Café „St. Oberholz“ wehrt sich gegen „Fraktion Nimm“

Schon praktisch für das Berliner „St. Oberholz“, dass die neuen Regeln des Cafés unmittelbar einen wohlwollenden Artikel des Journalisten Christoph Stollowsky im Tagesspiegel nach sich ziehen. Ich lese Begriffe wie „ausnutzen“, „dreist“, „Stromschnorrer“ oder „Fraktion Nimm“, mit denen Stollowsky die unliebsamen Gäste beschreibt, die das Café bisher als „kostenlosen Arbeitsplatz missbrauchen“. Doch damit sei es jetzt vorbei, lerne ich, denn ab sofort würden Kellnerinnen und Kellner die Gäste „wachsam im Auge behalten“.

Die Gäste, die dazu im Tagesspiegel zitiert werden, finden das toll. Kritische Stimmen fehlen. Dafür wird der Offene Brief erwähnt, in dem Café-Betreiber Ansgar Oberholz ein psychologisches Profil der problematischen Gäste erstellt. Ein mitgebrachter Döner, der im Tagesspiegel als Symbol der Dreistigkeit dient, spielt auch hier eine zentrale Rolle. Er ist Ausgangspunkt mehrerer Absätze, in denen der Café-Betreiber schildert, was er über seine Gäste denkt. Ich zitiere nur einen Satz:

„Die Verhaltensweise der Gäste deutet auf ein vermindertes Schuldempfinden und unterdrückte Schamfähigkeit hin.“

(Für den Kontext: ein Screenshot / Link zum Originaltext)

Vermutlich ist Ansgar Oberholz mit solchen dreisten Deutungen nicht allein. Die Unterstützung eines Tagesspiegel-Journalisten hat er jedenfalls.

Die Opferrolle

Sie fallen „vor allem durch Betteln, Scheibenwischen und Prostitution“ auf.


„Wieder ist die Debatte über Roma entbrannt“ weiß der Tagesspiegel, dessen Autor Peter Knobloch in derselben Zeitung unter dem Titel „Machen es sich Roma in der Opferrolle bequem?“ seinen Beitrag dazu leistet.


Screenshot von tagesspiegel.de „Machen es sich Roma in der Opferrolle bequem?

Ausgangspunkt ist Berlin Kreuzberg. Wir Lesenden erfahren, dass mehrere EU-Bürger/innen derzeit im Görlitzer Park obdachlos leben und dass es sich dabei um ein europaweites Problem handele. Der Autor thematisiert in seinem Artikel nicht etwa Obdachlosigkeit oder europaweit wachsende Armut, er thematisiert Roma. Über diese weiß er zu berichten, dass sie eine enorm große Parallelgesellschaft in Europa bilden. Was er mit dem Begriff „Parallelgesellschaft“ meint und woher er seine Erkenntnis hat, verrät der Autor nicht. Uns Lesenden wird dafür der Eindruck vermittelt, tschechische, mazedonische, rumänische, kosovarische, kroatische, slowakische, ________, ________, (…) Roma würde in irgendeiner Form eine gemeinsame „Gesellschaft“ bilden. Dabei trifft das in der vom Autor formulierten Verallgemeinerung nicht mal auf Roma eines einzigen Landes zu. Die einzige Gemeinsamkeit vieler Roma besteht wahrscheinlich in ihren Ausgrenzungserfahrungen.

Der Autor weiß in seinem Beitrag zur „Debatte“ des weiteren zu berichten:

„Dass Roma vor allem durch Betteln, Scheibenwischen und Prostitution auffallen, verdeutlicht aber eines: Viele haben sich mit ihrer Stellung am Rand abgefunden und scheinen es sich in ihrer Opferrolle bequem zu machen.“

Wenn Knobloch weiß, wodurch Roma (also mehrere Millionen von Menschen, zusammengefasst unter einer ethnischen Bezeichnung) „vor allem auffallen“, dann würde mich konsequenterweise interessieren, wodurch zum Beispiel Koreaner/innen, Schwed/innen, Brasilianer/innen, Araber/innen, Jüdinnen und Juden, Engländer/innen, Deutsche oder Russinnen und Russen und viele weitere „vor allem auffallen“.

