Im Mai 2012 erschien ein neuer Spiegel-TV-Beitrag zum Thema Migration in Berlin. Darin geht es um einen „lukrativen Trick mit der Gewerbeanmeldung“ (spiegel.de), durch den insbesondere Roma aus Bulgarien und Rumänien ins „Paradies Neukölln“ (spiegel.tv) gelangen würden. Die Botschaft ist eindeutig: Mit einem „Trick“ würden sich diese Menschen Zugang zu deutschen Sozialleistungen verschaffen. (Zufällig ist der Autor Hendrik Vöhringer derselbe wie von diesem Spiegel-TV-Beitrag 2011, meine Kritik dazu dort). Der neue Beitrag wird in der Beschreibung auf spiegel.de als „wertfreie Faktenanalyse“ angepriesen. Wesentliche Fakten habe ich mir darum mal genauer angesehen:
1: Der „Trick“
In der ersten Minute wird das Spiegel-TV-Publikum aus dem Off informiert:
„Viele Roma-Familien zieht es nach Berlin Neukölln. Eigentlich dürfen sie nach EU-Gesetzen nur drei Monate als Touristen hier sein, doch es gibt einen Trick: Wer ein Gewerbe anmeldet, darf unbefristet bleiben und hat Anspruch auf Sozialleistungen.“ [SpTV-Beitrag 0:47]
Die Formulierung ist missverständlich, denn es gibt keine Aufenthaltsgesetze, die sich speziell auf Roma beziehen. Außerdem ist es nicht verboten, sich spontan für eine legale Wohnsitznahme in einem EU-Land zu entschließen, denn EU-Staatsangehörige müssen sich nicht im Vorfeld festlegen, ob sie aus touristischen Gründen, zur Existenzgründung oder für ein Gaststudium ein EU-Land bereisen. Richtig ist: Für bulgarische und rumänische Staatsangehörige gelten bis 31.12.2013 aufgrund der vom deutschen Bundestag beschlossenen Einschränkung des Freizügigkeitsgesetzes hohe Hürden bei der Suche nach einem Arbeitsplatz in Deutschland. Nicht betroffen von dieser Einschränkung sind selbständige Berufe, das heißt die Anmeldung eines Gewerbes in Deutschland ist für Staatsangehörige Rumäniens und Bulgariens gesetzlich problemlos möglich. Darum führt die Ausländerbehörde Berlin auf ihrer Homepage aus, dass sich die Beschränkungen für bulgarische und rumänische Staatsangehörige auf eine „unselbstständige Erwerbstätigkeit (Beschäftigung)“ beziehen. Und auch die Stadt Hamburg informiert über die Rechte rumänischer und bulgarischer Staatsangehöriger verständlich:
„Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit ist nur abhängig von den üblichen auch für Deutsche geltenden gewerbe- und steuerrechtlichen Vorschriften und einer eventuell erforderlichen Zulassung zur Berufsausübung (z.B. bei Ärzten).“
In der „wertfreien Faktenanalyse“ von Spiegel TV wird es als „Trick“ bezeichnet, wenn Menschen in Deutschland ihr Recht auf Gewerbeanmeldung (das in behördlichen Online-Portalen nachlesbar ist) nutzen und damit folgerichtig gesetzlichen Anspruch auf eine Sozialleistung wie Kindergeld erhalten.
2: Die Anzahl der Gewerbeanmeldungen
Aus dem 2. Neuköllner Roma-Statusbericht (2012) zitiert Spiegel TV, „dass 1377 bulgarische und 1034 rumänische Personen ein Gewerbe in Neukölln angemeldet haben“. Das ist der Status Quo von März 2012, aber sind diese Zahlen besonders hoch? In Berlin melden mehrere Tausend Menschen im Jahr ohne deutsche Staatsbürgerschaft Gewerbe an, so zumindest heißt es für 2009 in einer Informationsbroschüre vom BildungsWerk in Kreuzberg (2011):
„Insgesamt wurden im Jahr 2009 von ausländischen Mitbürgern über 9.394 Gewerbe neu errichtet, was einem Anteil von 33% an allen Berliner Firmengründungen entspricht.“ (BWK-Broschüre „Erfolgreich Gründen in Berlin“, S.6)
Damit sind insgesamt 2400 von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen betriebene Gewerbe in einem bevölkerungsstarken Bezirk wie Neukölln eher kein Skandal. Und wenn laut der BWK-Broschüre die Zahl der Neugründungen durch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft bereits seit den 80er Jahren stetig wächst, dann sind diese Zahlen sogar einfach Ausdruck einer über 40 Jahre alten Entwicklung. Nein, Moment:
„Inzwischen bilden sich in einigen Ecken Neuköllns wahre Gewerbe-Ghettos, in der ***Str. sind 61 Firmen angemeldet. In der ***Str. zu Spitzenzeiten sogar 91. Und allein in diesem Haus in der ***Str. gibt es 73 Gewerbe auf engstem Raum“ [SpTV-Beitrag 1:26]
„Ghettos“, aha. Für Berlin, die „Gründermetropole Nr.1 in Deutschland“ (Gründerindex 2012 der Bürgschaftsbank Berlin), sind unter 100 Gewerbe pro Straße völlig gängig, wenn nicht sogar wenig: Im Online-Auftritt der Berliner Gewerbedatenauskunft lassen sich angemeldete Gewerbe für alle Berliner Straßen anzeigen und, ob in Steglitz oder Prenzlauer Berg, Neukölln oder Marzahn, es gibt selten unter 100 und oft bis zu 500 angemeldete Gewerbe pro Straße.
