolonialmächte zu ihren Rollen im Kolonialismus. Die Idee von Rasse strukturiert ungebrochen die Welt im Kapitalismus, wobei die kolonialen Ordnungen heute in Form sozialer Ordnungen fortbestünden: Nach der praktischen kolonialen Phase erfolgt nun die soziale Klassifizierung von Menschen anhand der Idee von Rasse ortsunabhängig. Noa Ha bezieht sich hier auf das Konzept der Coloniality of power von Anibal Quijano und zitiert dazu aus dessen Essay „Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America“ (2000).

    Die europäische Stadt ist ein Raum der Inszenierung, in dem Plünderungen und Versklavung ausgeblendet werden, so Noa Ha. Zudem werde ‚Kolonialismus‘ als analytischer Begriff in Deutschland weitgehend gemieden, was die Auseinandersetzung mit Kolonialismus erschwere. Anknüpfungspunkte für eine kolonialismuskritische Analyse europäischer Stadtkonzepte sieht Noa Ha bei Henri Lefebvre, und insbesondere dessen „The Production of Space“ (1974): Das Verständnis von moderner Stadt als ein sozial strukturierter Raum, dessen Herausbildung konstitutiv mit der kolonialen Expansion und Planung verbunden ist, kann demnach bei der Analyse ungleicher Entwicklungen im städtischen Raum heute hilfreich sein.

    Das Humboldtforum im Zentrum Berlins dient Noa Ha als Beispiel für die Kontinuität europäischer Stadtplanung bis ins 21. Jahrundert: Im Inneren eines Schlosses, also eines die Monarchie repräsentierenden Gebäudes, wird europäische Kunst als Hochkultur ausgestellt. Die Museumstradition des 19. Jahrunderts — Erforschen, Kartieren, Archivieren — werde damit ununterbrochen weitergeführt, und so ästhetisch an bürgerliche, wilhelminische, klassizistische Stile und die „Gründerzeit“ angeknüpft. Noa Ha weist darauf hin, dass dieses Schloss, als Teil eines auf „das alte Berlin“, „die historische Mitte“ ausgerichteten Planwerks, keine 500 Meter entfernt von dem Ort steht, an dem 1884/85 die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den Kolonialmächten im Rahmen einer „Konferenz“ verabredet worden war. Die historische Kontinuität bleibt auch augenscheinlich, wenn im Humboldtforum die außereuropäischen Anderen „im Dialog“ mit der europäischen Hochkultur Platz finden sollen. Es handelt sich um einen Machtraum, der koloniale Logiken reproduziert. Als Beispiel für Kritik daran nennt Noa Ha die Initiative „No Humboldt 21„. Und als ein Beispiel eines punktuell zu beobachtenden kritisch-reflektierten stadtpolitischen Entwicklungsansatzes in Berlin führt Noa Ha die Umbenennung des Gröbenufers in May-Ayim-Ufer (nach der Schwarzen deutschen Wissenschaftlerin May Ayim) an.

    Am Beispiel London — konkret an der öffentlichen und medialen Rezeption der „Riots“ 2011 — illustriert Noa Ha die soziale Ordnung der europäischen Stadt: Indem vornehmlich von „Ausschreitungen“ die Rede ist, wird der Kontext von Diskrminierungs- und Ausgrenzungsprozessen ausgeblendet und so bspw. die Verschärfung polizeilicher Befugnisse wie „Stop And Search“ (vgl. Criminal Justice and Public Order Act 1994, Changes: Section 60), die zu einem enormen Anstieg bei Durchsuchungen von Schwarzen Menschen führte, ignoriert. Das Beispiel zeige die unterschiedliche Behandlung sozialer Gruppen in einer Stadt nach rassistischen Kriterien und müsse bei der Frage Beachtung finden, welche Menschen von Verdrängung bedroht oder bei städtischen Veränderungen nicht mitgedacht würden.

    Es gelte, die Repräsentation von Stadt als koloniales und kolonisierendes Projekt zu begreifen, dessen Dekolonisierung notwendig sei.
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    Weiterführend: Zu dem Thema erschien ein Aufsatz von Noa Ha, in dem als Beispiel auch der Protest geflüchteter Menschen in Berlin angeführt wird, in der Zeitschrift sub\urban, Bd.2, Heft 1 (2014): Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ‚Contact Zone‘.