Dann bringt der Autor das vielgenutzte Instrument „Opferrolle“ zum Einsatz. Sie funktioniert für alle diskriminierten und ausgegrenzten Menschen und dient als Zuschreibung aus der privilegierten Außenperspektive, um die Verantwortung für einen gesellschaftlichen Missstand auf die von dem Missstand Betroffenen abzuschieben. Interessant ist, dass die „Opferrolle“ in der Überschrift noch ein Fragezeichen trägt und wenig später vom Autor schon konstatiert wird, dass es sich „viele“ Roma in dieser bequem zu machen „scheinen“. Vom Zustand einer (zunächst offenen) Frage hat die „Opferrolle“ damit den Status einer unbelegten Eindrucksbeschreibung erhalten. In der nächsten Zeile wird sie dann schließlich zum unumstößlichen Fakt:

„Aber wie kriegt man sie aus dieser Rolle?“

Welche konkreten Fälle der Autor mit der „Opferrolle“ überhaupt verbindet, verrät er uns ja nicht, so wird wohl auch seine Frage unbeantwortet bleiben. Dafür verrät er uns etwas vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt: Er fragt wie „man sie“, also die „vielen“ der Millionen von Roma, zu etwas „kriegt“, und zwar heraus aus der „Opferrolle“. „Man“ (vermutlich einschließlich Herrn Knobloch) = Subjekt, die Roma („aus dieser Rolle gekriegt“ werden) = Objekt.

Vielleicht kommen wir dem eigentlichen Problem näher, wenn wir Menschen nicht zu Hunderttausenden und Millionen in nationale, religiöse, ethnische (…) Gruppen einteilen, um dann über diese Gruppen irgendwelche Vermutungen anzustellen. Das würde vielleicht den Aufwand bedeuten, dass wir Menschen plötzlich als Individuen wahrnehmen. Dann würden sich natürlich keine verallgemeinernden Aussagen über andere Menschen mehr treffen lassen oder diese kollektiv zu etwas „gekriegt“ werden müssen wie Objekte, aber stattdessen könnten wir ja unsere kritische Energie einsetzen, um mal auf uns selbst und unser eigenes Umfeld zu schauen. Und wenn wir tatsächlich Interesse daran hätten, dass Menschen ihre Probleme loswerden, dann suchen wir lieber keine Erklärungen in ethnischen oder kulturellen Einteilungen, sondern gehen auf die konkrete Person zu und geben ihr die Chance, als Individuum von uns wahrgenommen zu werden.

Oh, einen Menschen als Individuum wahrnehmen. Klingt ganz schön idealistisch. Aber nicht, weil wir weißen europäischen männlichen Traditionsdemokraten alle sofort zustimmen würden, sondern weil wir gleichzeitig genau wissen, wie das in der institutionalisierten Realität aussieht. Sich im alltäglichen Bürokratiewust zurechtzufinden fällt vielleicht sogar uns Privilegierten schwer. Von europaweitem institutionalisierten Rassismus (Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2009, pdf) bekommen die meisten von uns jedenfalls nichts zu spüren.

Nichts berechtigt uns, darüber zu urteilen, wie andere Menschen rassistische Diskriminierung und Ausgrenzung erleben. Im Gegenteil, wir könnten anderen Menschen helfen, indem wir sie über ihre grundlegenden Rechte aufklären. Zum Beispiel wenn eine „Handreichung“ des Berliner Senats über Rechtsgrundlagen zum „Aufenthalt von Roma und europäischen Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern“ derart fehlerhaft zu sein scheint, dass der Flüchtlingsrat Berlin ein mehrseitiges „Merkblatt mit Korrekturen zur Rechtslage für EU-Bürger/innen“ aus Bulgarien und Rumänien (pdf) herausgeben muss. (Die ursprünglich kritisierte Version des Merkblatts ist vom „offiziellen Hauptstadtportal“ verschwunden, kann aber hier als pdf nachgelesen werden.)

