Teil 3 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung
Vergangenen Montag (2.11.2015) sprach Noa Ha über „Dekoloniale Theorie und Perspektiven auf Stadt — Prozesse der Rassifizierung im Kontext neoliberaler Stadtproduktion“ auf der dritten Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesung zur Rassismusforschung in Deutschland an der TU Berlin.
Diesmal war ich früher dort und konnte erstmals einen echten Sitzplatz auf einem Stuhl ergattern. Wieder saßen um die 10 Personen auf dem Fußboden, aber von der anfangs in Aussicht gestellten Raumänderung wird nach Angaben der Veranstaltenden nun doch abgesehen (ich glaube es gilt noch nicht als „zu voll“, wenn nur 10 Personen auf dem Boden sitzen müssen).
Nun zum Inhaltlichen. Noa Ha interessiert das Verhältnis von Rassifizierung und Stadtproduktion, und somit die Frage, welchen Einfluss Rassismus und Kolonialismus auf die zeitgenössische Stadtplanung haben. Denn, wenngleich die formelle Kolonialisierung abgeschlossen sein mag, so blieben als Hinweise auf das Fortbestehen kolonialer Praxis beispielsweise die globalen Abhängigkeitsverhältnisse oder das Schweigen der vormaligen Kolonialmächte zu ihren Rollen im Kolonialismus. Die Idee von Rasse strukturiert ungebrochen die Welt im Kapitalismus, wobei die kolonialen Ordnungen heute in Form sozialer Ordnungen fortbestünden: Nach der praktischen kolonialen Phase erfolgt nun die soziale Klassifizierung von Menschen anhand der Idee von Rasse ortsunabhängig. Noa Ha bezieht sich hier auf das Konzept der Coloniality of power von Anibal Quijano und zitiert dazu aus dessen Essay „Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America“ (2000).
Die europäische Stadt ist ein Raum der Inszenierung, in dem Plünderungen und Versklavung ausgeblendet werden, so Noa Ha. Zudem werde ‚Kolonialismus‘ als analytischer Begriff in Deutschland weitgehend gemieden, was die Auseinandersetzung mit Kolonialismus erschwere. Anknüpfungspunkte für eine kolonialismuskritische Analyse europäischer Stadtkonzepte sieht Noa Ha bei Henri Lefebvre, und insbesondere dessen „The Production of Space“ (1974): Das Verständnis von moderner Stadt als ein sozial strukturierter Raum, dessen Herausbildung konstitutiv mit der kolonialen Expansion und Planung verbunden ist, kann demnach bei der Analyse ungleicher Entwicklungen im städtischen Raum heute hilfreich sein.
Das Humboldtforum im Zentrum Berlins dient Noa Ha als Beispiel für die Kontinuität europäischer Stadtplanung bis ins 21. Jahrundert: Im Inneren eines Schlosses, also eines die Monarchie repräsentierenden Gebäudes, wird europäische Kunst als Hochkultur ausgestellt. Die Museumstradition des 19. Jahrunderts — Erforschen, Kartieren, Archivieren — werde damit ununterbrochen weitergeführt, und so ästhetisch an bürgerliche, wilhelminische, klassizistische Stile und die „Gründerzeit“ angeknüpft. Noa Ha weist darauf hin, dass dieses Schloss, als Teil eines auf „das alte Berlin“, „die historische Mitte“ ausgerichteten Planwerks, keine 500 Meter entfernt von dem Ort steht, an dem 1884/85 die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den Kolonialmächten im Rahmen einer „Konferenz“ verabredet worden war. Die historische Kontinuität bleibt auch augenscheinlich, wenn im Humboldtforum die außereuropäischen Anderen „im Dialog“ mit der europäischen Hochkultur Platz finden sollen. Es handelt sich um einen Machtraum, der koloniale Logiken reproduziert. Als Beispiel für Kritik daran nennt Noa Ha die Initiative „No Humboldt 21„. Und als ein Beispiel eines punktuell zu beobachtenden kritisch-reflektierten stadtpolitischen Entwicklungsansatzes in Berlin führt Noa Ha die Umbenennung des Gröbenufers in May-Ayim-Ufer (nach der Schwarzen deutschen Wissenschaftlerin May Ayim) an.
Am Beispiel London — konkret an der öffentlichen und medialen Rezeption der „Riots“ 2011 — illustriert Noa Ha die soziale Ordnung der europäischen Stadt: Indem vornehmlich von „Ausschreitungen“ die Rede ist, wird der Kontext von Diskrminierungs- und Ausgrenzungsprozessen ausgeblendet und so bspw. die Verschärfung polizeilicher Befugnisse wie „Stop And Search“ (vgl. Criminal Justice and Public Order Act 1994, Changes: Section 60), die zu einem enormen Anstieg bei Durchsuchungen von Schwarzen Menschen führte, ignoriert. Das Beispiel zeige die unterschiedliche Behandlung sozialer Gruppen in einer Stadt nach rassistischen Kriterien und müsse bei der Frage Beachtung finden, welche Menschen von Verdrängung bedroht oder bei städtischen Veränderungen nicht mitgedacht würden.
Es gelte, die Repräsentation von Stadt als koloniales und kolonisierendes Projekt zu begreifen, dessen Dekolonisierung notwendig sei.
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Weiterführend: Zu dem Thema erschien ein Aufsatz von Noa Ha, in dem als Beispiel auch der Protest geflüchteter Menschen in Berlin angeführt wird, in der Zeitschrift sub\urban, Bd.2, Heft 1 (2014): Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ‚Contact Zone‘.
Am nächsten Montag (9.11.2015) entfällt referiert Anette Dietrich über „Kritisches Weißsein“ (wie gehabt 16 Uhr in der UB der TU Berlin, hier die Ankündigung auf facebook.)
Am Montag darauf (16.11.2015) spricht Cengiz Barskanmaz über „Rassismus, Macht und Recht“, Beitrag hier im Blog.
++++ Am Mittwoch, 25.11.2015, präsentiert Noa Ha mit Studierenden der TU Berlin in Kooperation mit Postkolonial e.V. und der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, das Projekt „Berlin als postkoloniale Stadt kartieren“ (Veranstaltung ursprünglich im August Bebel Institut geplant und nun verlegt, siehe facebook-Ankündigung). ++++