Abschiebung in der Willkommensklasse

[Im folgenden Text ist mehrfach von gewaltvoller staatlicher Repression gegen Non-Citizens / Menschen ohne anerkannten Aufenthaltsstatus die Rede.]

Kinder werden von der Polizei aus der Willkommensklasse* geholt und abgeschoben. An Grundschulen in Berlin passiert so etwas immer wieder, die betroffenen Schüler_innen sind zum Teil erst sieben Jahre alt. Verantwortlich für die Durchführung der Abschiebungen in Berlin ist Innensenator Frank Henkel (CDU), und gegen den richtet sich nun ein „Protest“ von Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) und Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD): Laut Presseberichten äußerten beide auf dem SPD-Sommerfest letzten Freitag (11.9.15) ihren Unmut über die konkrete Praxis, Kinder aus dem laufenden Unterricht zur Abschiebung zu holen.

Ich halte das für eine PR-Aktion. Für einen Versuch, sich mit Pseudo-Kritik in Abgrenzung zur CDU zu inszenieren, wo eigentlich Übereinstimmung herrscht.

Müller wird mit den Worten zitiert, die Praxis des Abschiebens direkt aus dem Klassenzimmer sei „pädagogisch eine Katastrophe“ (rbb, tagesspiegel). Er kritisiert nicht grundsätzlich die Abschiebung von Kindern, sondern nur in Verbindung mit dem Schulbesuch. Ihm geht es um die pädagogische Wirkung auf diejenigen Schüler_innen, die der Abschiebung im Klassenzimmer / in der Schule als nicht Betroffene beiwohnen, diese mit ansehen. Müller will es offenbar vermeiden, dass Kinder hilflos zuzuschauen müssen, wenn Menschen gewaltvoll gegen ihren Willen von deutschen Polizeibeamt_innen in ein anderes Land verfrachtet werden. Er will aber nicht die gewaltvolle Abschiebepraxis ändern, sondern die Sichtbarkeit dieser Praxis einschränken. Vielleicht merkt Herr Müller wie zynisch es ist, wenn er nicht die Abschiebungen von Menschen an sich ablehnt, sondern ihren Anblick für unpädagogisch hält.

Schulsenatorin Scheeres fürchte um das „Vertrauen in die Institution Schule“ (tagesspiegel), sei doch die Schule ein „geschützter Raum“ (Berliner Zeitung). Schule ist überhaupt kein geschützter Raum, augenscheinlich erst recht nicht in Bezug auf Abschiebungen. Solche gewaltvollen Vorgänge, die die Innenbehörde hier umsetzt, sind gesetzlich legitimiert und völlig im Einklang mit dem Rechtsstaat. Davor gibt es keinen Schutz, schon gar nicht in der „Institution Schule“, die als staatliche Einrichtung Teil der staatlichen Herrschaftsstrukturen ist. Schulleitung und Lehrer_innen greifen üblicherweise nicht in eine Abschiebung ein. Es ist Augenwischerei, mit „geschütztem Raum“ zu argumentieren, wo keiner ist. Das Gegenteil ist der Fall: die Kinder sind den Abschiebungen in der Schule ausgeliefert.

Um ja nicht falsch verstanden zu werden, stellt der Berliner Bürgermeister klar:

„Es ist richtig, dass Menschen, die hier keine Perspektive haben, abgeschoben werden“, sagte Müller auf dem Sommerfest der SPD am Freitag. Er habe auch nichts dagegen, dass Innensenator Frank Henkel (CDU) mal ein Exempel statuiere. „Aber es ist inakzeptabel, dass Kinder aus den Willkommensklassen geholt werden.“

Scheeres und Müller haben kein Problem damit, dass abgeschoben wird, sondern nur damit, wie dies geschieht. Vielleicht haben sie bis zum nächsten SPD-Sommerfest konstruktive Ideen, wie Abschiebungen pädagogisch wertvoller gestaltet werden können.

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* Eine Willkommensklasse ist eine Gruppe von Schüler_innen, die von Schulleitungen parallel zum allgemeinen Klassenbetrieb eingerichtet wird, um dort in einem gesonderten, vom Lehrplan unabhängigen Unterricht die Vermittlung der deutschen Sprache in den Mittelpunkt zu stellen. Die Lehrkräfte der üblichen Klassen sollen nämlich nicht mit der Vermittlung von Sprachkenntnissen noch stärker als ohnehin belastet werden, so eine gängige Argumentation. Obwohl es sich de facto um segregierte Klassen handelt, werden die Willkommensklassen in der Öffentlichkeit oft unkritisch als Erfolgsmodell gefeiert.

