Eine Mutter auf den Asphalt gekommen [goEast 2011]

Dalibor Matanićs „Mutter des Asphalts“ ist der sensible Blick auf eine einstürzende Fassade


Majka Asfalta (Mutter des Asphalts, Regie: Dalibor Matanić 2010) erzählt die Geschichte einer Trennung. Besser gesagt wohl einer Loslösung: In einer von Gleichgültigkeit und Entfremdung geprägten Beziehung entscheidet sich Mare, ihren Mann Janko zu verlassen. Die vorweihnachtliche Freude des gemeinsamen Sohnes ist ein schmerzhafter Spiegel für die beiden Eltern, die sehr unterschiedlich mit dem offensichtlichen Scheitern ihrer Beziehung umgehen. Eine frisch gekaufte Eigentumswohnung in Zagreb und der geplante Ski-Urlaub mit Freunden laden zur Verdrängung ein.

In einem hilflosen Ausraster Jankos kracht der letzte Rest Fassade zusammen. Sie geht. Die Handlung wird unsentimental erzählt, die weibliche Hauptfigur bleibt ein Mensch mit eigenen Fehlern. Mare wird nicht auf eine Rolle reduziert, etwa die des Opfers oder der Getriebenen, sondern sie bleibt die Handelnde. Dabei sammelt sie auch die Erkenntnis, mit ihrer Entscheidung weitgehend allein dazustehen: Als sie mit ihrem Sohn für ein paar Tage bei ihrer besten Freundin unterkommt muss sie von ihr hören, ein paar Schläge „aus Versehen“ seien doch ganz normal, zumal, wenn der Mann getrunken habe.

Ziellos fährt sie mit ihrem Sohn durch das winterliche Zagreb. Sie übernachten im Auto auf Parkplätzen oder im Büro. In einer Nacht, um dem Sohn eine Freude zu machen, bucht Mare ein Hotelzimmer. Dann ist das Geld alle.

Mare steht in dem Film nicht nur für eine Frau, die sich gegen ein Rollenbild entscheidet und damit auf Unverständnis stößt, sie steht auch für ein Individuum, das sich zum Schutz vor sozialer und physischer Gewalt gegen den Konsens des Schweigens entscheidet. Sie bleibt allein mit ihrem Sohn, denn ihre einzige Option sozialer Anbindung würde bedeuten, die erlebten Formen der Gewalt zu akzeptieren.

Es bleibt offen, wie lange die Beziehung schon litt, wie lange Mare Illusionen akzeptierte. Auch lässt der Film offen, welche Möglichkeiten Mann und Frau hätten finden können, das Geschehene zu thematisieren. Aber dort wird eben nicht die Geschichte einer Beziehung, sondern die der Konsequenzen einer Entscheidung erzählt. Mit ihrem Entschluss für die (Los)Lösung bringt Mare die bestehende Ordnung durcheinander. Weniger die eigentlichen Lebenslügen des sozialen Miteinanders sind das Thema, sondern vielmehr deren langer Rattenschwanz. Das Unverständnis von Freunden, die schmerzliche Entdeckung ungleichmäßiger Abhängigkeit, die plötzliche Erkenntnis einer zerplatzten Illusion. Verdrängung.

Einmal steht Mare in einer Telefonzelle (der Sohn ist in der „Spiel“-Ecke des Einkaufszentrums) und spricht mit ihrer nach Deutschland ausgewanderten Mutter. Mare kämpft mit den Tränen, während sie behauptet, sie sei mit Mann und Kind beim weihnachtlichen Familieneinkauf.

