[Trigger-Warnung: Hinweise auf die rassistische Fremdbezeichnung von Rom_nija]
Das Update (2.7.2012) gleich vorweg: ARD entschuldigt sich bei den Sinti und Roma für Sendung eines diskriminierenden Interviews in den Tagesthemen [pdf].
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Am 25.6.2012 hat mir Kai Gniffke von der ARD zur Verwendung des *-Worts der rassistischen Fremdbezeichnung von Roma in den Tagesthemen geantwortet. (Unten habe ich seine E-Mail und meine neue Antwort dokumentiert.) Die Übersetzung sei korrekt, also der griechische Mann sage „[***]ner“. Zu meiner Kritik an dem Begriff und dessen konkreter rassistischer Verwendung schreibt er nichts, nicht mal das Wort Rassismus kommt vor. Dafür schreibt Gniffke, dass die ARD verantwortungsvoll abwäge bevor so ein O-Ton in die Sendung kommt und das sei auch in dem Fall passiert. Mit anderen Worten: In den Tagesthemen in der Halbzeitpause eines EM-Spiels mit deutscher Beteiligung (also vor einem zweistelligen Millionenpublikum) mal eben das *-Wort die rassistische Fremdbezeichnung von Roma per O-Ton-Übersetzung über den Sender zu schicken ist voll ok und entspricht dem Rahmen von deutschem Qualitätsjournalismus. Ich bin ernüchtert und frage mich, ob das Unwissen ist oder Ignoranz gegenüber diesem klaren Fall, in dem das *-Wort der Begriff als rassistisches Pendant zum „braven Bürger“ reproduziert wird. Genau das ist die klassische Funktion des *-Worts dieser Fremdbezeichnung, mit der es sie seit Jahrhunderten von weißen Menschen benutzt wird. (Und zwar seit ca. zwei Jahrhunderten in Deutschland auf institutioneller Ebene.)
A propos Benutzung, die Kritik am *-Wort an dem Begriff kommt einigen, wohlgemerkt weißen Menschen, sogar einem Sprechverbot oder Maulkorb gleich. Es ist ihr Recht, das *-Wort verwenden zu können wann und wo sie wollen. Und zwar über 40 Jahre nachdem Roma sich im April 1971 für den Begriff Roma als Selbstbezeichnung entschieden haben und nachdem sie das auch heute immernoch tun. Das ist aber scheinbar egal. Denn aus der Sicht einiger wiegt das Recht weißer Menschen, das *-Wort zu sagen schwerer, als das Recht der Betroffenen, ihre Bezeichnung selbst zu wählen. Wahrscheinlich einfach die Gewohnheit der letzten Jahrhunderte.
Ein twitternder Weißer über sein Recht (zur Bezeichnung von Roma)
Um das klarzustellen: Ich bin gegen Sprechverbote. Meine Kritik richtet sich gegen die Haltung, die sich in der Benutzung des *-Worts der Fremdbezeichnung ausdrückt, das, was mit diesem Wort transportiert wird: Mir egal, ich kann, weil ich kann. Als weißer Nicht-Rom einfach auf das Recht verweisen, das *-Wort den Begriff benutzen zu können, zeigt ja nur, es geht absolut nicht um die Leidtragenden dieses Begriffs, deren Sprechendenposition und Perspektive ist schnuppe, was zählt sind die weißen Befindlichkeiten. Und das ist leider keine besonders neue Erkenntnis, auch nicht, wenn sie von den aktuellen deutschen Halbzeit-Tagesthemen angeregt wurde.
25.06.2012
Sehr geehrter Herr Kraft,
vielen Dank für Ihre E-Mail.
Die griechischen Wörter für ‚Bettler‘ und ‚[***]ner‘ klingen sehr ähnlich. Das ARD-Büro in Athen hat uns aber versichert, dass die Übersetzung in dem Tagesthemen-Bericht vom 17. Juni korrekt war. Der Grieche hat in dem Beitrag also tatsächlich gesagt: Wir werden brave Bürger sein und nicht [***]ner.
Mit diesem O-Ton wollten wir keinesfalls Vorurteile gegen Sinti und Roma bedienen. Tagesschau, Tagesthemen und die anderen Sendungen von ARD-aktuell achten sehr genau darauf, keine abwertenden Klischees zu verwenden. Stattdessen benutzen wir eine möglichst wertneutrale, sachliche Sprache. Bei Interviews kann es allerdings vorkommen, dass die Interview-Partner nicht ganz so überlegt formulieren. Die Redaktion muss dann zusammen mit dem Reporter entscheiden, ob es sich um eine kleinere sprachliche Ungeschicklichkeit handelte oder ob der O-Ton nicht sendbar ist. In dem Wahl-Bericht aus Griechenland hatten wir es mit einem Grenzfall zu tun. Sollte sich jemand von der Formulierung des Griechen angegriffen oder verletzt fühlen, so täte uns das Leid.
Wir würden uns freuen, wenn Sie unsere Sendungen weiter kritisch verfolgten.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Kai Gniffke
Chefredakteur ARD-aktuell
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27.06.2012
Sehr geehrter Herr Gniffke,
vielen Dank für Ihre Antwort. Sie schreiben, Sie hatten es in Ihrer Entscheidung für den betreffenden O-Ton, in dem das [***]-Wort vorkommt, „mit einem Grenzfall zu tun“. Nun hatten Sie sich in diesem Grenzfall ja entschieden, das [***]-Wort ins Deutsche zu übersetzen (an der Übersetzung zweifeln nach wie vor mehrere Menschen mit Griechischkenntnissen) und dieses Wort in der Halbzeitpause eines Fußballspiels mit deutscher Beteiligung einem zahlenmäßig zweistelligen Millionen-Publikum zu präsentieren. Leider erschließt sich mir aus Ihren Ausführungen zum verantwortungsvollen Umgang Ihrer Redaktionen mit „Klischees“ nicht, wieso Sie sich im Rahmen eines Kommentars über Wahlen in Griechenland für eben diesen O-Ton entschieden, in dem das [***]-Wort als rassistisches Pendant zu „braven Bürgern“ reproduziert wird. Was die unter dem [***]-Wort leidenden Menschen davon haben, dass Ihnen dessen rassistische Bedeutung leidtut, kann ich nicht einschätzen, ich bin ein weißer Mann, genau wie Sie, und mit dem [***]-Wort meistens nicht gemeint bzw. nicht davon unmittelbar betroffen.
Ich hätte mir von Ihnen die Bereitschaft zum kritischen Umgang mit institutionellem Rassismus gewünscht, dessen Wesensmerkmal es ist, dass weiße Menschen — und nicht die Betroffenen — in entsprechenden Positionen einen Begriff wie das [***]-Wort in einem journalistischen TV-Beitrag zum griechischen Wahlausgang in der deutschen Halbzeitpause 2012 für angemessen halten.
Ernüchtert,
Hendrik Kraft.