Konkret heißt das ja einfach nur, dort anzusetzen, wo wir Defizite in den Strukturen unserer „eigenen“ Gesellschaft sehen („eigen“ wie das „man“ im Sinne von Herrn Knobloch, wenn er zwischen „man“ und „Roma“ unterscheidet). Dann sehen wir mitunter plötzlich, dass die einen oder anderen Eltern aus Rumänien oder Bulgarien ihre Kinder gar nicht wegen fehlender Lust von der Schule fernhalten, sondern weil deutsche Behörden teilweise eine (von der UN stark kritisierte) Regelung anwenden, laut der Kinder ohne Wohnsitz in Deutschland nicht eingeschult werden dürfen.

Aufzählungen eines Journalisten, womit ihm Roma „auffallen“ und wo er sie hinkriegen will, bringen mir als Lesendem ja überhaupt nichts. Und die „Opferrolle“ ist mir vor allem eine Rolle zu rückwärts.

Die FAZ und der „Antiziganismus“¹

Ergebnis im „Wisch“-Vergleich mit dem Tagesspiegel


Im gedruckten FAZ-Feuilleton vom 14.7.2010 berichtet Julia Lauer unter dem Titel Du sollst dir kein Bildnis machen von einer Tagung des Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin über „Antiziganismus“ (9. und 10.7. [Programm – pdf]). Als Besucher und Referent dieser Tagung kann ich einige Punkte an Lauers Kritik teilen (dichtes Programm, wenig Zeit für Diskussion). Was ich nicht teilen kann, ist ihre Argumentation gegen den Eröffnungsvortrag von Wolfgang Benz:

Als Beleg für den anhaltenden Rassismus führte Benz einen Reisebericht der „Süddeutschen Zeitung“ an, dessen Autor Roma-Frauen als im Jammerton bettelnd und in knallig bunte Röcke gekleidet beschreibt. Unbestritten gibt es auch hierzulande Rassismus, gerade vorige Woche forderte die NPD die Abschiebung kosovarischer Roma aus Mecklenburg-Vorpommern mit Verweis auf deren kulturelle Fremdheit. Was aber den Zeitungsartikel betrifft, so ist schwer zu beweisen, dass die Wahrnehmung des Autors vom Klischee determiniert wird. Benz zieht gar nicht erst ins Kalkül, dass Klischees in der Erfahrung Bestätigung finden. Und sind Klischees wirklich per se rassistisch?

Wolfgang Benz wollte gar nicht die Wahrnehmung des Autors „beweisen“, sondern auf eine Tradition von Beschreibungen aufmerksam machen. Er verdeutlichte in seinem Vortrag sehr gut, dass der SZ-Artikel in der Tradition jener Reiseberichte steht, die „zivilisierte Europäer“ in den vergangenen Jahrhunderten über ihre Besuche bei „wilden Völkern“ anfertigten.

Das Problem in der Argumentation Lauers ist meines Erachtens ihre Definition von Rassismus. Die NPD bekennt sich offen zu ihren rassistischen Positionen, da hat man schnell sogenannte „Beweise“. Die Wesensmerkmale rassistischer Konstruktionen, wie sie Benz an der SZ exemplarisch zeigte, sind aber keine „beweisbaren“ Bekenntnisse, sondern jahrhundertealte und immer wiederkehrende Beschreibungsmuster bzw. Beschreibungsprioritäten. Der Autor des SZ-Artikels mag „bunte Röcke“ und „Jammerton“ tatsächlich vernommen haben – wesentlich ist aber die zentrale Stellung, die er diesen Äußerlichkeiten in seinem Reisebericht zukommen lässt. Sie verraten uns nichts über die beschriebenen Menschen in „bunten Röcken“, aber über den Blick und die Prioritäten des Autors.

Schwarze wurde im vergangenen Jahrhundert in den USA oder Europa von den meisten Weißen nicht als ebenbürtige Individuen ernstgenommen, da sie mit ihrer „kaffeebraunen“ oder „schwarzen Haut“, „Kräusellocken“, „großen Kulleraugen“, mal als Bedrohung, vielleicht mal als Opfer – fast immer als soziales „Problem“ – aber insgesamt eben reduziert auf bestimmte Attribute und damit nicht als Teil eines „Wir“ wahrgenommen wurde. Und es ist nichts anderes, wenn im Zentrum der Beschreibungen über Roma ihre „Wildheit“, ihre „bunten Röcke“, „Geheimsprachen“, „Jammertöne“ etc. stehen.

