Brüderle bei Anne Will: Abwarten statt Kommunismus

… dann wird es ganz bald allen besser gehen


In der letzten Anne Will Sendung hatte ich die Möglichkeit zu sehen, wie ein amtierender Spitzenpolitiker und Minister demaskiert wurde. Dies geschah dank der beiden bestimmenden Figuren in der Runde, Aelrun Goette und Christoph Butterwegge. Die Regisseurin Goette wies auf das Fehlen von Inhalten bei den gegenseitigen Angriffen hin (wörtl. u.a.: „Für mich ist das eine Scheindebatte, man stürzt sich auf das K-Wort und zerfleischt sich gegenseitig.“) und sie vermisse in der aktuellen Diskussion den konstruktiven Bezug zu den Sorgen und Bedürfnissen der Menschen, worauf Rainer Brüderle nicht einen konstruktiven Satz erwidern konnte. Aber insbesondere die vorgetragenen Fakten (Statistik-Tricks bei Arbeitslosenzahlen, steigende Armut uvm.) des Politikwissenschaftlers Butterwegge ließen den Bundeswirtschaftsminister alt aussehen. Der zog sich auf religiös anmutende Wachstumspredigten zurück und hatte der unaufhaltsam anwachsenden Armut verbal nur eine Empfehlung entgegenzusetzen: Abwarten. Es dauere nicht mehr lange, dann geht es allen besser …


Sendung online sehen: Wirtschaftsboom und Jobwunder – wer träumt da noch vom Kommunismus?

Siehe auch:

Der Kommunismus bei „Anne Will“: eine Farce von Katharina Schmitz im Freitag-Blog

Meine erste Akte – in den USA? + Nachtrag

Sammelwut


Mein Vater hatte eine Akte bei der Stasi, weil er zu DDR-Zeiten beruflich regelmäßig ins „kapitalistische Ausland“ reiste. Ich habe die Akte gesehen, sie ist nicht groß und eben so, wie man sich so eine Akte vorstellt. In Beamtensprache finden sich dort Bemerkungen zur beschaulichen Plattensammlung meiner Eltern, zu Titeln aus dem Bücherregal und dem Zeitungsständer. Ich stellte offenbar keine Gefahr für den Staat dar als Kind und so bin ich nur einmal ganz kurz erwähnt. An dieser Akte wurde mir deutlich, was oft als Charakteristikum östlicher Geheimdienste angeführt wird: Die Sammelwut. Stasi, Securitate usw. sammelten haufenweise mehr oder weniger sinnlose Daten, nur aus Angst vor der eigenen Bevölkerung – so das gängige Bild.

Gestern wurde bekannt, dass das US-Justizministerium den Mikroblogging-Dienst Twitter anwies, sämtliche private Daten der Accounts von Wikileaks-Mitarbeitern bzw. -Sympathisanten zu übergeben. Und jetzt wurde gemeldet, dass das US-Justizministerium nicht nur die Daten einiger Wikileaks Nahestehender einsammelte, sondern Twitter aufforderte die privaten Daten sämtlicher 637.000 Wikileaks-Follower herauszurücken. (siehe Nachtrag unten) Auch ich bin unter diesen 637.000 Followern von Wikileaks, das heißt im Rahmen der US-Ermittlungen liegen nun auch meine privaten (nicht-öffentlichen) Daten, die Twitter von mir hat (etwa Passwort, IP-Adressen und damit Aufenthaltsorte …), einer US-Behörde vor.

Von heute auf morgen bin ich nun offenbar im Rahmen von Ermittlungen gegen Wikileaks auch auf den Schreibtisch der US-Ermittlungsbehörden geraten. Das beunruhigende an der Sache ist, dass die US-Behörden nicht wollten, dass ich und die anderen das erfahren. Nur weil Twitter sich gegen die Forderung der US-Behörden auf Geheimhaltung wehrte, wurde die Sache bekannt. Inzwischen ist auch das Dokument des US-Justizministeriums geleakt worden.

Zusammengefasst heißt das, ich habe nur per Zufall und gegen den Willen der US-Behörden davon erfahren, als einer der Follower von Wikileaks ins Visier der US-Ermittlungen geraten zu sein. Dass ich das weiß (bzw. ursprünglich eben Twitter und Wikileaks), ist praktisch ein Unfall. Von wie vielen Fällen, in denen private Daten über mich von Internet-Diensten an staatliche Behörden übermittelt werden, weiß ich nicht? Der Rechtsanwalt und law-blogger Udo Vetter redet von „Stapelweise Gerichtsbeschlüssen“ täglich allein in Deutschland, die „Provider und soziale Netzwerke zur Herausgabe aller Daten des Nutzers“ verpflichten.

