Glücksspiel Internierung

Willkommen in der Europäischen Union – über Griechenland nach Nirgendwo


Menschen, die aus verschiedensten Gründen Zuflucht in Europa suchen, haben keine Lobby. Journalisten haben die politische Bezeichnung der „illegalen Einwanderung“ mehrheitlich übernommen – ungeachtet der Tatsache, dass dieser Begriff schutzsuchende Menschen mit egal welchen (lebensbedrohlichen) Gründen kriminalisiert. Während Polizei und Frontex im Jahr 2009 etwa 9000 Menschen an der EU-Grenze aufgriffen und verhafteten, wurden Ende Oktober für das Jahr 2010 bereits 34.000 Inhaftierungen gezählt, berichtet Pro Asyl.

Griechenland ist der Name eines europäischen Landes, in dem momentan wohl 80% der illegalisierten Flüchtlinge erstmals europäisches Festland betreten, so der ORF: Die Sendung WELTJournal widmete sich am 27.10.2010 mit einem Beitrag namens „Griechenland – Flucht ins Nirgendwo“ der Situation dieser Menschen, die an der Grenze abgefangenen und zumeist interniert werden (Bericht entdeckt via porrporr bei twitter). Spyros Kouloheris, der in dem ORF-Bericht als Rechtsanwalt für Asylangelegenheiten vorgestellt wird, sagt in dem Zusammenhang:

Ich schäme mich für das, was ich hier sehe. Es ist wie beim Glücksspiel Zufall, ob du interniert wirst oder nicht.

Kouloheris sagt auch, dass er es darum für ein „Verbrechen“ halte, wenn ein EU-Land Flüchtlinge nach Griechenland „zurück“schickt. Während Österreich auf die aktuelle Situation in Griechenland offenbar mit einem „teilweisen Abschiebestopp“ reagierte, beschäftigt sich in Deutschland noch das Bundesverfassungsgericht mit der Klage eines Irakers gegen seine Abschiebung nach Griechenland.

Der TV-Beitrag wurde vom ORF online gelöscht.


Siehe auch:
Ausführlicher Überblick zum Thema mit weiterführenden Links von ed2murrow im Freitag-Blog: Recht auf Asyl, die verlorene Unschuld.

Signal, 20.10.2010

Herbst 2010


Ein Team von Amnesty International besuchte Roma in Miercurea Ciuc (Rumänien), die vor über sechs Jahre aus ihren Häusern vertrieben wurden. Die NGO musste feststellen, dass diese Menschen immer noch „wie Müll behandelt“ werden und unter menschenunwürdigen Bedingungen nahe einer Abwasseranlage angesiedelt sind – die Stadtverwaltung gibt sich planlos: Roma community in Romania still treated like waste six years on.

Von der Abschiebung bedroht sind Roma in Göttingen, so Ita Niehaus und Susanne Schrammar im gestrigen Länderreport auf Deutschlandradio Kultur. Mehr zur niedersächsischen Abschiebepraxis zum Nachlesen oder Nachhören [→mp3].

Der Deutschlandfunk sendete am 7.10. einen Beitrag von Dorothea Jung: Gefahr für die Gesellschaft – Die Islamfeindlichkeit in Deutschland nimmt zu. Die wachsende Verbreitung eines Feindbildes wird darin unter die Lupe genommen (zu Wort kommt u.a. auch Yasemin Shooman, Doktorandin am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung). Der Beitrag ist nachlesbar und -hörbar: [→mp3].

Yasemin Shooman kam vorgestern auch für das Internet-Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ mit einem Text zu Wort. Hierin zeigt sie knapp und auf den Punkt gebracht, dass der „rechte Kampfbegriff“ der „Deutschenfeindlichkeit“ eingesetzt wird, um von Machtverhältnissen, strukturellem Rassismus und institutioneller Ausgrenzung abzulenken: „Deutschenfeindlichkeit“ – Was soll das sein?

Ich habe es mir gestern Vormittag nicht nehmen lassen, beim Twitter-Account der Familienministerin Kristina Schröder (einer großen Verfechterin des Begriffs „Deutschenfeindlichkeit“) anzufragen, ob sie die von Shooman angeführten Fakten zur Herkunft und zur Bedeutung des Begriffs „Deutschenfeindlichkeit“ kenne – die Antwort lieferte mir dann ein am Abend gesendeter Fernsehauftritt der Ministerin im ZDF (hoffentlich noch nicht depublished).

Zuguterletzt ein sehr guter Artikel von Johnny Haeusler bei spreeblick, der die aktuelle populismusdurchtränkte Situation vergleichend mit der Stimmung in den 90er Jahren analysiert und benennt: Scheiter-Haufen.

