Czernowitz – ein europäisches Symptom?

Czernowitz kann als Synonym für eine aufgeklärte jüdische Kultur in Europa stehen. Oder für die noch immer andauernde Vernichtung dieser Kultur.


Bis zum Holocaust waren die Juden die größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt Czernowitz. Ein historischer Abriss über die Czernowitzer Juden auf Englisch kann hier nachgelesen werden, darüber hinaus ist dieses Buch zu empfehlen.

Czernowitz stand für mich als Inbegriff einer aufgeklärten europäischen Kulturmetropole. Rose Ausländer und Paul Celan repräsentieren genau diese deutschsprachige Kultur, sowie deren Auslöschung durch die Deutschen unter Mithilfe der Rumänen.

Heute sind Czernowitz und die Nordbukowina Teil der Ukraine. Neben Ukrainern und Russen haben Minderheiten wie Rumänen, Deutsche und Juden nur noch verschwindend geringe Bevölkerungsanteile. Die Vielsprachigkeit sowie die von den Juden gelebte deutsche Kultur prägten die Geschichte dieser Stadt. Beim Besuch im ukrainischen Czernowitz der Gegenwart konnte ich entdecken, was davon übrig ist.


Friedhof Czernowitz, Some Rights Reserved - sibiuanerLeichenhalle am Eingang des jüdischen Friedhofs Czernowitz.


Ich hatte mehr erwartet, als dieses zerfallende Haus mit rostiger Kuppel und zerschlagenen Fensterscheiben. In der Halle liegen Schutt und Müll, die Inschriften an den Wänden rieseln mit dem Putz herunter. Die Ruine wird geziert von einem kippenden Davidstern. Aber das Haus ist kein offizielles Mahnmal zur Geschichte der Juden. Es ist ein authentisches Mahnmal über den Umgang mit der Gegenwart der Juden von Czernowitz.


Friedhof Czernowitz 2, Some Rights Reserved - sibiuanerVerfall. 2005 hatte dieses Gebäude 100-jähriges Jubiläum.


Die jüdische Gemeinde mit ihren wenigen Mitgliedern schafft es finanziell nicht, den großen Friedhof mit seinen über 50.000 Grabstätten zu erhalten. (Zum Vergleich: der als größter in Europa geltende jüdische Friedhof in Berlin Weißensee beherbergt über 115.000 Grabstätten.) Die Stadt Czernowitz kümmert sich augenscheinlich nicht um den respektvollen Erhalt des jüdischen Friedhofs. Wer hier die Gräber seiner verstorbenen Nächsten besucht, muss sich mit dem Anblick einer großen Anzahl umgekippter Grabsteine abfinden.


Friedhof Czernowitz 3, Some Rights Reserved - sibiuanerGeraten die Czernowitzer Grabsteine nur aufgrund der Physik oder auch durch Menschenhand ins Wanken?


Ob nun die Natur oder Grabschänder die Steine umstürzen – sie sind zahlreich, die nicht wieder aufgestellt werden. Eine idyllische Naturbelassenheit kann nicht über die erkennbare Verwahrlosung des Geländes hinwegtäuschen.

Dem gegenüber stehen die gepflegten nicht-jüdischen Friedhöfe, aber insbesondere eine top-sanierte Innenstadt. Czernowitz vermarktet seinen Habsburg-Flair. Die restaurierten Fassaden werden flächendeckend jede Nacht intensiv beleuchtet.


Innenstadt Czernowitz, Some Rights Reserved - sibiuanerSchickes Czernowitzer Zentrum.


Die große einstige Synagoge im Zentrum der Stadt schmückt heute nur noch Postkarten und Werbebanner. Seit der Zerstörung durch einen Brand 1941 wird das ehemalige jüdische Gebetshaus als Kino genutzt. Diese Zweckentfremdung repräsentiert den Anfang des jüdischen Verschwindens aus Czernowitz, das nahtlos in die heutige Zeit reicht.


Ehemalige Synagoge Czernowitz, Some Rights Reserved - sibiuanerEin Werbefoto mit der Synagoge. Im Hintergrund, hellblau, das gleiche Gebäude heute: ein Kino.


Ehemalige Synagoge Czernowitz 2, Some Rights Reserved - sibiuanerAus der Nähe: Kino „Černivci“. Ein kleines Schild weist auf die ursprüngliche Bestimmung des Hauses als Synagoge hin.