Rassismus lebt von der Ausblendung des Individuums zugunsten von „schwarzer Haut“ und „bunten Röcken“. Die NPD kann als Beispiel für bekennenden Rassismus herhalten, aber um den alltäglichen Rassismus wahrzunehmen, sollten wir auf uns selbst und unser eigenes Umfeld blicken.


Der „Wisch“-Vergleich zeigt: FAZ und Tagesspiegel stehen sich in nichts nach.

Rassismus in der Presse ist lange nicht auf das von Wolfgang Benz angeführte Beispiel in der SZ beschränkt. Ausgerechnet die FAZ, für die Julia Lauer schreibt, bietet ein sehr bedenkenswertes journalistisches Exempel: Vier Tage vor ihrem Artikel zur „Antiziganismus“-Tagung, nämlich am 10.7.2010, erschien in der FAZ der Artikel Wisch und Weg. Diesen Titel hat sich Maximilian Weingartner für die FAZ offenbar beim Berliner Tagesspiegel geborgt. Die Aufmachung auch: Unter dem Titel begegnet dem Leser eine bunt bekleidete Frau beim Putzen einer Autowindschutzscheibe. In welchem Verhältnis diese fotografierten Frauen zu den Artikeln stehen ist unklar, sie werden weder erwähnt noch zitiert. Sie dienen der Verbildlichung des Wortes „Scheibenputzer“ – als Individuen werden diese Frauen von den Autoren in FAZ und Tagesspiegel nicht wahrgenommen.

Derartige Abbildungen von Menschen, reduziert auf äußerliche Signal-Merkmale, dienen den Lesenden als vermeintlich spezifische Assoziationen für die, je nach Bedarf, beschriebene Gruppe. Hier sind es (in zwei voneinander unabhängigen Tageszeitungen und dennoch in nahezu identischer Weise) scheibenputzende Frauen in farbenfroher Kleidung auf Fotos für Artikel über „die Roma“. Andere Autoren benutzen vielleicht einen Mann mit Kipa in einem Artikel über israelische Außenpolitik oder einen Mann mit Turban in einem Artikel über Terrorismus. Diese Fokussierung auf Attribute, Äußerlichkeiten und Verbildlichungen ist ein Problem, das beim Verweis auf den offenen NPD-Rassismus unbeachtet bleibt. Denn ja: es gibt Roma mit Röcken, Israelis mit Kipas und Terroristen mit Turbanen. Das Problem entsteht aber mit der Reduzierung auf ebensolche Attribute bzw. mit den auf diese Attribute zurückgeführten Eigenschaftszuschreibungen – und daraus resultierenden Gruppenwahrnehmungen.

Kontextlose Fotos, die nur der Symbolik dienen, prägen sich bei den Lesenden ein. Ein bekanntes, immer wieder reproduziertes Beispiel ist das Portrait einer Figur mit großer Nase, die „den Juden“ mit „Hakennase“ stellvertretend für eine Gruppe verbildlichen soll.

Auch Begriffe und Attribute können in Bezug auf Gruppen geprägt werden, wenn sie in Beschreibungen über diese wiederholt auftauchen. Im FAZ-Artikel von Maximilian Weingartner taucht, ebenso wie im Tagesspiegel, das Wort „Kolonne“ als Betitelung für die beschriebenen Roma auf (FAZ: „Putzkollonne“, Tagesspiegel: „Scheibenwischerkolonne“). Dieser Begriff hat eine bedrohliche Konnotation, die im Zusammenhang mit den beschriebenen Menschen auf die Lesenden wirkt.

Weingartners Artikel ist außerdem exemplarisch für eine beobachtende Berichterstattung. Die beschriebenen Menschen werden dabei aus der Sicht anderer Menschen, aus der Distanz, mit nur minimaler Annäherung wahrgenommen. Neben verschiedenen Berliner Lokalpolitikern oder dem Polizeisprecher („Wir greifen nur ein, wenn es konkrete Beschwerden gibt, und die haben zugenommen“) zitiert Weingartner immerhin auch ein Mitglied der „Putzkolonne“:

„Es ist immer halb-halb. Manche Leute sind nett, andere böse“, sagt Santino in schlechtem Deutsch.