Trailer (Die Musik taucht im Film nicht auf):
http://www.youtube.com/watch?v=KMSN_aR66IA

Von Fidesz bis Jobbik – Besorgniserregende Portraits aus Ungarn [goEast 2011]

„Wir sind ganz normale Ungarn, die sich am Faschismus orientieren“


Der Dokumentationsfilm Auf der Suche – ein Rechtsruck erschüttert Ungarn von Karolina Doleviczenyi sucht nach Beweggründen von Menschen in Ungarn, sich als politisch rechts zu bekennen. Das Resultat ist ein fragmentarischer, klischeeloser Einblick in die Gedanken von durchschnittlichen Leuten aus unterschiedlichsten Altersgruppen und sozialen Kontexten. Sie verknüpfen aktuelle, soziale Probleme mit der „historischen Ungerechtigkeit“ gegenüber Ungarn, die sie im Vertrag von Trianon sehen. Die Aussagen der Protraitierten reichen von rechtskonservativem, Fidesz-nahen Antikommunismus und Nationalismus („für ein Europa der Nationen“) bis hin zu Jobbik-üblichen radikal-antisemitischen und -antiromischen Verschwörungstheorien. Sie alle geben unterschiedlichsten Problemen und Ängsten nationale Kontexte und erkennen so in den „Schuldigen“ auch immer die Feinde Ungarns.

Es sind nicht an den Rand gedrängte, sondern vorwiegend gut situierte, gebildete Menschen, die in Doleviczenyis Film zu Wort kommen. Der Rechtsruck hat die gesamte Gesellschaft erfasst und so hält eben eine junge, gut situierte Mutter es für einen Grund zur Scham, ihrem Kind bei Auslandsreisen innerhalb Europas „ständig“ erzählen zu müssen, dieses und jenes Land hätte früher mal zu Ungarn gehört.

Doleviczenyi, die Ungarn aus ihrer Kindheit als fröhlich in Erinnerung hat, sagt, sie kann heute nur grimmige und gestresste Gesichter beim Spaziergang durch Budapest entdecken. Ihr Film verdeutlichte mir, mit welch alltäglicher Leichtigkeit und Überzeugung Menschen sich für ihre eigene Unzufriedenheit Sündenböcke suchen. Der Film entstand vor und endet mit der Parlamentswahl in Ungarn 2010, dem Land der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft.

Roberto Festa stellte in seinem Film Il Cuore D’Europa (Das Herz Europas) keine Fragen, er ließ die Kamera laufen. Parallel begleiten wir als Zuschauer_innen eine weibliche, Ende 30-jährige „Führungskraft“ in der Magyar Gárda (Ungarische Garde) und einen männlichen mitzwanziger Studenten über ein Wochenende. Der Film gibt einen Einblick in den konkreten Alltag zweier bekennend radikal-nationalistischer Menschen. Die weibliche Protagonistin erleben wir bei den Vorbereitungen eines „Gedenkmarsches“ für ein ermordetes Kind, das von der Garde zum Opfer von „Roma-Kriminalität“ stilisiert wird. Wir werden Zeug_innen eines folkloristischen Nazi-Theaters. Die Absurdität der Inszenierungen wird am Filmende im Abspann umso deutlicher, wo der Regisseur informiert, dass der geständige Mörder des Kindes zum Zeitpunkt des „Trauermarsches“ bereits seit drei Monaten inhaftiert war und kein Rom ist. Und der Aufmarsch fand nicht auf irgendeiner isolierten Wiese statt, sondern vor dem Bürgermeisteramt der Ortschaft und mit dem Bürgermeister als Hauptredner. Diese nationalistischen selbsternannten Ordnungshüter_innen sind keine Randgruppe, sie sind Teil des gesellschaftlichen Alltags.

Die Nationalfolklore, die Märsche durch Dörfer, das paramilitärisch anmutende Training, der Drill, die Uniformen – all das sind ganz reale Tatsachen in einem EU-Land 2011. Der Film vermittelt einen Eindruck von finsteren, besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn. Es wurde konkret: die Sündenböcke wurden benannt und in antisemitischen und antiromischen Statements und Hassparolen ganz klar zum primären Ziel der Aggression erklärt. Die Erklärungsmuster über soziale Benachteiligung als Ursache für Nazi-Identitäten greifen hier nicht, so kommt etwa der portraitierte Budapester Jugendliche aus einem „bildungsnahen“ Haushalt, studiert Geschichte, arbeitet für ein Theater und seine Eltern sind Graveurin und Maler. Der junge Mann argumentiert nicht mehr nur mit Trianon: er schimpft, Juden sollen „zurück“ nach Israel, „N***“ raus aus Europa und er stellt sich nachts betrunken mit ausgestrecktem Hitlergruß-Arm vor das Holocaust-Memorial.