    Am nächsten Montag (9.11.2015) entfällt referiert Anette Dietrich über „Kritisches Weißsein“ (wie gehabt 16 Uhr in der UB der TU Berlin, hier die Ankündigung auf facebook.)
    Am Montag darauf (16.11.2015) spricht Cengiz Barskanmaz über „Rassismus, Macht und Recht“, Beitrag hier im Blog.

    ++++ Am Mittwoch, 25.11.2015, präsentiert Noa Ha mit Studierenden der TU Berlin in Kooperation mit Postkolonial e.V. und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, das Projekt „Berlin als postkoloniale Stadt kartieren“ (Veranstaltung ursprünglich im August Bebel Institut geplant und nun verlegt, siehe facebook-Ankündigung). ++++

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 2 — Urmila Goel: „Verflochtene Machtverhältnisse“

    Teil 2 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Am Montag den 26.10.2015 sprach Urmila Goel im Rahmen der Ringvorlesung zur Rassismusforschung in Deutschland. Der Referatstitel lautete „Verflochtene Machtverhältnisse — Forschungsperspektive Intersektionalität“.

    Die Veranstaltung war wieder sehr gut besucht, diesmal hatte ich etwas mehr Beinfreiheit an meinem Platz am Boden und habe neben schriftlichen Aufzeichnungen auch Notizen bei Twitter hinterlassen. Nachfolgend gibt es wieder eine kurze Zusammenfassung des Vortrags.

    Urmila Goel beginnt sehr grundlegend, erklärt den zentralen Begriff Intersektionalität: Isolierte Betrachtungen einzelner Kategorisiergungen (wie ethnicity/race, gender, ability, class …) stellten sich als unzureichend für die Analyse von Machtverhältnissen heraus. Diese Erkenntnis führte zum Ansatz der Intersektionalität (Kimberlé Crenshaw, Floya Anthias), der Verflechtungen und Überschneidungen bei der Wirkung der Kategorien in die Analyse einbezieht. Im deutschsprachigen Kontext sieht Urmila Goel Schwarze deutsche Frauen mit ihrer Bewegung als die Ersten, die in den 80er Jahren intersektional sensibilisiert arbeiteten.

    Urmila Goel betont, dass es gelte, die Spezifik der einzelnen machtvollen Kategorisierungen zu beachten, auch, wenn sie verflochten wirken. So etwa sind Schwarze Frauen als Schwarze Menschen durch rassistische Machtverhältnisse und als Frauen durch sexistische Machtverhältnisse gleichsam diskriminiert. Der intersektionale Ansatz versucht — unter Beachtung der jeweiligen Spezifik — keines der wirkenden Machtverhältnisse auszublenden, ihre Verflechtung wahrzunehmen, und der daraus entstehenden Wirkmacht gerecht zu werden.

    Die Kategorien bzw. Kategorisierungen dienen zwar der Analyse, allerdings seien die für diese Kategorisierungen verantwortlichen Machtverhältnisse das zentral zu untersuchende Problem: Die Machtverhältnisse, die sich etwa in Zugängen zu Rechten und Ressourcen ausdrücken, bedingen die Definitionen dessen, was als normal und zugehörig gilt, gesellschaftlich anerkannt ist, und was nicht. Die Komponente Macht ermöglicht überhaupt erst das Wirksamwerden der Kategorien, die unhinterfragt in der Akzeptanz herrschender Normen internalisiert werden. (hier nennt Urmila Goel auch Birgit Rommelspachers Verständnis von Dominanzkultur, in dem sie einen intersektionalen Ansatz erkennt, ohne dass Rommelspacher den Begriff Intersektionalität explizit verwendete). Zugang zu Ressourcen und Recht bedeutet demnach die Möglichkeit machtvoller Einflussnahme auf die herrschenden Normen, sowie auf die machtvoll ordnenden Kategorisierungen (siehe hierzu auch die Leseempfehlung ganz unten).