Wie viele Stunden Recherche in dieser Annäherung an „Santinos“ Leben stecken, weiß ich nicht. Statt weiterer Details über die Hintergründe hält der Autor offenbar seine eigenen Beschreibungen über die Menschen für erwähnenswert:

Santino hat einen wachen, frechen Blick, sein älterer Cousin Pepe guckt böse, der jüngste, Goldi, jugendlich unbekümmert.

Nein, das ist kein Schulaufsatz zum Thema „Beschreibe deine Haustiere“, sondern die FAZ mit einem ganz normalen Artikel über Roma. Nach seiner Expedition zum Kottbusser Tor kann der Autor auch die Überlebensstrategien der Kinder präzise schildern:

Seine Masche: Mitleid erwecken. Nicht seine Ausrüstung, also Wischer und Eimer, ist sein Kapital, sondern sein Lächeln, sein ärmliches Aussehen, seine traurigen Augen. Santino weiß, wann er traurig schauen muss und wann fröhlich.

Die beobachtende Haltung ist symptomatisch für derartige Beschreibungen. Der Autor weiß, was die Beobachteten denken, wie sie handeln und warum. Er beobachtet diese Menschen wie Tiere im Zoo und versorgt die Lesenden mit seinen Entdeckungen.

Meiner Meinung nach wissen Autoren, die für den Tagesspiegel und die FAZ schreiben, was sie tun. Sie wissen, dass sie ein Publikum haben, wenn sie das Lächeln von einen Tag lang beobachteten, „schlecht Deutsch“ sprechenden Kindern analysieren. Sie wissen, dass sie die gleichen Beobachtungen an allen Menschen der Welt oder an sich selbst machen könnten. Sie wissen auch, dass ein längeres Gespräch einschließlich Dolmetscher und eine Reise für die Hintergrundrecherche zu einem differenzierteren Ergebnis führen. Die Frage ist, ob man sich wirklich differenziert mit Menschen wie „Santino“ auseinandersetzen möchte. FAZ und Tagesspiegel haben sich in je einem Artikel identisch entschieden: „Wisch und weg“.

____
¹ Zur Kritik am Begriff vgl. z.B. Demirova, Filiz: „Wer spricht in der Antiziganismusforschung“.

Neukölln limited

Tagesspiegel und Respekt – Polizei und Journalismus (oder ohne und) in Zeiten der Respektlosigkeit


Wenn Journalisten die Respektlosigkeit der Bürger gegenüber Polizisten thematisieren, können Fakten schon mal als knetbare Auslegungssache ganz im Sinne journalistischer Unabhängigkeit verwendet werden.

Nicht so beim Tagesspiegel, hier spricht man nicht über irgendetwas, sondern es wird direkt vom „Brennpunkt“ aus berichtet. Und wer könnte neutraler über die Respektlosigkeit gegenüber Polizisten berichten, als ein Tagesspiegel-Journalist? Ein Polizist. Das spart den Tagesspieglern auch eigenen Rechercheaufwand.

Ein Schild mit der Beschriftung „Neukölln“ (Quelle: Jcornelius/ Wikimedia Commons)


„Neukölln“ in den Titel und ein neuer Beitrag ist (fast) fertig. Der trockene Polizeibericht muss nur in eine authentische, für das Tagesspiegel-Publikum nachvollziehbare Sprache gebracht werden. Gut dafür eignen sich direkte Zitate, in denen die Sprachschwächen der Delinquenten erkennbar werden:

„Warum, … hast du Problem?“ oder „Ich kenne Fahrer, bleib da, ich holen!“ sowie „Ich fahren Daimler – und jetzt?“ (tagesspiegel.de vom 1.6.2010 Was ein Polizist auf Streife in Neukölln erlebt)

In einem echten Neukölln-Artikel darf das nicht fehlen, so wird die Perspektive der Gegenseite, also der Menschen mit ähm, Migrationshintergrund, würdig in die Beschreibung mit eingeflochten. Nur auf dieser Grundlage können sich die Tagesspiegel-LeserInnen ihre eigene und unabhängige Meinung bilden.