Ein Stempel mit regisitrierter Gewerbe-Anzahl und Herkunft, Quelle: Spiegel TV
Erst die Kombination der Zahlen mit der bulgarischen und rumänischen Nationalflagge verdeutlicht ein zentrales Anliegen des Beitrags: Die Herkunft der gewerbemeldenden Menschen. Die Einblendung eines Stempels mit den Symbolen der Herkunftsländer zur Markierung der Berliner „Gewerbe-Ghettos“ treibt die „wertfreie Faktenanalyse“ voran.
3: Der deutsche Sozialstaat
Mehrmals geht es um den Anspruch auf Kindergeld:
„Die neuen Selbständigen sind meist im Abriss- und Baugewerbe tätig. Die Bezahlung ist schlecht – wie gut, dass es noch Kindergeld vom deutschen Staat gibt.“ [SpTV-Beitrag 1:45]
„Doch es gibt Trost. Die Familie hat inzwischen die Unterlagen für das Kindergeld zusammen. Der deutsche Sozialstaat hilft da gerne.“ [SpTV-Beitrag 8:22]
Mit Ironie wird der gesetzlich zugesicherte Anspruch von gewerbetreibenden Menschen auf Kindergeld kommentiert, als würde etwas damit nicht stimmen. In diesem Sinne hat auch der Immobilienmakler Lutz Thinius „inzwischen Zweifel am System“ (SpTV-Beitrag 5:47). Dieser Mann, der sich laut Spiegel TV „um zahlreiche Roma-Familien kümmert“ (ebd.), schätzt die Situation von Roma in Berlin so ein: „Die ham’s sehr leicht“ (SpTV-Beitrag 5:57). Nur warum muss er sich dann um sie „kümmern“? Mögliche Hinweise gibt ein stern.de-Artikel von Juni 2011 über die Immobilien-Geschäfte von Thinius. (Über Hintergründe von Berliner Immobilienaktivitäten im Zusammenhang mit Notlagen bulgarischer und rumänischer Staatsangehöriger berichtete vor wenigen Tagen auch das Magazin Frontal21.) Wie ein Teil der Berliner Immobilienbranche von der Situation der Roma profitiert, darüber sagt Spiegel TV nichts, aber über den Sozialstaat darf ein Immobilienmakler in die Kamera plaudern. Und das, wo inzwischen aktuelle Forschungsergebnisse über die Zusammenhänge von Sozialleistungen und Migration vorliegen, die das populistische Vorurteil einer kausalen Verbindung blass aussehen lassen.
Fazit
Die Inanspruchnahme von geltendem Recht zur Gewerbeanmeldung in Deutschland durch bulgarische und rumänische Staatsangehörige, unter ihnen Roma, bezeichnet Spiegel TV als „Trick“. Vergleichsweise gewöhnliche Berliner Gewerbe-Zahlen werden nach Herkunft sortiert und mit Nationalkolorit-Stempeln als „Gewerbe-Ghettos“ beweisartig präsentiert. Der rechtmäßige Zugang zu Sozialleistungen wie Kindergeld wird ironisch kommentiert und ein Immobilienmakler darf mit seinen Einschätzungen das Zerrbild vom „Paradies Neukölln“ flankieren. Das ist keine Informationsvermittlung, sondern einseitige Stimmungsmache gegen soziale Grundrechte. Denn Fakten, die dem rassistischen Narrativ der „Zuwanderung in den Sozialstaat“ widersprechen, werden in dem Spiegel-TV-Beitrag genau so ignoriert, wie die profitablen Geschäfte, die einige Berliner Immoblilienbüros auf Kosten von Roma aus Rumänien und Bulgarien treiben. Was Spiegel TV hier als „wertfreie Faktenanalyse“ anbietet, verdient eher das Label „astreiner Populismus“.