    Die Hierarchisierung verschiedener Diskriminierungsmechanismen lehnt Urmila Goel ab. Auf die Frage aus dem Publikum, wie sie denn die von Kristina Schröder einst angeführte Äußerung zum „Rassismus gegen Deutsche“ einordnen würde, antwortet Goel, hier könne vielleicht von kontextbezogener Diskriminierung die Rede sein (Kontext Schulhof oder Klassenzimmer), allerdings nicht von einer machtvollen Diskriminierung im Sinne von Rassismus, für den eben der Zugang zu gesellschaftlichen Machtinstrumenten wie Lehrplan, Noten, Schulsystem, Gesetzen etc. notwendig sei. Genau solche Instrumente zur gesellschaftlichen Einflussnahme gelte es bei der Betrachtung verflochtener Machtverhältnisse zu untersuchen, und diese Einflussmöglichkeiten liegen beim sogenannten „Rassismus gegen Deutsche“ nicht vor. (Eigene Anmerkung: Der sich dann folglich auch nicht als Rassismus einordnen lässt.) Urmila Goel sagt aber auch, dass „verflochtene Rassismen“ je nach Kontext, Zeit und Ort unterschiedlich wirken können, je nachdem, nach welchen Kategorien in dem jeweiligen Kontext „Andere“ konstruiert werden. So könnten Menschen, die in einem gesellschaftlichen Kontext bspw. von antislawischem oder antijüdischem Rassismus betroffen sind, in einem anderen Kontext selbst rassistisch gegenüber Schwarzen Menschen sein. Urmila Goel sieht hier unterschiedliche Positionierungen innerhalb unterschiedlicher Rassismen gegeben.

    Urmila Goel trägt abschließend zusammen: Intersektionalität ermögliche

  • die Analyse von Ausblendungen (sonst nicht beachteter sozialer Verortungen, die Machtverhältnisse verstärken),
  • die Analyse von Ambilvalenzen (z.B. wenn Marginalisierungen und Privilegierungen zusammenkommen oder wenn es zum Kampf unter Marginalisierten kommt, wie etwa in antimuslimischen Feminismen).
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    Die Vortragsfolien von Urmila Goel wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte weitergeschickt und können sicherlich bei der TU Berlin hier angefragt werden.

    Weiterführende Leseempfehlung: Eine verständliche Darstellung der praktischen Ausschlüsse und der Verwehrung von Rechten, die mittels Fehlanalysen oder analytischen Ausblendungen (wie dem Verzicht auf eine intersektionale Perspektive) erreicht werden, bietet dieser Text.

    Am kommenden Montag (02.11.2015, 16:00) spricht Noa Ha über „Dekoloniale Theorie und Perspektiven auf Stadt“ (wieder in der UB der TU, Fasanenstr.88, facebook-Ankündigung, Beitrag hier im Blog).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 1 — Nora Räthzel: „Geschichte der Rassismusforschung in Deutschland“

    Teil 1 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Am Montag (19.10.) war der Auftakt der Ringvorlesung zum Thema Rassismusforschung in Deutschland, für den Nora Räthzel (Inst. für Soziologie, Schweden) mit dem Beitrag Geschichte der Rassismusforschung in Deutschland (mit Ausflügen in anglophone Räume): Begriffe, Erklärungen, Methoden, Perspektiven angekündigt war. Die Referentin konnte krankheitsbedingt nicht anreisen. Da die TU Berlin die Veranstaltung nicht ausfallen lassen wollte, hielt Felix Axster (Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin) den Vortrag von Nora Räthzel, mit ihrem Einverständnis, auf der Grundlage der von ihr zugesandten Unterlagen und Power-Point-Präsentation.

    Die Veranstaltung war sehr gut besucht. Ich saß am Boden und konnte mit Mühe einige Notizen machen. Nachfolgend versuche ich eine knappe Zusammenfassung von Nora Räthzels Vortrag zu geben. An einigen Stellen kommentiere ich auch.

    Nora Räthzel (publizierte übrigens 1986 gemeinsam mit Annita Kalpaka Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein) beginnt ihren historischen Abriss mit der Bedeutung von Sprache und identifiziert Begriffe wie „Ausländer“ zur Bezeichnung eingewanderter Menschen als Teil des Problems Rassismus. Seit dem Auffliegen des NSU erkennt sie eine häufigere Verwendung dieses bereits in den Hintergrund gerückten Begriffs in der deutschen Medienberichterstattung. Auch den Begriff „Integration“ kritisiert sie.

    Sie veranschaulicht Externalisierungs- und Vermeidungsstrategien, mit denen das Thema Rassismus in Deutschland geleugnet wurde und wird: Antisemitismus diene primär als historisches Untersuchungsobjekt, Kolonialismus werde oft als Problem zwischen Weißen und Kolonisierten in afrikanischen Ländern dargestellt und Rechtsextremismus gelte als soziales (Rand-)Phänomen. Somit efolge eine erfolgreiche — zeitliche wie geografische — Verdrängung von Rassismus aus dem Kontext des zeitgenössischen Deutschlands.