Aber um dem Rassismus-Verdacht zu entgehen (bei häufigen Signalherkunftsbezeichnungen wie „türkische Frau“, „arabische Sätze“, „arabischer Herkunft“, „afghanischer Herkunft“ und den o.g. authentischen Slang-Zitaten) müssen den Migrationshintergründlern auch deutsche Polizeirespektlose an die Seite gestellt werden:

„Ach, übrigens: Die 16 Fahrradfahrer – allesamt ohne Migrationshintergrund –, die mir heute rasant und ohne schlechtes Gewissen auf den Gehwegen entgegenkamen, mich fast umfuhren, möchte ich nur vollständigkeitshalber erwähnen. Von ihnen bekam ich fast immer dasselbe zu hören: „Ist denn das Fahrradfahren auf dem Gehweg verboten?“, oder: „Kümmern Sie sich lieber um wichtigere Dinge!“ – in der Mehrzahl verbunden mit dem Hinweis, wie ökologisch wertvoll ihr Beitrag zum Straßenverkehr sei. Ihr persönlicher „Persilschein“ für jegliche Verkehrsverstöße.“ (tagesspiegel.de vom 1.6.2010 Was ein Polizist auf Streife in Neukölln erlebt)

Prima, nun ist der Neukölln-Bericht „vollständig“ und es wird ganz ausdrücklich betont, das auch perfekt hochdeutsch sprechende Menschen ohne Migrationshintergrund frech gegenüber Polizisten sind. Aber woher weiß der Autor, dass die RadfahrerInnen alle ohne Migrationshintergrund waren? Fehlender Slang? Sonnenbrand?

Halt halt halt, hier geht es nicht um Informationen, sondern um Eindrücke. Schließlich soll in der ganzen Polizeirespekt-Diskussion endlich mal einer der geschädigten Repräsentanten jener Polizei zu Wort kommen, die sonst von den Medien eher kritisch beäugt wird.

Zu tiefes journalistisches Vordringen in die Materie, zu viel kritisches Nachfragen würde nur die grundlegenden Probleme verschleiern. Längerfristige Betrachtungen der Berliner Polizeiarbeit, Bewertungen über Erfolge und Misserfolge von Strategien der Berliner Polizei, kritische Berichte über Polizeiausbildung, -strukturen, über die finanzielle Situation sind unnötig. Ganz zu schweigen von Background-Infos über fehlende Bildungs- und Sozialstrukturen in Berlin, überforderte Lehrer, überfüllte Schulklassen … das alles würde nur den echten Kern des Problems verschleiern. „Ich fahren Daimler – und jetzt?“ beschreibt das eigentliche Problem am besten. Darum: Was ein Polizist auf Streife in Neukölln erlebt (tagesspiegel.de vom 1.6.2010).

tagesspiegel.de: Kritik unerwünscht?

Wie tagesspiegel.de begründete, dass meine kritischen Anmerkungen nicht in den Kommentarspalten von tagesspiegel.de auftauchen sollen.


Alles begann mit dem Tagesspiegel-Artikel „Wisch und Weg“ bzw. Scheibenputzer – wisch und weg. In diesem Artikel fiel mir die Häufigkeit von Schlagworten auf, die im Zusammenhang mit den Roma dort verwendet wurden, sodass ich eine kleine Collage aus den drastischsten dieser Signalwörter anfertigte. Ich wollte damit verdeutlichen, wie schematisch in dem Tagesspiegel-Artikel negativ konnotierte Attribute im Zusammenhang mit der ethnischen Bezeichnung Roma aufgezählt werden.

Was dieser Artikel auslöst, wurde für mich auch wieder am Minderheiten-Bashing in der Kommentarspalte zu dem Tagesspiegel-Artikel sichtbar. Und hierbei handelt es sich wohlgemerkt ausschließlich um redaktionell geprüfte Inhalte – ich würde gern Anzahl und Inhalt der noch offener rassistischen Kommentare kennen, die es nicht durch den Filter schafften. Hier einige Auszüge aus den von tagesspiegel.de zugelassenen Kommentaren:

von kalliope | 16.05.2010 09:39 Uhr | Schlecht: 0 Stimmen | Gut: 8 Stimmen
Scheibenputzer
Ja, sie nerven. Nein, nicht das Elend, sondern „sie“: Die Scheibenputzer, „Musiker“ in den öffentlichen oder Akkordeon-Körperverletzer in der Fußgängerzone, Hallo-Motzzeitungsträger oder Hallo-Einkaufswagenzusammenschieber vorm Supermarkt (kennen wir uns?) und all die anderen, die mich per direkter Belästigung beglücken wollen mit etwas, dass ich nicht haben will. […]

von christina | 16.05.2010 11:24 Uhr |Schlecht: 0 Stimmen | Gut: 4 Stimmen
schelmisch?
Ganz ehrlich, die Herrschaften sind nicht schelmisch. Sie sind dreist und oft auch bedrohlich. […]

von achauffeur | 16.05.2010 13:06 Uhr | Schlecht: 0 Stimmen | Gut: 0 Stimmen
Antwort auf iustus vom 16.05.2010 11:34 Uhr
danke
danke für diese worte. sie sind völlig auf den punkt. was immer diese volksgruppe auch in „ihren“ ländermn ausgesetzt ist – mit ihrem verhalten hier machen sie sich jedenfalls auch keine freunde.

von super.neon | 16.05.2010 13:55 Uhr | Schlecht: 0 Stimmen | Gut: 2 Stimmen
Wegelagerer
Ich bin es Leid, an jeder größeren Kreuzung die Scheibenwischer anstellen zu müssen um nicht diesen Wegelagerern mit ihren Schmutzwasserattacken zum Opfer fallen zu müssen […]
Was diese im Newspeak genannten Roma da betreiben ist 100 prozentige Nötigung, die Untätigkeit der Stadtverwaltung ein Skandal! […]

von nurbis | 16.05.2010 17:29 Uhr | Schlecht: 2 Stimmen | Gut: 2 Stimmen
Antwort auf NurProbleme vom 16.05.2010 11:03 Uhr
Das wird üblich sein[…] Merken die Fensterputzer, dass es kein Problem ist, so zu handeln, müssen wir eben blechen oder haben zerkratzte Fahrzeuge.[…]

von henchan | 16.05.2010 21:18 Uhr | Schlecht: 0 Stimmen | Gut: 1 Stimme
[…]
Zuerst waren es die Punks, dann Polen oder andere Osteuropäer.
Einmal Kopfschütteln reichte. Wer hier aber negativ auffällt, sind eben die Sinti und Roma, oder Roma oder Sinti. Wie auch immer.
Es sind definitiv nicht alle Roma, aber aus ihrer Gruppe rekrutiert sich doch der grösste Teil, die für die Unannehmlichkeiten sorgen.
Schade eigentlich, dass sie an ihrem negativen Image arbeiten.

Das ist nur ein Auszug. Kritische Bemerkungen über den Tagesspiegel-Artikel gibt es kaum, in den meisten Kommentaren wird sich Luft zum Thema Roma, Fensterputzer oder „Wandervölker“ gemacht, nur in einigen Kommentaren wird eine sachliche Diskussion gefordert. Ich wollte nun auch meinen Standpunkt zu dem mit negativen Schlagworten konnotierten Artikel posten. So machte ich es mir bequem und verwies auf meine Tagesspiegel-Schlagwort-Collage (ca. 13:00):

Titel
viele Schlagworte
Text
… wie immer bei diesem Thema. Aus den verwendeten konnotierten Begriffen lässt sich ein Roma-Artikel-Bauset machen: http://sibiuaner.noblogs.org/2010/05/15/roma-artikel-bauset/

Der Kommentar erschien nicht. Ich dachte mir, dass vielleicht das einfache Verweisen auf einen Link für die online-Redaktion nicht als Kommentar durchgeht. Darum startete ich einen zweiten Versuch und tippte einen etwas ausführlicheren Kommentar (ca.16:00, inzwischen hatte ich auch eine Mail an die Tagesspiegel-Online-Redaktion geschrieben, in der ich um eine Erklärung für die nächtliche Umbenennung des Artikels bat – diese Mail erwähne ich hier in dem Kommentar:)