Die Kamera vermittelt ein Bild der Beiläufigkeit und Banalität dieser Handlungen, erst im Nachdenken über das Gesehene erklärt sich ansatzweise, welches Ausmaß Nationalismus und Rassismus in Ungarn bereits erreicht haben dürften und wie verbreitet und alltäglich die wirklich offen gezeigten, derbsten Auftritte der radikalen Rechten dort sind. „Wir sind keine Nazis, wir sind einfache Ungarn, die sich am italienischen Faschismus orientieren“, sagen der Protagonist und seine Freunde in die Kamera.

In beiden Filmen wurde deutlich, dass radikaler Nationalismus kein „Unterschichten“-Problem ist, sondern die Konsequenz aus alltäglichem, etablierten Rassismus ist, der sowohl schweigende als auch laute Zustimmung in einem momentan größer werdenden Teil aller Gesellschaftsschichten findet.

Männliche Perspektiven und menschliche Abgründe [goEast 2011]

Gestern zwei Filme


Der Wettbewerbsbeitrag Stupki v pyasuka (Spuren im Sand) von Ivailo Hristov hat eine nett gemeinte Story, in der ein ausgewanderter Mann nach Bulgarien zurückkehrt. Am Flughafen in Sofia erzählt der Mitvierziger interessierten Flughafenmitarbeitern die Details zu seiner Auswanderung. Darüber, wie ihn in den 80er Jahren seine große Liebe verlassen hatte, worauf er über Österreich in die USA floh.

Ich hatte Probleme mit dem Film. Frauen tauchten in dem Film nur als Auslöser für Probleme auf. In einer rein männlichen Runde von fünf, sechs Flughafenangestellten reflektierte der Zurückkehrer über seinen Lebensweg, seine Flucht, nachdem er verlassen worden war. In den Geschichten tauchten verschiedene weitere Frauen außer der großen Liebe auf, mit denen er aus unterschiedlichen Gründen aber auch nicht glücklich wurde.

Am härtesten fand ich den kurzen Auftritt einer weiblichen Figur: Eine (rumänische) Prostituierte, die dem Auswanderer als Geste der Freundschaft im österreichischen Auffanglager von einem bulgarischen Bekannten „offeriert“ wurde. Es war ein sehr kurzer Auftritt, die Frau hatte gar keinen Text, sie war nur kurz nackt zu sehen und diente im Handlungskontext dazu, die Schüchternheit des Protagonisten zu thematisieren. Der Ratschlag lautete dann: „Mach einfach die Augen zu und stell dir vor, es sei deine Freundin“. Es ging eben um die Probleme des Mannes, nicht um das Thema Prostitution oder die Ausnutzung von Frauen.

Der US-Aufenthalt des ausgewanderten Protagonisten und sein Job als Fahrer wurden dann u.a. in Sonnenuntergangs-Bilder mit Trucks am Horizont gepackt, die mit Rockmusik unterlegt wurden. Damit war der Film mir persönlich nicht mehr nur in seiner Perspektive, sondern auch in seiner Ästhetik zu Klischee-männlich. (Das alles nachdem er in New York als Obdachloser von zwei Männern in „Du-musst-kämpfen“-Manier aufgegabeltt worden war.)

Zwischen den Bildern dann eben immer die Sequenzen mit den gespannt zuhörenden Männern am Flughafen in Sofia. Der jüngste unter ihnen, kaum 20, war besonders interessiert: Ihn hatte nämlich gerade seine Freundin verlassen (per Handy – das war die erste Szene des Films). Gestärkt von den Geschichten des Zurückkehrers konnte der junge Mann dann auf einen Anruf seiner Ex reagieren: Er klappte das Handy zu und ging nicht ran.

