Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 6 — Astrid Messerschmidt: „Rassismuskritische Bildung als machtreflexiver pädagogischer Ansatz“

Teil 6 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

In einem wieder voller werdenden Hörsaal (mit mindestens 10 am Boden sitzenden Gästen) sprach Astrid Messerschmidt am letzten Montag, 30.11.2015, im Rahmen der TU-Ringvorlesung Rassismusforschung über Rassismuskritik aus bildungswissenschaftlicher Perspektive. Nachfolgend gibt es wieder eine Zusammenfassung.

Mit dem Begriff der bundesdeutschen Migrationsgesellschaft beschreibt Astrid Messerschmidt alle in Deutschland lebenden Menschen, auch die ohne jüngere Familienmigrationsgeschichte, wobei die BRD und Vorgängerstaaten nicht erst seit gestern, sondern schon lange vor dem II.WK Migrationsgesellschaft gewesen seien. Die migrationsgesellschaftliche Bildung und Forschung kann laut Astrid Messerschmidt nur vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Nationalsozialismus stattfinden. Hier kommt die Wirkung machtvoller Institutionen wie der Schule ins Spiel: Diese seien beim Thema Rassismus momentan eher nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Denn wie solle (vor genanntem Hintergrund) in einer Gesellschaft mit derart viel übermitteltem rassistischen Wissen ausgerechnet eine bewahrende Institution wie die Schule frei von diesem Wissen sein? Der Rassismus an Schulen sei nicht intendiert, aber würde sich in Handlungs- und Denkmustern fortschreiben. Das Projekt „Schule ohne Rassismus“ trage — trotz gutgemeinter Intention — einen falschen Titel und müsse eigentlich „Schule mit Rassismus“ heißen, als Zeichen, dass der Status Quo anerkannt wird, um einen realistischen Ausgangspunkt für Strategien gegen Rassismus zu beschreiben. In der aktuellen Form bestünde bei dem Projekt die Gefahr, dass es bereits an einer adäquaten Analyse scheitert. Astrid Messerschmidt betont mehrmals die notwendige Unterscheidung zwischen programmatchem Staatsrassismus und demokratischem Alltagsrassismus, wobei ersterer mit einer staatspolitisch getragenen, offenen Agenda rassistischer Verfolgung einhergehe und zweiter in demokratischen Institutionen im Alltag seine Wirkmacht entfalte, ohne offen intendiert zu sein. Für die aktuelle Situation in Deutschland sei nicht von einem Staatsrassismus, sondern von einem demokratischen Alltagsrassismus auszugehen. Die Auseinandersetzung mit letzterem bedeute, Institutionen wie Schule oder Polizei als Teil des Problems zu erkennen und Pädagog_innen sowie Akteur_innen in machtvollen Bildungseinrichtungen für Rassismus zu sensibilisieren, dem sie nicht mit offener Intention folgten.

Zum zeitgeschichtlichen Kontext erläutert Astrid Messerschmidt die Konstruktion des Gegensatzes zwischen Europa und Nichteuropa, die mit der Erfindung von Menschenrassen einherging und als (wissenschaftliche) Legitimation zur Abwertung und schließlich Kolonisierung von außerhalb Europas lebenden Menschen führte. In Anlehnung an den Begriff der Postkolonialität spricht Astrid Messerschmidt von der deutschen als postnationalsozialistischer Gesellschaft, um die ebenfalls in die Gegenwart reichende Wirkung der NS-Zeit begrifflich zu fassen. Kolonialismus und Nationalsozialismus seien vorbei, aber nicht vergangen — bis heute wirken die Idee und das Bild einer herkunftsbezogenen Gemeinschaft in Deutschland nach. Ein Unterschied wäre, dass im Kolonialrassismus eine unterlegene Gegnerschaft konstruiert wurde und das Gegenbild im Antisemitismus ein überlegenes gewesen sei. Übereinstimmend und bis heute aktiv sei die Idee der guten und reinen deutschen Gesellschaft. Zudem existiere der „Wunsch, unschuldig zu sein“ (Christian Schneider 2010). Im Zusammenhang mit der Vermeidung, die nationalsozialistischen Taten im Zusammenhang mit der eigenen (Familien)Geschichte anzuerkennen und zu begreifen („Distanzbedürfnis“), existiere auch das Bedürfnis in der Gegenwart Rassismus nur bei den ‚Anderen‘ zu sehen, etwa bei extrem Rechten oder in der (Nazi-)Vergangenheit. Folglich erscheine Rassismus als Randerscheinung in der Gesellschaft und in der Geschichte, also als Ausnahme.