Titel
zweiter Versuch
Text
Vielleicht habe ich diesmal Glück. Mein vorheriger Kommentar hat es leider nicht durch die „redaktionelle Prüfung“ geschafft. Vielleicht liegt das daran, dass ich der Online-Redaktion auch eine Mail geschrieben habe, in der ich auf meinen Blogeintrag (sibiuaner.de) hinweise. Oder es liegt an meiner Frage in der Mail, warum der Titel des Artikels übernacht von „Wisch und weg“ in „Scheibenputzer – wisch und weg“ geändert wurde. In meinem Bloghabe ich die Schlagwörter des Artikels extrahiert, um zu zeigen, wie einfach man einen Artikel über Roma basteln kann. Bestimmte negativ konnotierte Stichworte a la „unerwünschte Wischer“, „schelmig“, „Scheibenputzkolonne“ etc. sorgen nämlich für die richtige Stimmung in so einem Artikel. Enttäuschend, dass der Tagesspiegel sich weiter als Plattform für unsachliches Minderheiten-Bashing hergibt. Liebe Grüße Hendrik Kraft.

Auch dieser Kommentar erschien nicht. Ich fragte nun in die Kommentarspalten und zu Twitter hinein, warum meine Kommentare nicht publiziert würden. Dann hatte ich plötzlich eine Antwortmail im Posteingang:

Sehr geehrte/r sibiuaner,

wir haben Ihren Kommentar nicht veröffentlicht, da Sie uns Stimmungsmache unterstellen.
Unsere Autoren setzen sich gerne mit sachlicher Kritik an unseren Artikeln und der Themenwahl auseinander, jedoch ohne Unterstellungen und Vorwürfe.

Mit freundlichen Grüßen,
die Community-Redaktion/ es

Also meine fehlende Sachlichkeit war das Problem. Das hätte ich wissen müssen, dass für Autoren, die ihre Artikel über autoputzende Roma „Wisch und weg“ nennen sowie für eine online-Redaktion, die oben zitierte Kommentare zulässt, natürlich Sachlichkeit an erster Stelle steht. Ich antwortete:

Sehr geehrte Community-Redaktion,

vielen Dank für die offene Information. Ich finde es schon ziemlich interessant, dass Sie mir Stimmungsmache (hatte mich hier wirklich vertippt, dann aber per Mail korrigiert) Unterstellungen vorwerfen in Anbetracht der Schlagworte, die ich aus Ihrem Artikel gezogen habe. Aber gut, Sie wollen sich mit meinen Vorwürfen nicht auseinandersetzen, das ist Ihr gutes Recht und spricht für Ihre Arbeitsweise. Schade, dass Sie mich als Leser nicht ernstnehmen, sondern mir ein Vorwurfsverbot erteilen.

Nun zu Ihren 3 Vorwürfen (1. „Stimmungsmache“ |2. „Unterstellungen“ |3. „Vorwürfe“), mit denen ich mich gern auseinandersetze:
1. Ich unterstelle Ihnen zunächst mal keine Stimmungsmache, sondern gehe vom Bestmöglichen aus. Der Rückgriff auf Schlagworte wie „Wisch und weg“, „unerwünschte Wischer“, „schelmig“, „Scheibenputzkolonne“ usw. mag völlig naiv und ohne böse Absicht Ihrer Autoren passiert sein. Ich halte diese Begriffe aber für fatal, insbesondere mit Bezug auf eine ethnisch definierte Gruppe. Wenn man nicht weiß, was solche klar negativ konnotierten Begriffe mit Bezug auf Roma, Juden, Homosexuelle oder wie auch immer definierte und betitelte Minderheiten für Folgen haben können, ist das sogar sehr gefährlich. Wenn Sie es für Stimmungsmache Unterstellungen halten, dass ich in meinem Blog und in meinen Kommentaren auf die o.g. von Ihnen gemachte Wortwahl bezugnehme, diese sogar einfach nicht veröffentlichen, bin ich von Ihrem Medium noch enttäuschter, als ich es nur durch den einen Artikel war.
2. Ich unterstelle Ihnen nichts, ich habe Sie nur zitiert.
3. Ein journalistisches Medium, in deren Kommentarspalten man keine Vorwürfe posten darf, erinnert mich an andere Zeiten oder andere Länder.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich eines Tages über kritische Leser freuen und Vorwürfe zum Anlass nehmen, nachzudenken und zu diskutieren, statt zu löschen.

Mit freundlichen Grüßen
Hendrik Kraft.