Ein „Jüdisches Haus“ im Zentrum der Stadt beschäftigt sich mit der Geschichte der Bukowiner Juden. Wer gegenwärtiges jüdisches Leben in der heutigen Stadt Czernowitz finden will, muss länger suchen. Die von der Touristeninformation herausgegebene Karte im deutschsprachigen Stadtführer zeigt nicht, wo sich die letzte, gegenwärtig benutzte Synagoge der Stadt befindet. Mit etwas Glück findet man sie in einer Nebenstraße.

Glaubt man dem Vertreter der jüdischen Gemeinde Czernowitz, mit dem wir sprachen, so hat sich die Situation für die ukrainischen Juden, speziell in Czernowitz, seit der „Orangen Revolution“ verschlechtert. Die Hoffnungen an eine „pro-westliche“ Regierung wurden enttäuscht: Minderheiten wie die Juden sehen kein Geld für den Erhalt und die Pflege ihrer kulturellen Einrichtungen, es herrscht eine politische Stimmung der Einschüchterung gegenüber Juden. Die Rede ist von einem erstarkenden Antisemitismus, der den aus der „pro-russischen“ Zeit übertreffe.

Das Erzählte passt zu den Bildern. Im Rahmen einer Ukrainisierung der Gesellschaft scheint alles Jüdische nur noch für die Idealisierung der Czernowitzer Geschichte eine Rolle zu spielen. Wenn es um gegenwärtigen Austausch und um Unterstützung geht, herrscht offenbar Ignoranz.

Im 3sat-Interview auf der Frankfurter Buchmesse verwehrte sich Herta Müller dagegen, mit Paul Celan in einem Atemzug genannt zu werden.

„Ich habe, als ich anfing Celan zu lesen, ein riesiges Problem gehabt und begreifen müssen, auf welcher Seite ich geboren bin. (…) Ich gehöre nicht zu der Minderheit, zu der Paul Celan gehört. Man muss diese historischen Tatsachen ansehen.“ (Zitiert aus diesem Interview)

Wie Paul Celan als Schriftsteller für die deutsche Sprache steht, so steht er als Jude für eine „Seite“, die von Deutschen vernichtet werden wollte und größtenteils auch wurde. Herta Müller wurde durch das Handeln ihrer eigenen Verwandten von dem Schriftsteller Celan entfernt, der in der gleichen Sprache Literatur schrieb, wie sie.

Der Erfolg der NSDAP, die Juden aus dem „deutschen Volkskörper“ herauszudefinieren (was wesentlicher Bestandteil der Identität dieser Partei, seit dem ersten Parteiprogramm 1920, war), äußert sich bis heute im bundesrepublikanischen deutschen Selbstverständnis, auf dessen Grundlage man sich den sogenannten „volksdeutschen“ (christlichen) Minderheiten und deren Nachkommen (etwa in Rumänien oder auch in der Ukraine) finanziell und kulturell verbunden fühlt, nicht aber den Juden.

Solange der nationalistische Schatten und die bis heute gültigen Einteilungskategorien von „Nation“ und „Minderheit“ Bestand haben, so lange wird eine deutsche Außenpolitik in der Ukraine behaglich das Thema Energieversorgung ansprechen und über den schleichenden Zerfall letzter Repräsentationen des Judentums hinwegsehen.

Czernowitz verbildlicht die Musealisierung und Mahnmalisierung des europäischen Judentums. Und die gelungene Auslöschung seiner Gegenwart in der Gegenwart.

Zwischen Stolz und Scham

Rumänische Stimmen zum Literatur-Nobelpreis für Herta Müller


Herta Müller hatte Rumänien 1987 verlassen, um der politischen Verfolgung und Einschüchterung zu entkommen. Der rumänische Geheimdienst Securitate folgte ihr bis nach Westberlin. Damit steht das Land Rumänien im Leben und in der Literatur Herta Müllers für leidvolle Erfahrungen, um die niemand sie beneidet.

Nach über 20 Jahren ist Rumänien ein Staat in der Europäischen Union und Herta Müller eine Berliner Nobelpreisträgerin. Aus rumänischer Sicht wird der diesjährige Nobelpreis sehr unterschiedlich wahrgenommen und könnte eine Diskussion über die Rolle des Staates in der Vergangenheit entfachen.

Der Gândul fragt, ob der Preis für Herta Müller ein Preis für Rumänien sei und fasst die Reaktionen einiger wichtiger kultureller Köpfe Rumäniens zusammen. Demnach sieht zum Beispiel Mircea Cărtărescu wenigstens zu einem kleinen Teil auch die rumänische Literatur mit dem Preis für Herta Müller geehrt. Andrei Pleşu äußert sich positiv darüber, dass mit diesem Nobelpreis eine dunkle Seite der rumänischen Geschichte ins Licht rückt.

