Rassistisch plaudern über Corona in Neukölln

Bei Lanz wurde letzte Woche über Corona getalkt und in dem Zusammenhang am 25.06. auch breit über das Neuköllner Mietshaus gesprochen, das seit fast 10 Jahren wiederholt als Projektionsfläche für rassistische Stereotype dient. Der Journalist Hajo Schumacher holte mit diffamierenden Behauptungen über das von vielen Rom*nja bewohnte Haus aus: „Es gibt da durchaus kriminelle Strukturen. Es gibt da auch sowas wie, ich sag mal, Menschenhandel. Da werden Menschen aus Südosteuropa natürlich nach Deutschland gebracht, um dann hier soziale Gelder abzuholen.“ (Video in der ZDF-Mediathek, zitierte Stelle ab 39:54)

Markus Lanz fragte nicht nach, woher Schumacher solche schwerwiegenden Anschuldigungen nimmt. Die durften ohne Belege im Raum stehenbleiben, vor fast 2 Millionen Zuschauenden (1,85 Mio laut quotenmeter.de). Sicher, eine gemütliche Talkrunde ist keine aufwändig recherchierte Reportage. Aber in der Sendung wurde der Straßenname des Hauses mehrfach genannt, sogar ein Foto eingeblendet. Und als Journalist weiß Schumacher vielleicht, dass die Verbreitung solcher rassistischer Diffamierungen eine weitere Gefährdung der dort lebenden Familien bedeutet.

Rassismus ist für Nellys Abenteuer kein Hindernis

Ende 2015 nahm ich zwei Aufträge für eine Berliner Filmproduktionsfirma an: Ich übersetzte und transkribierte Interviews mit rumänischen Schauspieler*innen, die für ein Making Of gedreht worden waren – das Making Of vom Kinderfilm „Nellys Abenteuer“.

Zu dem Zeitpunkt war der Film noch nicht fertig. Im Februar 2016 bot mir dann einer der beiden Produzenten einen Folgeauftrag an. Inzwischen gab es Filmbeschreibungen online. Ich antwortete vorsichtig:

Ich habe mal einige der öffentlich zugänglichen Beschreibungen zur Filmsynopsis gelesen. Daraus habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Film „Nellys Abenteuer“ offenbar mit Klischees und Stereotypen arbeitet. Um mir ein genaueres Bild zu machen (wie oder ob überhaupt diese Darstellungsmittel im Film problematisiert bzw. gebrochen werden) würde ich den Film gern einmal sehen. Wäre das möglich? Ohne zu wissen, in welchem narrativen Kontext die Darstellung von „Kriminellen“ in einem „Roma-Dorf“ erfolgt, stehe ich für das Projekt leider nicht zur Verfügung.

Ich habe nie eine Antwort erhalten.

Nun ist „Nellys Abenteuer“ ein öffentliches Thema: Der Zentralrat der Sinti und Roma appelliert an die Fernsehsender SWR und KiKa, den Film aufgrund darin enthaltener rassistischer Klischees und Stereotype nicht zu senden. Der Programmdirektor vom SWR, Christoph Hauser, will den Film aber trotzdem senden, hat er gegenüber VICE gesagt.

Tja, weil er es kann. Diese Ignoranz der Extraklasse können sich nicht alle leisten, aber die Verantwortlichen für „Nellys Abenteuer“ offenbar schon. Sie sind nämlich weiße Deutsche und keine Roma. Darum wird dieser Film gesendet, trotz rassistischer Stereotype. Der Rassismus in dem Film ist aus Sicht weißer deutscher Filmverantwortlicher nämlich vernachlässigbar. Oder sogar unsichtbar. Ich kann mir vorstellen, ein großer Teil des deutschen Publikums wird Nelly begeistert bei ihren Abenteuern begleiten!