Signal, 23.9.2010

Umgang MitMenschen


Andreas Meyer-Feist ließ in seinem Beitrag vom 17.9.2010 im Rahmen der Deutschlandfunk-Sendung „Europa heute“ Roma aus Österreich zu Wort kommen (z.B. Harry Stojka und Rudolf Sarközy). Mit Förderung, Unterstützung und insbesondere Anerkennung durch den österreichischen Staat wird die gesellschaftliche Teilhabe der Roma dort ohne Assimilationszwänge offenbar erfolgreich gefördert. (Text & Audio aus dem dRadio-Archiv verschwunden)

Drei Tage später, am 20.9.2010, wurden in der gleichen Sendung „Europa heute“ Menschen vorgestellt, die am Flughafen Prishtina mit „Sondermaschinen“ ankamen: abgeschobene Roma aus Deutschland. Dirk Auer versuchte die Atmosphäre einzufangen – bei der Ankunft im Kosovo von Menschen, die mit geltendem deutschen Recht aussortiert wurden. (text)

Nächste Woche Donnerstag (30.9.2010) gibt es von Sevasti Trubeta (Ägäis-Universität Mytilene) um 16:15 Uhr einen Vortrag mit dem Titel: Roma-Abschiebungen nach Südosteuropa. Die Grenzen der Europäischen Bürgerschaft. Veranstaltungsort ist die HU Berlin, genauer das Institut für Slawistik (Dorotheenstraße 65, Raum 5.57, 5. Stock). Veranstalterin ist die Südosteuropagesellschaft, Zweigstelle Berlin.

Tut doch nicht so!

Polemischer Einwurf


Wer mit den kollektiven Entfernungen der Roma aus Frankreich einverstanden ist, sollte zu seinem Rassismus stehen. Viel mehr ärgert mich, wie heuchlerisch Viele das idealistische Menschenbild der EU-Grundrechtecharta hochhalten – aber nur, solange es ein theoretischer Text ist. Der Artikel 19 darin hat die Überschrift „Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung“ und da steht unter §1: „Kollektivausweisungen sind nicht zulässig“. Dieser Artikel resultiert aus der Erkenntnis, dass Menschen Individuen sind und nicht nach irgendwelchen Gruppenkriterien behandelt werden dürfen. Der Artikel bringt die Ablehnung einer Menschenlogik zum Ausdruck, die in der NS-Zeit die Politik bestimmte.

Internationale Medien schauen jetzt auf die Politik Sarkozys. Entrüstung macht sich breit. Ich finde das heuchlerisch, denn bereits vor einem Jahr zeigte sich dort in der behördlichen Praxis ein sehr beunruhigendes Menschenbild. Auch gegenüber Italien gibt es hier und da verkaufsfördernde Medial-Entrüstung. Biometrische Erfassung von Menschen, einschließlich Kindern, nach kollektiven Gesichtspunkten – diese perverse Realität hat sich etabliert! In Umfragen stimmen große Bevölkerungsteile solchen rassistischen Vorgehensweisen zu. Es ist ja ganz schön, dass die Presse noch Ansätze rassismuskritischer Reflexe zeigt, aber genauso schnell ist das Thema dann wieder verschwunden.

Diese rassistischen Kollektivbehandlungen interessieren immer besonders, wenn man sie an Sarkozy oder Berlusconi festmachen kann. Die Bad Boys in der Saubermann-EU. So ein Quatsch! Diese Herren repräsentieren Europa und sie repräsentieren ein in Europa nicht wenig verbreitetes Menschenbild. Nicht an der EU-Charta lässt sich der Zustand unserer Gemeinschaft ablesen, sondern am alltäglichen Umgang mit Menschen. Berlusconi und Sarkozy zeigen uns, was möglich ist. Mit rassistischer Politik erhöhen die beiden ihren Beliebtheitsgrad. Das heißt nicht die beiden Herren Politiker sind das Problem, sondern die große Menge Menschen, die ihre Ansichten teilen!

Jetzt zu Deutschland. Wenn ich diese Empörung über Sarkozy in vielen deutschen Medien lese, wird mir übel. Nicht wegen der Artikel selbst, sondern weil ich weiß, was die gleichen Zeitungen sonst abdrucken. Der Buhamann Sarkozy wird jetzt zum Anlass genommen, Artikel von kritischen Journalisten abzudrucken und an europäische Ideale erinnern zu lassen. Ekelhaft. Die gleichen Redaktionen hätten in letzter Zeit die Gelegenheit gehabt, jeder einzelnen der grausamen Abschiebungen von Roma ins Kosovo einen Artikel zu widmen. Jetzt tun diese Redaktionen plötzlich so, als ob die Roma in Europa ihnen eine Herzensangelegenheit wären. Das ist doch heuchlerisch. Denn wenn Sarkozy und Berlusconi nicht gerade offenen Rassismus praktizieren, segnen jene deutschen Redaktionen Artikel ab, in denen Roma als drohende Einwanderungsgefahr, „penetrante Wischer“ und mit plärrenden Kindern vorgestellt werden. Die Überschrift „Wisch und weg“ wird in identischer Weise von mehreren Zeitungen als adäquat empfunden, über Roma zu berichten, mit denen man lernen müsse, zu leben.