In diesem Sinne mahnt Cristina Modreanu im Gândul, den Nobelpreis als Chance für Rumänien zu begreifen. Sie erinnert daran, dass Herta Müller auf jeder ihrer Rumänien-Reisen nach 1989 forderte, die Vergangenheit öffentlich zu thematisieren. Bis heute sitzen ehemalige Securitate-Kader in hohen Ämtern und die Securitate-Akten werden immer wieder zurückgehalten. Herta Müller wartet bis heute auf ihre Akte.

Die Romane der Autorin existieren größtenteils zwar in rumänischer Sprache, wahrgenommen wurde ihre Literatur aber in Rumänien, wie in fast allen Ländern – so gut wie gar nicht. Sie ist der rumänischen Öffentlichkeit eher als Dissidentin bekannt denn als Schriftstellerin, zudem geht sie selbst davon aus, in Rumänien unbeliebt zu sein.

Die rumänische Presse weist bei aller Euphorie darauf hin, dass Herta Müller nicht ein einziges Mal von rumänischer Seite für den Nobelpreis nominiert wurde, aber bereits mehrmals von deutscher. Claudia Candet nennt ihren Artikel in der Ziua de Constanţa Mit der Faust auf der Brust wegen etwas, das uns nicht gehört.

„Die meisten Vertreter rumänischer Kultur traten mit immer pompöseren Erklärungen über den besonderen Verdienst der rumänischen Autorin ins Rampenlicht. Ganz plötzlich war Herta Müller bekannt, geschätzt und gelobt von denjenigen, die sie noch vor 22 Jahren verleugneten. Ungeniert gegenüber ihr, der die Anerkennung für 20 Jahre literarische Arbeit gebühren müsste, hat man sich in Erklärungen gegenseitig überholt. Über die internationale Anerkennung für eine derartige Auszeichnung […]“. (Zitiert und übersetzt von hier)

Candet wundert sich, dass bisher niemand auf die „demütigenden“ Finanzierungen des Kultusministeriums hinwies und auf den „jämmerlichen“ Zustand der rumänischen Kultur. So kommt sie zu dem pessimistischen Schluss, dass es einen rumänischen Literatur-Nobelpreisträger wohl niemals geben wird.

Dan Tapalagă, der Herta Müller in seinem Kommentar bei Hotnews als nicht-rumänische Schriftstellerin einordnet, nennt sie neben Eginald Schlattner und bewundert die authentische literarische, wenn auch unterschiedliche, Verarbeitung beider Schriftsteller. Was ihm aber fehlt ist eine rumänische Herta Müller, die literarisch laute Fragen stellt, ein rumänischer Eginald Schlattner, der als Opfer oder Informant der Securitate seine Rolle literarisch verarbeitet. Müller und Schlattner sieht er als schmerzvolle Spiegel für andere Schriftsteller.

„Wir haben ihnen den Haupt-Stoff geliefert, das Leid, sie haben ihn anderen erzählt, auf Deutsch. Allmählich entdeckten wir sie wieder, als ihre Werke im Ausland Anerkennung fanden und sie absoluten Erfolg hatten. Wir haben sie in überschaubaren Auflagen in Rumänien übersetzt, nachdem sie in Deutschland Bestseller-Autoren waren. Heute fällt uns ein, dass es sie gibt, weil, ist es nicht so, sie inzwischen auch einen Nobelpreis bekommen haben. Wir haben sie hierzulande ignoriert, so sehr wir konnten oder wir haben sie heuchlerisch vereinnahmt, während wir die Nationalhymne anstimmten.“ (Zitiert und übersetzt von hier)

Es wird sich zeigen, ob die selbstkritischen Töne aus Rumänien erst der Anfang einer größeren Diskussion sind, die dem Literatur-Nobelpreis 2009 folgt. Diskussionsbedarf zur Situation von Minderheiten gibt es nicht nur in Rumänien.

Entscheidungen in Moldova

In der Republik Moldau befindet sich eine neue Regierung im Entstehungsprozess


Gestern wurde die Visumpflicht für Rumänen aufgehoben, die von den Kommunisten kurz nach den Protesten im April eingeführt worden war. Damit hob Mihai Ghimpu die nicht nur in Moldova umstrittene Grenzregelung wieder auf. Indes soll auch die Position Ghimpus eines (nicht vom Parlament gewählten) formalen Übergangs-Präsidenten vom moldauischen Verfassungsgericht als rechtmäßig bestätigt worden sein. Vlad Filat wurde jetzt zum offiziellen Kandidaten für das Amt des Premierministers, und damit des Regierungsführers, nominiert.