    Sie betrachtet dann verschiedene Erscheinungsformen von Rassismus mit den unterschiedlichen, daraus folgenden, Analyseansätzen, und nennt hier beispielsweise biologischen Rassismus, Kulturrassismus (Martin Barker, Stuart Hall), Alltagsrassismus (Stichwort Dominanzkultur von Birgit Rommelspacher, hier geht sie aber auch auf ihr sozialpsychologisches Erklärungsmodell der „rebellierenden Selbstunterwerfung“ ein), sowie auch Weißsein (ich glaube es waren noch ein oder zwei Begriffe mehr dabei, die bekomme ich nicht mehr zusammen). Zum Weißsein zitiert sie Susann Arndt sowie eine zweite Person, ich glaube Grada Kilomba, aber ich bin nicht ganz sicher. Sie kritisiert Critical Whiteness (CW) bzw. den Weißseins-Begriff, da dieser auf einen Gegensatz von Schwarz-Weiß ausgerichtet sei. Diese Gefahr der möglichen Essentialisierung (und andere Schwachstellen kritischer Weißseinsforschung im deutschen Kontext) sind allerdings schon länger Teil von Auseinandersetzungen über CW, in denen trotzdem deren analytische Vorteile zur Sprache kommen (als online-Eindrücke z.B. hier oder da). Nora Räthzel nennt keine.

    Nach dem Abschnitt zur Critical Whiteness kommt sie auf die Bedeutung regionaler Kontexte für unterschiedliche Rassismen zu sprechen. Dabei fallen mehrere rassistische Begriffe, aber nicht als Gegenstand der Analyse, sondern als unkommentierter Bestandteil des Referats, ohne weiter eingeordnet oder problematisiert zu werden: So spricht Nora Räthzel von „Schwarzafrika“ (Problematisierung z.B. hier), dann wird zwei Mal der rassistische Begriff für native amaricans genannt und außerdem Wolf Biermann mit einem gut gemeinten Satz wörtlich zitiert, in dem der die rassistische Fremdbezeichnung für Sinti und Roma verwendet. Solche Begriffe in einer wissenschaftlichen Veranstaltung über Rassismus(forschung) ohne Einordnung und Problematisierung stehen zu lassen, ist unpassend.

    Bei der Formulierung einer Perspektive für die Zukunft der Rassismusforschung würde sie vorsichtig bleiben, da sie sich in der deutschen Forschungslandschaft, wortwörtlich, „nicht mehr auskenne“. Das erscheint mir als sehr ehrlicher Hinweis. Denn zweifellos ist die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Forschungsstand für einen historischen Abriss vorteilhaft, etwa um zeitgenössische rassismustheoretische Entwicklungen einordnen und bewerten zu können.

    Sie kommt erneut darauf zu sprechen, dass Macht und Privileg nichts statisches, sondern orts-/ situationsabhängig Variierendes seien (Foucault, These der zirkulierenden Macht). Demgegenüber zeige etwa die Aussage, Schwarze könnten nicht rassistisch sein, ein deterministisches und statisches Verständnis von Rassismus. Und eine Analyse eines solchen als statisch vorgestellten Gegensatzpaares — Dominanz- versus unterdrückter Gruppe — sei ungeeignet, um die Mikroverhältnisse zu erfassen, in denen Rassismus ebenfalls sichtbar werde.

    Abschließend merkt sie an, dass sie Schreibweisen wie Groß/klein oder kursiv/nicht-kursiv ablehne, denn die Vorstellung, solche Maßnahmen würden eine Veränderung der Verhältnisse bedeuten, hält sie für illusorisch. Mit ihrer einleitenden Betonung der Bedeutung von Sprache und Begrifflichkeiten für die (Be_Schreibung von) Realität steht diese abschließende Bemerkung im Widerspruch.

    Eine Diskussion fand nicht statt, da die Referentin, wie gesagt, persönlich nicht anwesend war. Eine Wortmeldung gab es dennoch: Es wurde darum gebeten, doch eine Form zu finden, in der mit Bezug zu dem Referat diskutiert werden könne, da dieses sehr viel Kritikwürdige enthalten habe.
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    Nachtrag: Der nächste Vortrag ist Montag, 26.10.2015, 16:00 (wieder in der UB der TU, Fasanenstr.88), da spricht Urmila Goel über „Verflochtene Machtverhältnisse“. (Ankündigung auf Facebook, Beitrag hier im Blog.)

    Nachtrag 2: Vortragsfolien und Skript von Nora Räthzel wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte weitergeschickt und können sicherlich bei der TU Berlin hier angefragt werden.