Mit dem Ansatz der Mehrfachzugehörigkeiten in der Migrationspädagogik (und dem Abschied vom Konzept der Interkulturalität) sollen gleiche Rechte und gleiche Zugänge zu Ressourcen im Alltag in den Fokus rücken und Kritik an der dauerhaften othering-Markierung ‚Migrationshintergrund‘ geübt werden. Als Leitgedanke diene die von Theodor W. Adorno (1951) formulierte Vorstellung „ohne Angst verschieden sein“ zu können. Statt die Kategorien Kultur, Nation, Sprache, Religion als Fremdmacher zu reproduzieren, diene Paul Mecherils Konzept der natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeit als Orientierung, mit dem das Entweder-Oder der Abstammungslogik aufgegeben wird.

Für die Machtanalyse im Zusammenhang mit Bildung müsse das eigene Involviertsein in gesellschaftlich hegemonial gewordene Wertvorstellungen und Alltagsrassismus kritisch hinterfragt werden. Hierfür eigne sich der horizontale Machtbegriff Foucaults/Deleuzes, der den machtintegrierenden und -normalisierenden Anspruch von Institutionen wie Kliniken, Gefängnissen oder eben Schulen einbezieht.

Bildungsräume seien Machträume, die es zu analysieren gelte. Im Studium herrschen Leistungsvorstellungen und erfolgen Bewertungen, was im Gegensatz zum Verständnis akademischer Diskursivität stehe, das von freiem, konstruktiven Austausch ausgeht. Zudem sei die Universität von Repräsentationsverhältnissen nach gesellschaftlichen Mustern geprägt, die sich darauf auswirken, wer Zugang zur Uni hat und wer nicht, und innerhalb derer sich Alltagsrassismus reproduziert. Ähnlich an Schulen: Die Reproduktion von Ungleichheit im deutschen Schulsystem war bereits 2006 Gegenstand eines UN-Berichts (pdf, DE, dazu auch wikipedia). In der Schule, die als machtvolle Instanz sozialer Platzanweisung zu verstehen sei, würden Ausgrenzungs- und Ungleichwertigkeitsvorstellungen normalisiert und dabei nicht thematisiert. Zudem erfolge durch die Adressierung der Eltern eine Übertragung der Bildungsverantwortung und eine Reproduktion der Klassenverhältnisse. Ein Bewusstsein für die Schule in der Migrationsgesellschaft sei nocht nicht ausreichend entwickelt.

Für das rassismuskritische Studieren sei neben Kenntnissen über die historischen Hintergründe insbesondere Selbstkritik notwendig. Statt moralisierend über Rassismus zu sprechen fordert Astrid Messerschmidt die Entwicklung eines Bewusstseins, wie Studierende und Akteur_innen selbst in hegemonialen und rassistischen Strukturen verwickelt sind. Menschen, die einverstanden mit den Verhältnissen sind, seien auch mit der skizzierten Form der Bildungsarbeit nicht erreichbar.

Astrid Messerschmidt weist auf den von ihr mit initiierten Aufruf für solidarische Bildung hin, in dem eine über die „Integration von Migrant_innen“ hinausreichende Revision von Bildungseinrichtungen gefordert wird.

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Die Vortragsfolien von Astrid Messerschmidt wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte per E-Mail gesndet und können sicherlich @ TU Berlin angefragt werden.

Für Montag den 7.12.2015 ist Kien Nghi Ha angekündigt mit dem Vortragstitel „Rassismus, Macht und Wissen(schaft)“ (facebook-Ankündigung, zu meinem Blogeintrag hier entlang).