Noch beunruhigender ist dann die Frage: Wenn diese sensiblen Daten allein per Richterbeschluss täglich an Behörden übergeben werden, welche Daten mögen dann wohl Geheimdienste erst sammeln? Der kürzlich enttarnte V-Mann in Heidelberg oder eine (inzwischen als rechtswidrig verurteilte) Überwachungsaktion gegen einen Journalisten durch den Verfassungsschutz sind nur zwei beunruhigende Fakten, die auf ein behördliches Überwachungsinteresse in Deutschland hinweisen.

Darüber, was deutsche oder andere Behörden heimlich an Daten über mich sammeln, kann ich nur spekulieren. Ganz zu schweigen von Geheimdiensten. Welche Daten aber das US-Justizministerium nun von mir hat, sollte ich nicht wissen, weiß ich aber gegen den Willen von US-Behörden. Geheimgehaltene, staatliche Sammelwut ist seit heute in meinen Augen kein typisches Charakteristikum mehr für „Ost“-Geheimdienste oder -Behörden.

Nachtrag, 10.1.2011
Offenbar existieren unterschiedliche Interpretationen der Formulierungen in dem Schreiben der US-Justiz. Während bisherige Medienberichte sich auf die namentlich in dem Dokument erwähnten Personen beschränken, da diese damit ganz explizit im Fokus der Ermittlungen stehen, warnt Wikileaks per Tweet (s.o.), dass alle seine Follower von den Ermittlungen betroffen sein dürften. Diese Warnung bezieht sich offenbar auf die formulierte Forderung an Twitter, alle

…customer or subscriber account information for each account registered to or associated with [xyz]…

zu liefern – demnach bezieht sich die US-Justiz nicht nur auf die Accounts der benannten Personen, sondern auch auf die Accounts ihrer subscriber („Abonnenten“, Follower). Auch die Formulierung „associated with“ ist ein Hinweis, dass die Informationen zu allen mit den genannten Personen im Zusammenhang stehenden (verbundenen? verknüpften?) Accounts gemeint sind, also konkret die der Follower. Bitte korrigiert diese Deutung, wenn Ihr abweichende Hinweise seht.


Siehe auch:

DOJ subpoenas Twitter records of several WikiLeaks volunteers von Glenn Greenwald.

Und für den Gesamtkontext ist die schwedische Dokumentation in der vom ORF bearbeiteten deutschen Version (Dezember 2010) sehr interessant, sofern Ihr sie nicht schon kennt: https://www.netzpolitik.org/2010/deutsche-version-wikileaks-%E2%80%93-rebellen-im-netz/

Am Rande von Miercurea Ciuc

Zwangsumsiedlung in die Ungewissheit


Mit dem kurzen Portraitfilm über einen Jungen namens Gyuri will Amnesty International auf das Schicksal einer Gruppe von Menschen aus Miercurea Ciuc aufmerksam machen. Diese leben nach Zwangsumsiedlungen seit 2004 in direkter Nachbarschaft zu einer als „Gefahrenzone“ markierten Kläranlage unter menschenunwürdigen Bedingungen. Obwohl ihnen zugesichert wurde, dass sie nur „vorrübergehend“ dort bleiben müssen, hat sich nach sechs Jahren nichts an ihrer Situation verändert. Die rumänische NGO Romani CRISS hat sich der Situation dieser Menschen angenommen und hilft beispielsweise mit Betreuungsprogrammen oder gibt juristischen sowie gesundheitlichen Beistand.

http://www.youtube.com/watch?v=9kpyKdeDlso

Das Video fand ich übrigens über diesen tweet.

Worte für die ungarischen Roma

Glaubt man den Worten eines ungarischen Staatssekretärs, wird sich die Situation der ungarischen Roma bald verbessern. Aktuelle Taten der Regierung lassen das Gegenteil befürchten.


In vielen Medien ist Ungarn mit dem Regierungsstil seiner rechten Regierung, besonders angesichts der übernommenen EU-Ratspräsidentschaft, momentan ein weit verbreitetes Thema.

Auch die Situation der ungarischen Roma hängt ganz entscheidend mit dem Thema zusammen. In dem Land wurden in den letzten Monaten verschiedene brutale rassistisch motivierte Morde, auch an Kindern, begangen. In einem grausamen Fall gab es dazu jüngst eine Gerichtsverhandlung.

Die extrem rechte Partei Jobbik, die vor den Wahlen im April 2010 mit Aufmärschen auch in von Roma bewohnten Stadtrandgebieten provozierte, sitzt nun als drittstärkste Fraktion im ungarischen Parlament. Hoffnungen auf wachsende politische Partizipationsmöglichkeiten brauchen sich ungarische Roma-Vereine und NGOs wohl nicht zu machen. Im Gegenteil, das neuste Signal der ungarischen Regierung bedeutet sogar die existentielle Bedrohung für die Minderheiteninstitutionen: Die ungarische Regierung hat jetzt als Vorhaben verkündet, bis zu 35 Roma-Stiftungen und -Vereine aufzulösen.