Und als vom Landesparlament in Schleswig-Holstein entschieden wurde, dass der Minderheitenschutz für die dort autochthonen Sinti und Roma im Gegensatz zu anderen Gruppen nicht in die Landesverfassung übernommen wird, blieb der mediale Aufschrei auch aus.

Wer sich für eine derartige mediale Verarbeitung von Menschen entscheidet, bereitet den Nährboden für rassistische Praxis. Man sollte mit dem Kritischsein bei sich selbst anfangen, nicht bei Sarkozy oder Berlusconi.

Ich soll mich freuen, dass das überhaupt thematisiert wird? Nein, auf keinen Fall. In ein paar Wochen ist der internationale Rummel um Sarkozy vergessen. Und der herablassende Umgang mit Roma in Deutschland wird genauso wenig beachtet, wie immer.

„Lernen müssen, mit ihnen zu leben“

Vom Müssen


Der aus einer Einwandererfamilie stammende französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy sorgt gerade für Schlagzeilen wegen seines Umgangs mit Einwanderern. Damit gibt er uns (Menschen) den Anlass, über unser Menschenbild, kulturelle Vielfalt und über unsere Vergangenheit zu reflektieren. Diesen Anlass kann man nutzen. Oder man reduziert die Ereignisse um Sarkozy und Co auf ein Problem namens „die Roma“.

Karl-Peter Schwarz hatte mit seinem Artikel Lernen, mit der Minderheit zu leben in der FAZ sicher gute Absichten. Problematisch aber sind die Muster, mit denen er jene „Minderheit“ wahrnimmt – denn nach diesen Wahrnemungsmustern sind nicht die rassistischen Reflexe unserer Gesellschaft das zentrale Problem, sondern „die Roma“.

Zunächst ist da die klare Einteilung in „Wir“ und „Die“. „Wir“, das sind natürlich neben den FAZ-Lesern alle Europäer der Nationen und „Die“, das sind die Roma. Das ist eine Falle. Wenn wir adäquat beschreiben wollten, wozu Sarkozys Frankreich und andere Länder (siehe deutsche Abschiebungen ins Kosovo) fähig sind, müssen wir die Einteilung „Wir“ versus „Die“ aufgeben. Wir müssen „die Roma“ nicht unter einem ethnischen Sonderzeichen, sondern als Menschen, als Teil des „Wir“ wahrnehmen. Nur so können wir begreifen, was da gerade für geisterhafte Prozesse ablaufen.

Zusätzlich zu dieser konstruierten Zweiteilung behauptet Schwarz, die Roma seien „sehr auf Separation bedacht“. Das ist eine fahrlässige Behauptung, die zwar sehr weit verbreitet ist, aber deswegen nicht wahrer wird. Der Vorwurf ist eigentlich auch ausgelatscht, denn allen Minderheiten wird oft und gerne Assimilationsunwilligkeit unterstellt. Der Vorwurf ist außerdem alt(bewährt), so mussten sich auch die europäischen Juden Eigenbrödelei und „Separation“ vorhalten lassen (an dieser Wahrnehmung haben auch bestens „integrierte“ Juden nichts geändert). Dieser Vorwurf hat einen Zweck: Die Kausalität der Ausgrenzung wird umgedreht. Ursache und Wirkung werden vertauscht, sodann ist nicht mehr die Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft das Problem, sondern das Problem ist plötzlich die ausgegrenzte Minderheit selbst. Damit kann man jede Verantwortung von sich weisen und überhäuft der stigmatisierten Gruppe die Schuld an ihrer Lage.


Der französische Innenminister Brice Hortefeux lässt Sarkozys Anordnungen Taten folgen.
(Screenshot aus Al Jazeera-Beitrag über französische Roma-Ausweisungen, 19.8.2010)

Nur wenn wir die „Wir“-„Die“-Logik verwerfen und bereit sind, die Ursachen für Rassismus und Diskriminierung bei uns selbst zu suchen, können wir uns dem eigentlichen Problem nähern. Alles andere dient der Ablenkung und Vermeidung von Selbstkritik.

Eine „Lösung der Roma-Frage“ zeichnet sich nicht ab, nicht auf der Eben der Nationalstaaten und auch nicht auf der europäischen. Nach den Slowaken, Ungarn, Serben und Rumänen werden auch andere europäische Nationen allmählich lernen müssen, mit ihnen zu leben.

