Von Fidesz bis Jobbik – Besorgniserregende Portraits aus Ungarn [goEast 2011]

„Wir sind ganz normale Ungarn, die sich am Faschismus orientieren“


Der Dokumentationsfilm Auf der Suche – ein Rechtsruck erschüttert Ungarn von Karolina Doleviczenyi sucht nach Beweggründen von Menschen in Ungarn, sich als politisch rechts zu bekennen. Das Resultat ist ein fragmentarischer, klischeeloser Einblick in die Gedanken von durchschnittlichen Leuten aus unterschiedlichsten Altersgruppen und sozialen Kontexten. Sie verknüpfen aktuelle, soziale Probleme mit der „historischen Ungerechtigkeit“ gegenüber Ungarn, die sie im Vertrag von Trianon sehen. Die Aussagen der Protraitierten reichen von rechtskonservativem, Fidesz-nahen Antikommunismus und Nationalismus („für ein Europa der Nationen“) bis hin zu Jobbik-üblichen radikal-antisemitischen und -antiromischen Verschwörungstheorien. Sie alle geben unterschiedlichsten Problemen und Ängsten nationale Kontexte und erkennen so in den „Schuldigen“ auch immer die Feinde Ungarns.

Es sind nicht an den Rand gedrängte, sondern vorwiegend gut situierte, gebildete Menschen, die in Doleviczenyis Film zu Wort kommen. Der Rechtsruck hat die gesamte Gesellschaft erfasst und so hält eben eine junge, gut situierte Mutter es für einen Grund zur Scham, ihrem Kind bei Auslandsreisen innerhalb Europas „ständig“ erzählen zu müssen, dieses und jenes Land hätte früher mal zu Ungarn gehört.

Doleviczenyi, die Ungarn aus ihrer Kindheit als fröhlich in Erinnerung hat, sagt, sie kann heute nur grimmige und gestresste Gesichter beim Spaziergang durch Budapest entdecken. Ihr Film verdeutlichte mir, mit welch alltäglicher Leichtigkeit und Überzeugung Menschen sich für ihre eigene Unzufriedenheit Sündenböcke suchen. Der Film entstand vor und endet mit der Parlamentswahl in Ungarn 2010, dem Land der aktuellen EU-Ratspräsidentschaft.

Roberto Festa stellte in seinem Film Il Cuore D’Europa (Das Herz Europas) keine Fragen, er ließ die Kamera laufen. Parallel begleiten wir als Zuschauer_innen eine weibliche, Ende 30-jährige „Führungskraft“ in der Magyar Gárda (Ungarische Garde) und einen männlichen mitzwanziger Studenten über ein Wochenende. Der Film gibt einen Einblick in den konkreten Alltag zweier bekennend radikal-nationalistischer Menschen. Die weibliche Protagonistin erleben wir bei den Vorbereitungen eines „Gedenkmarsches“ für ein ermordetes Kind, das von der Garde zum Opfer von „Roma-Kriminalität“ stilisiert wird. Wir werden Zeug_innen eines folkloristischen Nazi-Theaters. Die Absurdität der Inszenierungen wird am Filmende im Abspann umso deutlicher, wo der Regisseur informiert, dass der geständige Mörder des Kindes zum Zeitpunkt des „Trauermarsches“ bereits seit drei Monaten inhaftiert war und kein Rom ist. Und der Aufmarsch fand nicht auf irgendeiner isolierten Wiese statt, sondern vor dem Bürgermeisteramt der Ortschaft und mit dem Bürgermeister als Hauptredner. Diese nationalistischen selbsternannten Ordnungshüter_innen sind keine Randgruppe, sie sind Teil des gesellschaftlichen Alltags.

Die Nationalfolklore, die Märsche durch Dörfer, das paramilitärisch anmutende Training, der Drill, die Uniformen – all das sind ganz reale Tatsachen in einem EU-Land 2011. Der Film vermittelt einen Eindruck von finsteren, besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn. Es wurde konkret: die Sündenböcke wurden benannt und in antisemitischen und antiromischen Statements und Hassparolen ganz klar zum primären Ziel der Aggression erklärt. Die Erklärungsmuster über soziale Benachteiligung als Ursache für Nazi-Identitäten greifen hier nicht, so kommt etwa der portraitierte Budapester Jugendliche aus einem „bildungsnahen“ Haushalt, studiert Geschichte, arbeitet für ein Theater und seine Eltern sind Graveurin und Maler. Der junge Mann argumentiert nicht mehr nur mit Trianon: er schimpft, Juden sollen „zurück“ nach Israel, „N***“ raus aus Europa und er stellt sich nachts betrunken mit ausgestrecktem Hitlergruß-Arm vor das Holocaust-Memorial.

