Meine erste Akte – in den USA? + Nachtrag

Sammelwut


Mein Vater hatte eine Akte bei der Stasi, weil er zu DDR-Zeiten beruflich regelmäßig ins „kapitalistische Ausland“ reiste. Ich habe die Akte gesehen, sie ist nicht groß und eben so, wie man sich so eine Akte vorstellt. In Beamtensprache finden sich dort Bemerkungen zur beschaulichen Plattensammlung meiner Eltern, zu Titeln aus dem Bücherregal und dem Zeitungsständer. Ich stellte offenbar keine Gefahr für den Staat dar als Kind und so bin ich nur einmal ganz kurz erwähnt. An dieser Akte wurde mir deutlich, was oft als Charakteristikum östlicher Geheimdienste angeführt wird: Die Sammelwut. Stasi, Securitate usw. sammelten haufenweise mehr oder weniger sinnlose Daten, nur aus Angst vor der eigenen Bevölkerung – so das gängige Bild.

Gestern wurde bekannt, dass das US-Justizministerium den Mikroblogging-Dienst Twitter anwies, sämtliche private Daten der Accounts von Wikileaks-Mitarbeitern bzw. -Sympathisanten zu übergeben. Und jetzt wurde gemeldet, dass das US-Justizministerium nicht nur die Daten einiger Wikileaks Nahestehender einsammelte, sondern Twitter aufforderte die privaten Daten sämtlicher 637.000 Wikileaks-Follower herauszurücken. (siehe Nachtrag unten) Auch ich bin unter diesen 637.000 Followern von Wikileaks, das heißt im Rahmen der US-Ermittlungen liegen nun auch meine privaten (nicht-öffentlichen) Daten, die Twitter von mir hat (etwa Passwort, IP-Adressen und damit Aufenthaltsorte …), einer US-Behörde vor.

Von heute auf morgen bin ich nun offenbar im Rahmen von Ermittlungen gegen Wikileaks auch auf den Schreibtisch der US-Ermittlungsbehörden geraten. Das beunruhigende an der Sache ist, dass die US-Behörden nicht wollten, dass ich und die anderen das erfahren. Nur weil Twitter sich gegen die Forderung der US-Behörden auf Geheimhaltung wehrte, wurde die Sache bekannt. Inzwischen ist auch das Dokument des US-Justizministeriums geleakt worden.

Zusammengefasst heißt das, ich habe nur per Zufall und gegen den Willen der US-Behörden davon erfahren, als einer der Follower von Wikileaks ins Visier der US-Ermittlungen geraten zu sein. Dass ich das weiß (bzw. ursprünglich eben Twitter und Wikileaks), ist praktisch ein Unfall. Von wie vielen Fällen, in denen private Daten über mich von Internet-Diensten an staatliche Behörden übermittelt werden, weiß ich nicht? Der Rechtsanwalt und law-blogger Udo Vetter redet von „Stapelweise Gerichtsbeschlüssen“ täglich allein in Deutschland, die „Provider und soziale Netzwerke zur Herausgabe aller Daten des Nutzers“ verpflichten.

Noch beunruhigender ist dann die Frage: Wenn diese sensiblen Daten allein per Richterbeschluss täglich an Behörden übergeben werden, welche Daten mögen dann wohl Geheimdienste erst sammeln? Der kürzlich enttarnte V-Mann in Heidelberg oder eine (inzwischen als rechtswidrig verurteilte) Überwachungsaktion gegen einen Journalisten durch den Verfassungsschutz sind nur zwei beunruhigende Fakten, die auf ein behördliches Überwachungsinteresse in Deutschland hinweisen.

Darüber, was deutsche oder andere Behörden heimlich an Daten über mich sammeln, kann ich nur spekulieren. Ganz zu schweigen von Geheimdiensten. Welche Daten aber das US-Justizministerium nun von mir hat, sollte ich nicht wissen, weiß ich aber gegen den Willen von US-Behörden. Geheimgehaltene, staatliche Sammelwut ist seit heute in meinen Augen kein typisches Charakteristikum mehr für „Ost“-Geheimdienste oder -Behörden.

Nachtrag, 10.1.2011
Offenbar existieren unterschiedliche Interpretationen der Formulierungen in dem Schreiben der US-Justiz. Während bisherige Medienberichte sich auf die namentlich in dem Dokument erwähnten Personen beschränken, da diese damit ganz explizit im Fokus der Ermittlungen stehen, warnt Wikileaks per Tweet (s.o.), dass alle seine Follower von den Ermittlungen betroffen sein dürften. Diese Warnung bezieht sich offenbar auf die formulierte Forderung an Twitter, alle

…customer or subscriber account information for each account registered to or associated with [xyz]…

zu liefern – demnach bezieht sich die US-Justiz nicht nur auf die Accounts der benannten Personen, sondern auch auf die Accounts ihrer subscriber („Abonnenten“, Follower). Auch die Formulierung „associated with“ ist ein Hinweis, dass die Informationen zu allen mit den genannten Personen im Zusammenhang stehenden (verbundenen? verknüpften?) Accounts gemeint sind, also konkret die der Follower. Bitte korrigiert diese Deutung, wenn Ihr abweichende Hinweise seht.


Siehe auch:

DOJ subpoenas Twitter records of several WikiLeaks volunteers von Glenn Greenwald.

Und für den Gesamtkontext ist die schwedische Dokumentation in der vom ORF bearbeiteten deutschen Version (Dezember 2010) sehr interessant, sofern Ihr sie nicht schon kennt: https://www.netzpolitik.org/2010/deutsche-version-wikileaks-%E2%80%93-rebellen-im-netz/

Wikileaks praktiziert Informationsfreiheit

Kampf gegen Zensur


Wikileaks veröffentlichte jetzt Videoaufnahmen von 2007, auf denen zu sehen ist, wie in Bagdad eine Gruppe Zivilisten und Journalisten – einschließlich heraneilender Helfer – von amerikanischen Soldaten aus einem Hubschrauber erschossen werden und anschließend ein amerikanischer Panzer über die Leichen rollt. Das Video ist aus der Sicht der US-Schützen gedreht und auf der Tonspur ist ihr Funkkontakt zu hören.

Auch die deutsche Presse thematisiert die Video-Premiere (FR-online.de, spiegel.de, sueddeutsche.de, Telepolis).

Wikileaks lebt den Grundsatz der Informationsfreiheit und betreibt nicht mehr und nicht weniger als investigativen Journalismus. Wikileaks liefert Informationen, die den Menschen zustehen und die ihre Regierungen geheimzuhalten versuchen.


siehe auch:
Im Freitag-Blog von „Cassandra“ findet sich seit gestern (5.4.10) eine ausführliche Dokumentation des Medienechos zu der Video-Veröffentlichung. Interessant, wie zögernd die „etablierten“ Medien das Thema aufnehmen bzw. aufnahmen.

Peter Sennhauser bringt es in einem guten Artikel auf den Punkt: Die Medien haben versagt.