Die letzte Szene entließ das Publikum dann aber noch in eine heile Welt: Der Zurückkehrer suchte seine große alte Liebe (inzwischen Ärztin mit Dr.-Titel) in ihrem Häuschen auf und machte ihr mit den ersten Worten des Wiedersehens am Eingangsportal einen Heiratsantrag.

http://www.youtube.com/watch?v=GkXmIjOZF8Q

Ein ganz anderes Kaliber war Jan Švankmajers Šílení (Der Wahnsinn/ Lunacy, lief im Rahmen der Hommage an den Regisseur), der sich nicht auf einige zusammenfassende Worte bringen lässt. Soviel als Anregung: Animierte Fleischstückchen (die auch zur Festival-Eröffnung schon zu sehen waren) gaben eine Art Subtext als Zwischensequenzen in der ansonsten von Schauspieler_innen dargestellten Handlung. Die Perversionen des Alltags als fleischgewordene Bilder in ungeschönter Direktheit. Der naive Protagonist streift durch eine zeitlich nicht weiter definierte Welt, in der die Menschen verrückt scheinen. Nachts bekommt er paranoide Albträume und will fliehen, vor Männern in weißen Kitteln, die ihm eine Zwangsjacke umlegen wollen. In schlafwandelndem Wahn zerlegt der Verfolgte dann (was mehrmals im Film passiert) sein Schlafzimmer, bis ihn jemand weckt.

Ein bekennender „Antichrist“, der sich herrschaftlich über den Dingen sieht und in religiöser Manier regelmäßig Sex-Orgien begeht, nimmt sich dem naiven, ängstlichen und zweifelnden Protagonisten an. Als Erlösungsmotiv aus der ausbeuterischen, verschwenderischen und sexistischen Herrschaftswelt dieses neuen Bekannten dient nun die Option, eine Art alte Ordnung wiederherzustellen. Soviel sei noch verraten: In einer psychiatrischen Anstalt entscheidet sich der Protagonist (in seiner Naivität? Unerfahrenheit?) für die Wiederherstellung der alten Ordnung und damit für eine noch grausamere körperzüchtigende Form der Ausbeutung und Fremdherrschaft – auch über sein Leben, in dem er nun das letzte Stück Autonomie verliert und sein Albtraum Wahrheit wird.

Kein schöner Film, aber ein beeindruckender. Švankmajer findet in verstörender Weise zutreffende Bilder für extrem unangenehme Absurditäten unseres menschlichen Alltags und komponiert daraus großartige Szenerien. Dazu kommen ausgezeichnete Schauspieler_innen, wirklich überzeugend und beängstigend authentisch in der Darstellung.

http://www.youtube.com/watch?v=TZyfIkXrblM


siehe auch:
Filmrezension (mit von meinen Eindrücken teilweise erheblich abweichenden Interpretationen) zu Jan Švankmajers „Der Wahnsinn“ bei negativFilm und alle Artikel zum Thema Film bei sibiuaner.

11. Filmfestival goEast in Wiesbaden eröffnet

Leinwandschaftlicher Frühlingsbeginn

[goEast 2011]

Am 6.April 2011 wurde in der Wiesbadener FilmBühne Caligari das 11. goEast-Filmfestival eröffnet. Einige meiner Festival-Eindrücke werde ich in den nächsten Tagen hier und bei twitter hinterlassen. Daneben findet ihr ausführliche Informationen, Berichte und Rezensionen zu den Festivalfilmen bei negativFilm, einem Medienpartner von goEast (dem ihr auch auf twitter folgen könnt). Außerdem unterstützt und begleitet 3sat das Festival. (3sat bringt in dem Rahmen heute Abend um 22:25 den bildgewaltigen russischen Film Mein Sommer mit Sergej von Alexej Popogrebskij, der im letzten Jahr beim goEast-Filmfestival lief und prämiert wurde.)

Bei der Eröffnung im Caligari wurden zur Einstimmung am Einlass wie üblich Häppchen und Vodka verabreicht.