Die Kamera vermittelt ein Bild der Beiläufigkeit und Banalität dieser Handlungen, erst im Nachdenken über das Gesehene erklärt sich ansatzweise, welches Ausmaß Nationalismus und Rassismus in Ungarn bereits erreicht haben dürften und wie verbreitet und alltäglich die wirklich offen gezeigten, derbsten Auftritte der radikalen Rechten dort sind. „Wir sind keine Nazis, wir sind einfache Ungarn, die sich am italienischen Faschismus orientieren“, sagen der Protagonist und seine Freunde in die Kamera.

In beiden Filmen wurde deutlich, dass radikaler Nationalismus kein „Unterschichten“-Problem ist, sondern die Konsequenz aus alltäglichem, etablierten Rassismus ist, der sowohl schweigende als auch laute Zustimmung in einem momentan größer werdenden Teil aller Gesellschaftsschichten findet.

Männliche Perspektiven und menschliche Abgründe [goEast 2011]

Gestern zwei Filme


Der Wettbewerbsbeitrag Stupki v pyasuka (Spuren im Sand) von Ivailo Hristov hat eine nett gemeinte Story, in der ein ausgewanderter Mann nach Bulgarien zurückkehrt. Am Flughafen in Sofia erzählt der Mitvierziger interessierten Flughafenmitarbeitern die Details zu seiner Auswanderung. Darüber, wie ihn in den 80er Jahren seine große Liebe verlassen hatte, worauf er über Österreich in die USA floh.

Ich hatte Probleme mit dem Film. Frauen tauchten in dem Film nur als Auslöser für Probleme auf. In einer rein männlichen Runde von fünf, sechs Flughafenangestellten reflektierte der Zurückkehrer über seinen Lebensweg, seine Flucht, nachdem er verlassen worden war. In den Geschichten tauchten verschiedene weitere Frauen außer der großen Liebe auf, mit denen er aus unterschiedlichen Gründen aber auch nicht glücklich wurde.

Am härtesten fand ich den kurzen Auftritt einer weiblichen Figur: Eine (rumänische) Prostituierte, die dem Auswanderer als Geste der Freundschaft im österreichischen Auffanglager von einem bulgarischen Bekannten „offeriert“ wurde. Es war ein sehr kurzer Auftritt, die Frau hatte gar keinen Text, sie war nur kurz nackt zu sehen und diente im Handlungskontext dazu, die Schüchternheit des Protagonisten zu thematisieren. Der Ratschlag lautete dann: „Mach einfach die Augen zu und stell dir vor, es sei deine Freundin“. Es ging eben um die Probleme des Mannes, nicht um das Thema Prostitution oder die Ausnutzung von Frauen.

Der US-Aufenthalt des ausgewanderten Protagonisten und sein Job als Fahrer wurden dann u.a. in Sonnenuntergangs-Bilder mit Trucks am Horizont gepackt, die mit Rockmusik unterlegt wurden. Damit war der Film mir persönlich nicht mehr nur in seiner Perspektive, sondern auch in seiner Ästhetik zu Klischee-männlich. (Das alles nachdem er in New York als Obdachloser von zwei Männern in „Du-musst-kämpfen“-Manier aufgegabeltt worden war.)

Zwischen den Bildern dann eben immer die Sequenzen mit den gespannt zuhörenden Männern am Flughafen in Sofia. Der jüngste unter ihnen, kaum 20, war besonders interessiert: Ihn hatte nämlich gerade seine Freundin verlassen (per Handy – das war die erste Szene des Films). Gestärkt von den Geschichten des Zurückkehrers konnte der junge Mann dann auf einen Anruf seiner Ex reagieren: Er klappte das Handy zu und ging nicht ran.