Dabei hatte der ungarische Staatssekretär für Minderheitenrechte und Integrationsfragen Zoltán Balog in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau im Dezember 2010 verkündet, er wolle das Thema Roma zu einem EU-Thema machen und den Einsatz von Mitteln für Roma-Projekte verbessern. Die jüngsten Ankündigungen der ungarischen Regierung sprechen eine andere Sprache.

Das französische Auslandsfernsehen France 24 berichtete heute kurz über ungarische Roma. In dem Beitrag erläutert auch Zoltán Balog noch einmal kurz sein Konzept, mit dem er zur Verbesserung der Situation für die Roma während Ungarns EU-Ratspräsidentschaft beitragen möchte. Fragt sich nur, warum er es bisher nicht schon in Ungarn angewandt hat.

http://www.youtube.com/watch?v=-LFhu7uPFr0

Es werden die Taten sein, an denen die ungarische Regierung ihre angestrebte Politik gegenüber den Roma messen lassen muss. Und die lassen mit den geplanten Vereinsauflösungen nur eine Verschlechterung der Lage befürchten.

Grün minus 20

Zeiten müssen das gewesen sein…


Am 4.1.1991, also vor ziemlich genau 20 Jahren, hielt Joschka Fischer eine flammende Rede gegen die Remilitarisierung der wiedervereinigten Bundesrepublik. Die Grünen trugen noch keine (Bundes)Regierungsverantwortung und Joschka Fischer legte in seiner Rede im Januar 1991 eine für die Grünen seinerzeit noch wesenskennzeichnende kriegskritische Haltung an den Tag. Gerade vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung wollte er seinen Parteifreunden die Gefahren ins Gedächtnis rufen, die sich mit einem vergrößerten und hochgerüsteten NATO-Mitglied Deutschland andeuteten:

(ab 4:23) Wir geraten da in eine Situation, da möcht‘ ich Euch auffordern, lehnt Euch an diesem Punkt nicht zurück! Jetzt kommt die Stunde, wo wir wieder auf die Straße gehen müssen – friedlich, gewaltfrei – aber wo es darum geht, klarzumachen, dass wir den Satz, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll, dass wir den nicht nur sonntäglich hören wollen von unseren Bonner Politikern, sondern dass wir den in der praktischen Politik realisiert sehen wollen. (Joschka Fischer in Fritzlar am 4.1.1991)

http://www.youtube.com/watch?v=tIdfO2BqYas

Das ist 20 Jahre her und in der Zwischenzeit nutzte Joschka Fischer höchstpersönlich die Möglichkeit der „praktischen Politik“, um die Bombardierung eines fremden Landes ohne UN-Mandat, erstmals mit aktiver deutscher Beteiligung nach 1945 („von deutschem Boden aus“) in die Tat umzusetzen. Ob das die unvermeidbare Entwicklung eines politischen Menschen im Zuge einer wichtigen Amtsfunktion ist, kann ich nicht beurteilen. Interessant jedenfalls sind seine rhetorischen Griffe, mit denen er 1999 in Bielefeld vor den Grünen den Krieg rechtfertigt (mit der Logik „Gegen Krieg = für Milošević“ u.v.m.):

http://www.youtube.com/watch?v=7jsKCOTM4Ms

Nicht weniger interessant ist auch die Rede auf dem gleichen Parteitag von Fischers Parteifreundin Annelie Buntenbach, einer Gegnerin dieses Krieges mit deutscher Beteiligung:

http://www.youtube.com/watch?v=UckokjNcDwU

Wen das Thema deutsche Serbien-Bombardierung interessiert: Die Möglichkeiten der Vermeidung dieses Krieges beschrieb Hermann Scheer klar und verständlich in seiner „Denkschrift für eine politische Initiative statt militärischer Eskalation“. Dem jüngst verstorbenen SPD-Mitglied Scheer gelang es nämlich problemlos, Gedanken weit über seine Parteigrenzen hinaus zu formulieren (Hermann Scheer – Energie und Utopie). Heute wird Scheer in grünen und SPD-Nachrufen von Kriegsbefürwortern höflich für seinen „Mut“ gelobt.

Die 20 Jahre alte Rede von Fischer und seine späteren Amtshandlungen verdeutlichen, dass politische Verantwortung sich nicht an Parteigrenzen festmachen lässt. Hans-Christian Ströbele muss unter den mehrheitlich kriegsbefürwortenden Grünen (Kosovo, Afghanistan) 2010 aus einer Minderheitenposition heraus im Bundestag darauf hinweisen, dass der deutsche KFOR-Einsatz nach der Bombardierung Serbiens nicht jener große Erfolg ist, als der er von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP verkauft wurde und wird.

http://www.youtube.com/watch?v=s67tr5cqdEY

Dann schwebt durch den deutschen Bundestag ein Hauch von Grün minus 20 ….
(update: ja, er schwebt, er weht nicht … und was ich damit meine ist die ehrliche Benennung von durch den Krieg geschaffenen Fakten und der Vergleich damit, was Fischer mit dem Krieg versprach)