[Trigger-Warnung: Hinweise auf die rassistische Fremdbezeichnung von Rom_nija]
Dem Elend auf der Spur: „Sprecht ihr Deutsch?“
Spiegel TV sendete vor einiger Zeit einen Beitrag von Georg Heil unter dem Titel »Einwanderer-Elend: Die neuen „Gastarbeiter“ vom Ost-Balkan«. Die 7:42 Minuten gibt es wahlweise bei Spiegel Online oder bei Youtube zu sehen (die embedd-Funktion ist leider deaktiviert).
Die im Titel versprochene Auseinandersetzung mit „Elend“ suchte ich in dem Filmbeitrag vergebens, von Fragen nach den Ursachen ganz zu schweigen. Stattdessen stelle ich mir einmal mehr die Frage, welchen Gesetzmäßigkeiten deutscher Journalismus folgen kann, wenn über Menschen aus den zwei jüngsten EU-Mitgliedsländern berichtet wird.
„[***]nerfolklore, Scheibenputzen oder bloßes Betteln – viele Roma verdienen so auf den Berliner Straßen ihr Geld.“
Diese als Information verpackte vage Vermutung (Welche seriösen Zahlen gibt es und was ist „viele“?) ist die Einleitung, die mit diesen Bildern geschmückt wird:
Screenshots von Spiegel TV Magazin Bericht „Einwanderer Elend…“
Wir sehen gefilmte Menschen, die nicht als Individuen erkennbar sind, sondern nur der symbolartigen Bebilderung dienen. Diese Einstimmung ohne informativen Mehrwert knüpft an verbreitete Ahnungen Vorurteile über Roma an.
Um diese Ahnungen Vorurteile zum Einkommenserwerb der Roma erfolgreich zu multiplizieren, lässt der Beitrag Fakten unter den Tisch fallen. Im Print-Spiegel erschien kurze Zeit vor dem Spiegel-TV-Bericht ein Artikel von Özlem Gezer über die Ausbeutungsverhältnisse auf deutschen Baustellen – mit einer unmissverständlichen Überschrift: Legale Sklaverei (23.05.2011). Warum holte sich Heil für seinen TV-Bericht zum gleichen Thema bei Print-Kollegin Gezer keine Inspiration in Sachen Recherche? Gerade weitere Recherchen wären notwendig, um die Zustände im deutschen Pflegesektor, in der Gastronomie, im Hotel-, Reinigungs- sowie eben im Baugewerbe ans Licht zu holen. Das ließe sich natürlich nicht so leicht auf Neuköllns Straßen abfilmen, wie die symbolisch aneinandergereihten Menschen-Beispiele in dem Spiegel-TV-Beitrag.
Die Neuköllner Behörden hätten „große Mühe, Gesundheitsschutz und Schulpflicht in den Hinterhöfen der Roma-Häuser durchzusetzen“, heißt es weiter. In Anwesenheit des Kamerateams äußert der Neuköllner Stadtrat dann prompt die Idee, den Sperrmüll durch die Müllabfuhr mal beseitigen zu lassen. Warum diese spontane Idee den Behörden nicht schon früher kam, welche Rolle die Hausverwaltung hier spielt oder wie lange die Mülltonnen schon überfüllt sind, wird in dem Beitrag nicht gefragt. Stattdessen wird unspektakulär aussehender Müll als Kulisse unter der Überschrift „Roma-Haus-Hinterhof“ spektakulär inszeniert. Die kommentierende Stimme aus dem Off kann überdies mit der Information aufwarten, dass „Mülltrennung“ für die „Neu-Einwanderer bislang noch ein Fremdwort“ sei. Nicht nur das – die Stimme aus dem Off weiß es sogar für den eigenen Beitrag zu interpretieren, wenn Menschen einfach keine Lust auf ein Kamerateam in ihrem Hinterhof haben:
„Diskussionen über Abfallentsorgung scheitern bereits an der Kontaktaufnahme“
Screenshot von Spiegel TV Magazin Bericht „Einwanderer Elend…“
Aber wenn erwachsene Menschen sich nicht im deutschen Fernsehen vorführen lassen wollen, gibt es andere Möglichkeiten, das journalistische Werk über „Roma-Häuser“ mit Bildern zu füllen: „Sprecht ihr Deutsch?“, fragt der interessierte Spiegel-TV-Onkel die anwesenden Kinder. Ja genau, von kleinen Kindern auf einem Berliner Hinterhof sammelt ein deutscher Journalist Informationen zum Thema „Gastarbeiter-Elend“. Ein sensibles Thema braucht eben einen sensiblen Journalisten. Eine Frau, die es offenbar nicht gern sieht, dass die Kinder von unbekannten Erwachsenen gefilmt werden, ruft unzufrieden in den Hof, worauf Spiegel TV mit der Kamera aufs Fenster draufhält – samt Frage an das kleine Mädchen: „Ist das deine Mutter?“. Nicht die gefilmten Menschen, sondern die unverhüllte Respektlosigkeit des Spiegel-TV-Teams ist das eigentliche „Elend“ in diesem Bericht.
Danach geht es weiter mit „Besuch von Berliner Beamten“, den „die Hausbewohner vom Balkan regelmäßig“ bekämen. Gemeint sind Polizeibeamte, die wegen eines Überfalls ins „Roma-Haus“ gerufen worden seien. Alles, was das TV-Team filmen kann, sind Bluttropfen im Hausflur und die Aussage eines „Anwohners“ – der nicht weiß, was passiert ist. Für siebeneinhalb Minuten Boulevardfernsehen ist das allemal ausreichend, für einen Spiegel-TV-Bericht über Roma auch. „Kommt sowas öfter vor?“ fragt der Journalist. „Das hier die Polizei steht? Ja!“ antwortet der „Anwohner“.