Die letzte Szene entließ das Publikum dann aber noch in eine heile Welt: Der Zurückkehrer suchte seine große alte Liebe (inzwischen Ärztin mit Dr.-Titel) in ihrem Häuschen auf und machte ihr mit den ersten Worten des Wiedersehens am Eingangsportal einen Heiratsantrag.

http://www.youtube.com/watch?v=GkXmIjOZF8Q

Ein ganz anderes Kaliber war Jan Švankmajers Šílení (Der Wahnsinn/ Lunacy, lief im Rahmen der Hommage an den Regisseur), der sich nicht auf einige zusammenfassende Worte bringen lässt. Soviel als Anregung: Animierte Fleischstückchen (die auch zur Festival-Eröffnung schon zu sehen waren) gaben eine Art Subtext als Zwischensequenzen in der ansonsten von Schauspieler_innen dargestellten Handlung. Die Perversionen des Alltags als fleischgewordene Bilder in ungeschönter Direktheit. Der naive Protagonist streift durch eine zeitlich nicht weiter definierte Welt, in der die Menschen verrückt scheinen. Nachts bekommt er paranoide Albträume und will fliehen, vor Männern in weißen Kitteln, die ihm eine Zwangsjacke umlegen wollen. In schlafwandelndem Wahn zerlegt der Verfolgte dann (was mehrmals im Film passiert) sein Schlafzimmer, bis ihn jemand weckt.

Ein bekennender „Antichrist“, der sich herrschaftlich über den Dingen sieht und in religiöser Manier regelmäßig Sex-Orgien begeht, nimmt sich dem naiven, ängstlichen und zweifelnden Protagonisten an. Als Erlösungsmotiv aus der ausbeuterischen, verschwenderischen und sexistischen Herrschaftswelt dieses neuen Bekannten dient nun die Option, eine Art alte Ordnung wiederherzustellen. Soviel sei noch verraten: In einer psychiatrischen Anstalt entscheidet sich der Protagonist (in seiner Naivität? Unerfahrenheit?) für die Wiederherstellung der alten Ordnung und damit für eine noch grausamere körperzüchtigende Form der Ausbeutung und Fremdherrschaft – auch über sein Leben, in dem er nun das letzte Stück Autonomie verliert und sein Albtraum Wahrheit wird.

Kein schöner Film, aber ein beeindruckender. Švankmajer findet in verstörender Weise zutreffende Bilder für extrem unangenehme Absurditäten unseres menschlichen Alltags und komponiert daraus großartige Szenerien. Dazu kommen ausgezeichnete Schauspieler_innen, wirklich überzeugend und beängstigend authentisch in der Darstellung.

http://www.youtube.com/watch?v=TZyfIkXrblM


siehe auch:
Filmrezension (mit von meinen Eindrücken teilweise erheblich abweichenden Interpretationen) zu Jan Švankmajers „Der Wahnsinn“ bei negativFilm und alle Artikel zum Thema Film bei sibiuaner.

11. Filmfestival goEast in Wiesbaden eröffnet

Leinwandschaftlicher Frühlingsbeginn

[goEast 2011]

Am 6.April 2011 wurde in der Wiesbadener FilmBühne Caligari das 11. goEast-Filmfestival eröffnet. Einige meiner Festival-Eindrücke werde ich in den nächsten Tagen hier und bei twitter hinterlassen. Daneben findet ihr ausführliche Informationen, Berichte und Rezensionen zu den Festivalfilmen bei negativFilm, einem Medienpartner von goEast (dem ihr auch auf twitter folgen könnt). Außerdem unterstützt und begleitet 3sat das Festival. (3sat bringt in dem Rahmen heute Abend um 22:25 den bildgewaltigen russischen Film Mein Sommer mit Sergej von Alexej Popogrebskij, der im letzten Jahr beim goEast-Filmfestival lief und prämiert wurde.)

Bei der Eröffnung im Caligari wurden zur Einstimmung am Einlass wie üblich Häppchen und Vodka verabreicht.

Festivalleiterin Gaby Babić verlor einige Worte zum breiten Festival-Programm und sprach sehr positiv von der gelungenen Zusammenarbeit mit ihrem (nach eigenen Worten mehrheitlich aus weiblichen Mitarbeiterinnen bestehenden) Festival-Team.

Nach zwei weiteren Redner_innen gab es gleich ein paar Kurzfilme, darunter Tma/ Svetlo/ Tma (Darkness/ Light/ Darkness) von Jan Švankmajer, dem die goEast-Hommage in diesem Jahr gewidmet ist.