Die neue Regierungs-„Allianz für europäische Integration“ will die Ministerien neu strukturieren. Unter anderem soll es ein Ministerium für Jugend und Sport geben (der Bereich Jugend war zuvor Teil des Bildungsministeriums) – nach Protesten von Jugendverbänden nun sogar ohne die ursprünglich geplante Verschmelzung mit dem Tourismusministerium. Daneben soll die Grenzsicherung zukünftig dem Finanzministerium unterstehen, was die Kommunisten kritisierten, die damit die Sicherheitsinteressen der Menschen in der separatistischen Region Transnistiren gefährdet sehen. Sowieso soll nun auch das Ministerium für territoriale Reintegration aufgelöst werden und als Staatsbehörde weiter existieren. Die neue Regierung sieht darin eine Verbesserung der Verhandlungsposition mit Blick auf Transnistrien, die Kommunisten hingegen werfen der neu entstehenden Regierung fehlendes Interesse an der Suche nach einer Lösung des Transinistrien-Problems vor. (Alles u.a. hier)

Für großes Aufsehen sorgte auch die neue Regelung, nach der moldauische Regierungsmitglieder neben der moldauischen zukünftig auch andere Staatsbürgerschaften haben dürfen sollen.


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sibiuaner bei Herbstradio

Im Berliner freien HerbstRadio war am Dienstag eine Themensendung zu Rumänien


Gestern um 20:00 war ich einer von drei Gästen beim Herbstradio zu einer Themensendung über Rumänien. Paul Motikat lud für seinen Polanskifunk Claudi, Jochen Schmidt und mich ein, um gemeinsam über Rumänien zu sprechen. Das Ergebnis ist eine Stunde Gespräch über Rumänien, wenn auch ohne großartige Neuigkeiten, dafür mit weithin unbekannten rumänischen Musikperlen.

Die Stunde kann hier als Stream nachgehört werden:
http://soundcloud.com/sibiuaner/polanskifunk-rumaenien-aktuell-vom-8-9-09

Rumänische Reaktionen zu Rüttgers

Das rumänische Presse-Echo war zwar relativ verhalten, das heißt aber nicht, dass Rüttgers in Rumänien nicht zur Kenntnis genommen wurde


Rüttgers‘ Rumänen-Schelte (dazu eine Presseschau bei netzeitung.de) wurde in der deutschsprachigen Presse gut dokumentiert. Auch zu den rumänischen Reaktionen sind einige Artikel erschienen. Der in Rumänien geborene und in Deutschland lebende Journalist Vlad Georgescu hat Jürgen Rüttgers jetzt wegen Volksverhetzung angezeigt, wie in der taz nachgelesen werden kann (Anzeige gegen Rüttgers wegen Volksverhetzung).

Die Reaktionen aus Rumänien selbst dokumentierte für die Frankfurter Rundschau vorgestern Norbert Mappes-Niediek (Keine Spur von Faulheit). Focus Online bezog sich gestern auf Agenturmeldungen (Jürgen Rüttgers: Präsident tadelt Rumänen-Schelte) und für die Welt Online schrieb gestern Abend Thomas Roser zu dem Thema, leider ohne Nennung seiner Quellen für den relativ detaillierten Bericht (Rumänen verteidigen sich gegen „Herrn Jürgen“).

Nach Angaben der Klausenburger Ziua de Cluj sagte der rumänische Präsident Traian Băsescu gestern am Rande der Einweihung einer Ford-Fabrik in Craiova:

„Ich weiß, dass in einem westlichen Land, einem neuen Freund, die Politiker mitten im Wahlkampf über die Qualität der rumänischen Arbeiter urteilen. Ich möchte hier, in meiner Rolle als rumänischer Präsident, gern auf diese unkorrekte Kampagne antworten. Wenn sie die rumänischen Arbeiter korrekt einschätzen wollen, sollen sie auf den außergewöhnlichen Erfolg, den ein anderer Automobilhersteller hier in Rumänien hat, schauen. Hier ist die Rede von einer exzellenten Partnerschaft zwischen Managern und Arbeitern.“

Băsescu bleibt also vage und spricht niemanden direkt an.

Was bisher von niemandem angesprochen wurde sind die ganz grundsätzlichen Hintergründe des Problems. Nokia ist wegen rationaler Standortfaktoren nach Rumänien gegangen und hat damit nach den gültigen Spielregeln des Marktes gehandelt. Weil ein CDU-Spitzenmann aber nichts gegen Hungerlöhne und Leiharbeit hat und dementsprechend auch nicht die unmenschlichen Spielregeln des Marktes kritisiert, versucht er eben mit rassistischen Vorurteilen einen ausländerfeindlichen Wahlkampf zu machen.


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