Festivalleiterin Gaby Babić verlor einige Worte zum breiten Festival-Programm und sprach sehr positiv von der gelungenen Zusammenarbeit mit ihrem (nach eigenen Worten mehrheitlich aus weiblichen Mitarbeiterinnen bestehenden) Festival-Team.

Nach zwei weiteren Redner_innen gab es gleich ein paar Kurzfilme, darunter Tma/ Svetlo/ Tma (Darkness/ Light/ Darkness) von Jan Švankmajer, dem die goEast-Hommage in diesem Jahr gewidmet ist.

Als offizieller Eröffnungsfilm wurde anschließend Essential Killing von Jerzy Skolimowsky gezeigt (Rezension negativFilm). Es ist die Geschichte einer Jagd im „Kampf gegen den Terrorismus“, aus der Perspektive des Gejagten. Ich fand den Film beklemmend und hart, aber in der Direktheit seiner Bilder für die gewählte Thematik nur nachvollziehbar konsequent.

https://www.youtube.com/watch?v=Q4D9WqBujS8

Da ich den Film sah, verpasste ich den Empfang im hessischen Landtag und damit auch einen tieferen Einblick in die Wiesbadener Häppchenvielfalt. Aber im Programm war noch ein weiterer Punkt vorgesehen, nämlich die Begrüßungsparty im Kulturpalast Wiesbaden. Hier gab es musikalische Exkurse in verschiedene Richtungen und Geschwindigkeiten mit viel Tanzbeinschwung zu handgereichtem Vodka. Festivalleiterin Gaby Babić befand sich nicht nur unter den Gästen, sondern sie gehörte zum kreativen Kern im Zentrum der Tanzfläche, was ganz klar für das Filmfestival spricht.

Die Musik ist aus aber es brennt noch Licht.

Świnki von Robert Gliński* [goEast 2010]

Der Film Świnki des polnischen Regisseurs Robert Gliński kommt in Deutschland am 8.Juni 2010 unter dem Titel „Ich, Tomek“ in die Kinos.

Beim diesjährigen goEast-Filmfestival sah ich in sieben Tagen rund 20 Filme in zwei Wiesbadener Kinos. Świnki von Robert Gliński beeindruckte mich besonders. In dem Film wird Kindesmissbrauch nicht als Spezifikum einer einzelnen Einrichtung, eines bestimmten Ortes oder einer besonderen Zeit, sondern als Teil der „normalen“ Welt thematisiert – als Eskalation eines gesellschaftlichen Alltags, der geprägt ist von Abhängigkeit, Zwängen und der Sehnsucht nach Selbstbestimmung.

Die deutsch-polnische Grenzregion zur Zeit um den polnischen EU-Beitritt steht als Kulisse für jene Grenzerfahrungen der besonderen Art, mit denen die Figuren, mehrheitlich Kinder, konfrontiert werden.

Tomek ist um die 14 Jahre alt. Das finanzielle Überlebensminimum seiner Eltern, der geplatzte Traum in einem Jugendsozialprojekt und ein engagierter, aber ignoranter Pfarrer rücken für ihn plötzlich zugunsten neuer Perspektiven in den Hintergrund: eine schöne Freundin und soziale Anerkennung. Beide haben ihren Preis.

Mit seinem guten Schuldeutsch hat Tomek einen Vorteil gegenüber den anderen Kindern: Die zahlende Kundschaft kommt aus Deutschland. Schnell entwickelt er Routine, erlernt die Mechanismen des „Marktes“ und wird so zeitweise sogar zum örtlichen Świnki-Chef. Die Macht des Stärkeren in Verbindung mit brutaler, sexueller Gewalt, die Tomek selbst zu spüren bekommt, entdeckt er als Werkzeug zur Durchsetzung der eigenen Karriere.