Als offizieller Eröffnungsfilm wurde anschließend Essential Killing von Jerzy Skolimowsky gezeigt (Rezension negativFilm). Es ist die Geschichte einer Jagd im „Kampf gegen den Terrorismus“, aus der Perspektive des Gejagten. Ich fand den Film beklemmend und hart, aber in der Direktheit seiner Bilder für die gewählte Thematik nur nachvollziehbar konsequent.

https://www.youtube.com/watch?v=Q4D9WqBujS8

Da ich den Film sah, verpasste ich den Empfang im hessischen Landtag und damit auch einen tieferen Einblick in die Wiesbadener Häppchenvielfalt. Aber im Programm war noch ein weiterer Punkt vorgesehen, nämlich die Begrüßungsparty im Kulturpalast Wiesbaden. Hier gab es musikalische Exkurse in verschiedene Richtungen und Geschwindigkeiten mit viel Tanzbeinschwung zu handgereichtem Vodka. Festivalleiterin Gaby Babić befand sich nicht nur unter den Gästen, sondern sie gehörte zum kreativen Kern im Zentrum der Tanzfläche, was ganz klar für das Filmfestival spricht.

Die Musik ist aus aber es brennt noch Licht.

Volksgruppenwandern mit der taz +2updates

Wanderausflug


„Abschiebesaison in NRW hat begonnen“ titelt Pascal Beucker in der taz kritisch. Ein Foto von drei Frauen bringt die Fakten (in der online-Ausgabe) auf den Punkt: „Tränen in NRW: Wandervolksgruppen droht die Abschiebung.“ Für Tränen lässt das Agenturbild genügend Interpretationsraum, die Wanderstöcke der drei traurigen Frauen passten nicht mehr aufs Foto. Die Kernkompetenz in der Frage, was Wandervolksgruppen überhaupt sind, sieht die taz bei ihren Leser_innen: Dazu gibt es Bibliotheken gefüllt mit Büchern.


Quelle: taz.de – Abschiebesaison in NRW hat begonnen

Das Wandern ist eine wesentliche Eigenschaft der Wandervolksgruppen, ja es ist Teil ihrer Kultur. Während wir Sitz-, Steh- Warte- und Verharrvolksgruppen eher die Bewegung meiden, lassen sich Wandervolksgruppen in Spazier-, Lauf- oder Fliehvolksgruppen feiner unterscheiden, je nach Ausprägung und Motiv ihrer Wanderkultur. Die taz sensibilisiert uns für das Problem der Abschiebung, für das der Wandervolksgruppenhintergrund dieser Menschen elementar ist. Der deutsche Zentralrat der Rastlosen und Wandervolksgruppen, den die taz für ein Interview leider nicht gewinnen konnte, hat bereits protestiert gegen die Abschiebungen als Zeichen einer „deutschen Kultur der Ruhe“.

update 7.4.2011:
Gestern antwortete mir der Autor des taz-Artikels Pascal Beucker in einer Mail und hinterließ zudem hier als Kommentar, dass die Bildunterschrift samt Begriff „Wandervolksgruppen“ in der online-Ausgabe nicht von ihm stamme, er den Begriff „aus gutem Grund nicht“ verwende und dieser in der Print-Ausgabe der taz auch nicht auftauche.

update 2 (1.5.2011):
Die online-Redakteure haben das Wort aus der Bildunterschrift am 13.4.2011 entfernt, ohne dies weiter kenntlich zu machen. Am selben Tag bekam ich aus der online-Redaktion eine Mail, in der die Reaktion die Verwendung des Begriffs „Wandervolksgruppen“ als Fehler bezeichnet und sich dafür bei mir entschuldigt.


Erhellend über das Nomaden-Motiv: Brigitte Mihok & Peter Widmann – Sinti und Roma als Feindbilder.

Internationaler Tag der Roma 2011 – Kulturwoche in Berlin

Einladung


Zum Internationalen Tag der Roma (8.April) in diesem Jahr lädt der Berliner Amaro Drom e.V. zu einer Kulturwoche vom 2. bis 9. April ein:

Wir nutzen diese Woche, um das Thema Roma und die vielfältigen Aktivitäten junger Roma und Nicht-Roma in Berlin sichtbar zu machen und unsere Vorstellungen und Anliegen öffentlich zu präsentieren.

Ausführliche Informationen bietet der Flyer. Die Vorderseite gibt es hier und die Rückseite mit den einzelnen Programmpunkten ebenfalls.