Kritik aus Berliner SPD: Buschkowsky spielt mit Ressentiments und Rassismen

Heinz Buschkowsky (SPD, Bürgermeister von Berlin-Neukölln) ist jetzt Buchautor. Der deutsche Lokal-Politiker erntet mit der Publikation seiner ersten Textpassagen nicht nur Jubel. Buschkowsky schüre Angst vor Neukölln, dabei brauche er sich vor seinem Bezirk eigentlich nicht zu fürchten, versichert ihm ein Neukölln-Survivor.

Die Lektüre sorgt auch in den Reihen der Berliner SPD für unmissverständliche Kritik: Buschkowsky gebe darin gern gehörte populistische Antworten und lasse Ursachenforschung außer Acht, schreibt Orkan Özdemir (SPD, Vorsitzender der SPD AG Migration und Vielfalt Tempelhof-Schöneberg). Ich finde die Kritik auf den Punkt gebracht und darf sie mit freundlicher Genehmigung von Orkan Özdemir hier veröffentlichen:

Persönliche Stellungnahme von Orkan Özdemir:

Orkan Özdemir, Vorsitzender der SPD AG Migration und Vielfalt Tempelhof- Schöneberg, äußert sich zu den ersten Auszügen aus dem Buch „Neukölln ist überall“ (Bild.de, 17.09.2012) von Heinz Buschkowsky wie folgt:

„Heinz Buschkowsky ist bekannt für seine kontroversen Äußerungen, wenn es um Integrationspolitik geht. Das hat er nicht zuletzt während der Sarrazin-Debatte in ,das wird man doch wohl noch sagen dürfen‘-Manier unter Beweis gestellt. Auch meine GenossInnen und ich aus der SPD AG Migration und Vielfalt stellen uns den kritischen Fragen bzgl. der „Multi-Kulti ist gescheitert“-Debatte.


Es ist immer wieder bemerkenswert wie hartnäckig Heinz Buschkowsky, allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, das Fehlverhalten von jungen, perspektivlosen und prekarisierten Menschen auf ihre Herkunft reduziert und Problemlagen ethnisiert. Es ist bekannt, dass solch populistische Antworten auf grundlegende gesellschaftliche Probleme von der Mehrheitsgesellschaft nur zu gern als Erklärungsmodell in Anspruch genommen wird. Heinz Buschkowsky schlägt genau in diese Kerbe, wenn er Menschen mit einem bestimmten Aussehen markiert und ihnen entsprechende inakzeptable Verhaltensformen nachsagt, aber nie müde wird klarzustellen, dass er ,(…) niemals alle Einwanderer…‘ meine. Buschkowsky spielt hier ganz offensichtlich mit bestehenden Ressentiments und Rassismen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber als arabisch, türkisch und letztendlich muslimisch markierten Bevölkerungsgruppen. Dabei wird die bestehende Ursachenforschung, welche die von Buschkowsky beschriebene Situation erklären, wissentlich außer Acht gelassen und als ,intellektuelles Geschwätz‘ abgetan. Denn sonst müsste sich auch ein Heinz Buschkowsky die Frage gefallen lassen, warum dieser in über 10 Jahren als Bezirksbürgermeister von Neukölln keine nennenswert positiven Ergebnisse in den Migrantenmilieus und deren sozialen Aufstieg verzeichnen kann. Menschen sind immer Produkt ihres sozialen Umfelds. Werden Menschen in gewisse Sozialräume durch Ressentiments und Vorurteile gedrängt, kann gesellschaftliche Teilhabe und sozialer Aufstieg nicht gewährleistet werden. Es ist also eine Frage des sozialen Status und der Zukunftsperspektiven der jungen Menschen als eine Frage der ,ethnischen Herkunft‘.“

Orkan Özdemir (SPD), 19.09.2012

Hermann Scheer

Energie und Utopie


Heute wurde der Tod von Hermann Scheer bekannt. Hermann Scheer ist u.a. Gründungsmitglied des Institut Solidarische Moderne e.V., das sich als parteiübergreifender, neoliberalismuskritischer Zusammenschluss versteht und den „ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragen“ der Zukunft widmet.

Scheer setzte sich als SPD-Politiker für internationale Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Außerdem kritisierte er die NATO-Bombardierung Serbiens sehr scharf und verfasste dazu im April 1999 eine Denkschrift für eine politische Initiative statt militärischer Eskalation.

Im folgenden Videoausschnitt von 2008 äußert sich Hermann Scheer zu Begriffen wie „Utopie“ und „Realität“ im Zusammenhang mit der Zukunft der Energieversorgung. Scheer wird als Vordenker bezeichnet, da er bereits seit den 80er Jahren versucht, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. Er benennt die Folgen des Lobbyismus von klassischen Energiekonzernen und betont die Relevanz von regenerativer Energieversorgung.

http://www.youtube.com/watch?v=fC50H4s1oXI


Siehe auch:
»Scheer war kein „SPD-Politiker“. Er war Weltpolitiker.«, Nachruf von Peter Unfried (taz): Größer als die Beatles.