Warum die Polizei öfter vor diesem oder anderen Häusern in Neukölln steht, sagt der Anwohner nicht. Das wäre der Moment, in dem Spiegel TV für eine ausgewogene Berichterstattung darauf hinweisen könnte, warum die Polizei in Neukölln auch kommen muss: Zum Beispiel für Ermittlungen der Mordkommission im Falle vorsätzlicher Brandstiftung in einem Neuköllner Mietshaus, in deren Folge eine dreiköpfige Familie aus Bosnien samt Baby ums Leben kam. Oder weil es im Zuge sogenannter „Ausländer-Raus“-Kampagnen Autonomer Nationalisten immer neue Anschläge auf Neuköllner Projekte gibt. Aber diese Gründe, aus denen die Polizei in Neukölln kommen muss, lässt Spiegel TV unerwähnt. Es muss eben Prioritäten geben, wenn mit verallgemeinernden Bezeichnungen wie „Bewohner vom Balkan“ und „Roma-Haus“ Journalismus gemacht wird.
Für eine Reportage über Roma in einem „Roma-Haus“ mit „Kontaktaufnahme“-unwilligen Roma sind auskunftsfreudige „deutsche Nachbarn“ wichtig für den Informationswert. Der deutsche Informant spricht gern in die Kamera: Wie groß die Wohnung der Roma ist, wie viele Leute dort leben und lebten, alles, was einen authentischen Elendsbericht über „Gastarbeiter“ ausmacht.
Die einzig interessante Aussage, nämlich dass die Roma zwischen 25 und 45€ pro Quadratmeter Miete zahlen würden, nimmt das TV-Team nicht etwa zum Anlass, um sich mal bei der Hausverwaltung nach derart astronomischen Preisen trotz schlechter Müllabfuhr zu erkundigen. Dafür begleitet „Z***folklore“ die szenischen Übergänge der Kurzdoku bei Kamerafahrten durch die Karl-Marx-Straße.
Dann kommen die guten Beispiele. Schüler_innen einer Sprachschule dürfen dem Kamerateam auf die Frage antworten, warum sie nach Deutschland gekommen sind. Die Frage dürfte ihnen ja von der Passkontrolle schon bekannt sein. Das Reporterteam war derart beeindruckt von dem Besuch im Neuköllner Deutschkurs, dass es im Kommentar heißt:
„Der Wille zur Integration in die Gesellschaft ist bei den jungen Rumänen bereits ausgeprägt.“
Screenshot von Spiegel TV Magazin Bericht „Einwanderer Elend…“
Die eingangs gezeigte Frau, die sich nicht neben Mülltonnen filmen lassen wollte, wurde als Kommunikationsverweigerin dargestellt, während dann jungen Schüler_innen in einem Deutschkurs der Wille zur Integration attestiert wird. Aus der erhabenen Position hinter der Kamera werden Menschen in deutsche Schwarz-Weiß-Schablonen gepresst, über deren Hintergründe der gesamte Beitrag kein bisschen Information liefert. Diese Menschen werden als symbolische Gruppenvertreter_innen instrumentalisiert, um auf billigste Weise schmutzige Hinterhöfe gegen saubere deutsche Schulen ins Bild zu setzen, um integrationsunwilligen „Balkan-Bewohnern“ später „integrationswillige junge Rumänen“ gegenüberzustellen.
Als dann ein Bulgare über Lohnbetrug bei türkischen Baufirmen in Berlin berichtet, vergisst Spiegel TV wieder journalistische Ergänzungen: Hinter jedem ausbeutenden ausländischen Subunternehmen muss ein deutscher Konzern als Auftraggeber stehen (weil das gesetzlich vorgeschrieben ist), der davon enorm profitiert. Warum verschweigt Spiegel TV die deutschen Strukturen hinter dem vorgeführten Beispiel von Ausbeutung?
Einen wesentlichen Hinweis zur journalistischen Arbeitsweise in diesem Spiegel-TV-Bericht gibt es am Ende. Wir befinden uns wieder auf dem Hinterhof vom Anfang und hören als Kommentar:
„Einige deutsche Bewohner fühlen sich durch die neuen Nachbarn vor allem im Badespaß gestört.“
Dann sehen wir einen Mann, der in dem Hof erbost einer Badewanne entsteigt. Seine deutlichen Worte lauten allerdings:
„Kamera weg! Nein, ick will nich in’s Fernsehen!“
Dieser Mann fühlt sich in seinem Badespaß keinesfalls von irgendeinem Nachbarn, sondern eindeutig durch das anwesende Kamerateam von Spiegel TV gestört. Das wird dann einfach mit dem Kommentar unterlegt, die „neuen Nachbarn“ seien das Ärgernis für den Mann – mit anderen Worten: Die Roma sind schuld. Was nicht passt, wird passend gemacht.
Ein Stimmungsbild zu dem Thema findet sich in den Kommentaren unter der Youtube-Version des Beitrags.
↘
Hinweis: Das dROMa-Blog hat einen kurzen Artikel zu einem britischen Medienprojekt, das für den verbreiteten Rassismus gegenüber Roma in den Medien sensibilisieren will: Auf der Seite jewify.org wird der Begriff „gypsy“ oder „traveller“ mit „jew“ ersetzt. Mehr: Was, wenn sie Jude gesagt hätten?