Hierin liegt meines Erachtens auch der Wert dieses Films: Die Kinderprostitution, der bezahlte Missbrauch von Minderjährigen, stellt sich als Teil eines Kontextes dar, in dem Menschen nur noch mit einem Marktwert zählen. Damit ich nicht falsch verstanden werde, ich sehe den Film nicht einfach als eine Parabel zur kapitalistischen Gesellschaft, sondern ich sehe in dem Film eine differenzierte Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen, aus denen heraus Kindesmissbrauch und Kinderprostitution entstehen. Damit macht es sich Robert Gliński eben nicht so einfach, den Kindesmissbrauch als Perversion zu inszenieren, sondern er zeigt die Kinderprostitution als Teil jener Perversionen, die unserem alltäglichen Miteinander bereits zugrundeliegen.

Der Film kommt völlig ohne plumpe Schockbilder aus, die Schreckmomente bereiten einem die Gesichter der authentisch spielenden Kinder. Die gefühlte Scham vierzehnjähriger Jugendlicher angesichts der Geilheit betuchter Männer beschert unbequeme Filmminuten. Darauf folgen Selbsthass und finanzielle Befriedigung dank 80 verdienter Euro, die für Tomek den Anfang einer Karriere bedeuten.

Die atmosphärischen Details sind beeindruckend, nicht zuletzt, weil Anna Kulej (Marta) und Filip Garbacz (Tomek) in ihren Rollen unglaublich überzeugend sind. In ihren Bewegungen, in ihrer Wortwahl, im Flirten, Trinken, Feiern und beim „Shoppen“ sind diese Kinder erschreckend erwachsen. Die frische Sehnsucht nach vermeintlicher Befreiung manifestiert sich bei den Kindern im Rausch von Kaufen, Kaufen, Kaufen. Tomek kauft sich seine Freundin und ihr teure Schuhe. Beide erkaufen sich damit ihre Position. Und wesentlicher Bestandteil dieser Logik ist eben auch, dass sich reiche, deutsche Männer die Kinder kaufen.

© widark & 42film 2009

Der Film ist desillusionierend. Zu einem Herabschauenden gehört immer mindestens ein Heraufschauender, ein Gepeinigter. Und beide Perspektiven sind Teil derselben Karrierekette, auf deren Ende die Illusion vollkommener Befriedigung projiziert wird.

In diesem Sinne ist der Film deprimierend und nicht schön. Aber er ist gut. Er will kein Mitleid erzeugen, keine Trauer oder Wut, sondern er will für dieses, unser derzeitiges menschliche Miteinander sensibilisieren, das solche Fälle sexueller und gewalttätiger Ausbeutung von Menschen, Kindern, und zwar in unserer Mitte, hervorbringt.

Für diesen im Film beschriebenen Zustand ist es symptomatisch, dass Problemlösungen nicht an den Mitteln scheitern, sondern an der Tiefe und Ernsthaftigkeit, mit der man überhaupt erst einmal bereit ist, ein Problem wahrzunehmen. Was so abstrakt klingt, wurde mir in einer Szene des Films besonders deutlich: Tomek sieht sich mit einem sofort reagierenden, sensiblen und aufwändigen, hochtechnisierten Sicherheitsapparat konfrontiert, als er mit einem Schlauchboot nachts versucht, die Oder zu überqueren. Innerhalb genau dieser Gesellschaft, die jenen sensiblen Sicherheitsapparat hervorgebracht hat und jedes Schlauchboot auf der Oder wahrnehmen kann, ist es möglich, dass Kinder wie Tomek gegen Geld sexuell missbraucht werden. In dieser Szene zeigt sich, dass nicht Antworten fehlen, sondern dass die falschen Fragen gestellt werden.

Der Film provoziert, indem er ein gesellschaftliches Problem in seinem Kern anschneidet, der allgegenwärtig ist, aber hinter den Rufen nach einfachen Lösungen verschwindet. Darum ist der Film sehenswert.

*Den ursprünglichen Titel habe ich geändert.
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Der Regisseur Robert Gliński am 27. April in Wiesbaden beim goEast-Filmfestival über seinen neuen Film Świnki („Ich, Tomek“):

http://www.youtube.com/watch?v=vYnVs5FOXCY