Davon abgesehen, dass mir die Wendung „Lösung der Roma-Frage“ (wenn auch in Anführungszeichen) sehr unglücklich gewählt scheint, entfaltet sich in dem zitierten Satz von Karl-Peter Schwarz dieses Denkmuster: „Wie Europäer“ haben ein Problem, für das wir keine „Lösung“ finden, nämlich ein Problem namens „Roma“. Der Informationswert dieser Aussage, bei allem Respekt für die FAZ und Herrn Schwarz, ist nicht nur gleich Null, sondern er entspricht einer europäischen Tageszeitung an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert (und dürfte schon zu diesem Zeitpunkt einigen Menschen als rückständig erschienen sein).

Wer „Roma“, „Türken“, „Juden“, „Schwule“, „Katholiken“, „Muslime“, „Raver“ als „Problem“ definiert, lenkt von sich selbst ab. Karl-Peter Schwarz verliert kein Wort darüber, welche Ursachen für Phänomene wie Ausgrenzung, Diskriminierung und Abschiebungen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft zu suchen sind. Sein Vorschlag, wir müssten lernen „mit ihnen“ zu leben, mutet so an, wie es dROMaBlog auf den Punkt brachte: als müssten wir lernen, mit einer Krankheit zu leben.

Wir werden keines unserer Probleme lösen, indem wir den Finger auf sozial oder ethnisch definierte Gruppen richten. Wir müssen den Finger auf uns richten, unsere Regierungsvertreter und unsere Zivilgesellschaft. Wir müssen uns fragen, wie sehr wir Humanität und Aufklärung nicht nur als Worthülsen für unsere europäische Identitätskonstruktion verstehen, sondern tatsächlich bereit sind, Menschenwürde, Offenheit und Demokratie in unserem konkreten, alltäglichen Handeln umzusetzen.

Wie gesagt, ich bin der Meinung, Karl-Peter Schwarz versperrt sich selbst die Sicht auf das Wesentliche. Interessanterweise hält er im Verlauf seines Artikels fest:

In Italien wird zwischen Roma und Rumänen kaum unterschieden.

Diesen Punkt könnte er doch als Beleg dafür nehmen, dass Rassismus und Diskriminierung generell irrational sind und die Definitionshoheit darüber, wer ausgegrenzt wird, immer bei denen liegt, die ausgrenzen. Diese Feststellung hätte er als Steilvorlage nutzen können, um zu zeigen, dass Ausgrenzung nicht auf dem angeblichen Gegensatz zwischen Nationalstaat und Roma basiert, sondern dass „Wir“-„Die“-Konstruktionen beliebig und austauschbar sind. Das macht Schwarz nicht.

Stattdessen weiß Schwarz von der ethnischen Homogenität rumänischer Roma zu berichten. So behauptet er verallgemeinernd über alle rumänischen Roma:

Manche ihrer traditionellen Berufe sind längst ausgestorben, aber die Kasten, die sich auf sie gründeten, haben überlebt.

Zweifellos gibt es auch unter den Roma familiäre und soziale Netzwerke, wie unter allen Menschen, vom Banker bis zum Punker. Aber das Wort „Kasten“ entspringt wohl eher einer entdeckerischen Wunschvorstellung, nach der alle rumänischen Roma Teil eines funktionierenden Gesamtsystems sind. Mit der realen Situation rumänischer Roma hat das so viel zu tun, wie Sauerkraut und Lederhosen mit meinem Alltag: nichts.

Zum Schluss behauptet Schwarz, die Eigenbezeichnung „rom“ aus dem Romani sei verwandt mit dem griechischen „rhomaios“. Das lässt sich meines Wissens überhaupt nicht belegen, stattdessen deutet alles, wie bei vielen Romani-Vokabeln, auf eine Sanskrit-Etymologie hin. Wer will kann sich dazu bei Wikipedia warmlesen (1, 2, 3, 4).

Die von Sarkozy abgeschobenen Menschen sind jetzt in Bukarest. Es wird weitere Abschiebungen geben, Deutschland plant bereits die Abschiebungen Tausender. Solange wir die betroffenen Menschen als Problem definieren, werden die inhumanen Akte ihnen gegenüber weitergehen und vielleicht schlimmere folgen.

Ich möchte nicht lernen müssen, mit Rassismus und Diskriminierung in Europa zu leben. Die aufgewärmten Märchen in der deutschen Presse, mit denen uns die Andersartigkeit der Roma weisgemacht werden soll, haben rein gar nichts mit unseren Problemen zu tun. Was wir lernen müssen, hat mit uns selbst zu tun.