____________________________
Medienberichte zu diesem Thema:

“Nellys Abenteuer“ – ein zutiefst rassistischer Kinderfilm (Kira Ayyadi, Belltower News, 15.09.17)

Klauen und feiern (Sibel Schick, taz.de, 20.09.17)

Dieser rassistische Film läuft bald im Kinderkanal (Matern Boeselager, VICE, 20.09.17)

„Der Film zementiert antiziganistische Klischees“ (Sami Omar, MIGAZIN, 27.09.2017)

Café „St. Oberholz“ wehrt sich gegen „Fraktion Nimm“

Schon praktisch für das Berliner „St. Oberholz“, dass die neuen Regeln des Cafés unmittelbar einen wohlwollenden Artikel des Journalisten Christoph Stollowsky im Tagesspiegel nach sich ziehen. Ich lese Begriffe wie „ausnutzen“, „dreist“, „Stromschnorrer“ oder „Fraktion Nimm“, mit denen Stollowsky die unliebsamen Gäste beschreibt, die das Café bisher als „kostenlosen Arbeitsplatz missbrauchen“. Doch damit sei es jetzt vorbei, lerne ich, denn ab sofort würden Kellnerinnen und Kellner die Gäste „wachsam im Auge behalten“.

Die Gäste, die dazu im Tagesspiegel zitiert werden, finden das toll. Kritische Stimmen fehlen. Dafür wird der Offene Brief erwähnt, in dem Café-Betreiber Ansgar Oberholz ein psychologisches Profil der problematischen Gäste erstellt. Ein mitgebrachter Döner, der im Tagesspiegel als Symbol der Dreistigkeit dient, spielt auch hier eine zentrale Rolle. Er ist Ausgangspunkt mehrerer Absätze, in denen der Café-Betreiber schildert, was er über seine Gäste denkt. Ich zitiere nur einen Satz:

„Die Verhaltensweise der Gäste deutet auf ein vermindertes Schuldempfinden und unterdrückte Schamfähigkeit hin.“

(Für den Kontext: ein Screenshot / Link zum Originaltext)

Vermutlich ist Ansgar Oberholz mit solchen dreisten Deutungen nicht allein. Die Unterstützung eines Tagesspiegel-Journalisten hat er jedenfalls.

AND-EK GHES… — #Berlinale kurz notiert

AND-EK GHES…* ist ein Spiel mit filmischen Mitteln, bei dem die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktion verschwimmen. Es bietet eine Auseinandersetzung mit dem performativen Charakter gefilmter menschlicher Handlungen.

Die Aufnahmen, die von den romanessprachigen Protagonist_innen mit unterschiedlichen Kameras selbst angefertigt wurden, durchbrechen filmisch tradierte Blickrichtungen und reklamieren die Position der Selbstrepräsentation. Sie sind auch eine Abrechnung mit konventionellen Annahmen zur vermeintlichen Objektivität des Dokumentarfilms. Mit sichtbaren Inszenierungen oder selbstironischen Kommentaren wird die Verbindung zwischen den Darstellungen und ihrer Herstellung vergegenwärtigt.

Ein Film, erfrischend und politisch ohne Phrasen.

Einer der beiden Regisseure ist auf twitter: @ColoradoVelcu.

_______________________
* Transparenzinfo: Ich bin mit mehreren an dem Film beteiligten Personen, u.a. den beiden Regisseuren, befreundet.

AUF EINMAL — #Berlinale kurz notiert

Der Spielfilm AUF EINMAL (Sektion Panorama Special) erinnert anfänglich an einen Tatort: Eine Person tot, Ursachen und mögliche Motive unklar, Auffälligkeiten und Verdächtigungen vorhersehbar.

Im weiteren Verlauf liest sich der Film zunehmend als ethnographisches Portrait eines deutschen, kleinstädtischen Mikrokosmos‘. Dafür inszeniert Regisseurin Aslı Özge eine aus wohlhabendem Elternhaus stammende, männliche Hauptfigur. Deren zentraler Antrieb ist die Erhaltung des eigenen Rufs. Die Verteidigung der zivilisierten und moralisch anständigen Fassade. Mit allen Mitteln.

Am Ende beengend, beklemmend und nichts Neues. Aber sehr gut umgesetzt.