Standortfaktoren post-bellum

Im Ressort Wirtschaft erschien bei Spiegel Online am 19. Juli der Artikel Kosovo bangt um den Wirtschaftsfaktor Nato von Astrid Langer. Ausführlich wird dort der Zusammenhang zwischen KFOR-Präsenz und wirtschaftlicher Situation des Landes beleuchtet. Mit dem geplanten Truppenabzug der NATO drohe ein „konjunkturelles Fiasko“.


Die Autorin stellt uns einleitend Rejhan vor, die, nach anfänglicher Skepsis, nun seit über zehn Jahren für die deutsche Armee im Kosovo als „Schneiderin“ Uniformen „kürzt“ und „flickt“. Zur Belebung trockener Fakten wird eine Anekdote verarbeitet:

„Einmal habe sie sogar einen Babystrampler aus Tarnfleck genäht, erzählt sie. Den hat der Kompaniechef dann einem frischgebackenen Vater geschenkt.“

Die Schilderung gibt dem Thema ein Gesicht, Individualität. Aber viel interessanter als die Anekdote finde ich allein schon die Tatsache, dass die Autorin dieses Geschichtchen in ihrem Artikel einsetzt. Vor meinem geistigen Auge kreuzen sich zwei gegensätzliche Welten – in todbringenden Kriegen agierende Armeen treffen auf einen Babystrampler. Aber leider folgt dieser grotesk-ästhetischen Überschneidung nicht etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der von Krieg durchzogenen Lebenswirklichkeit der kosovarischen Gesellschaft, sondern nur die Beschreibung (sozial)wirtschaftlicher Vor- und Nachteile der NATO-Präsenz in der Region.

„Man merkt: Die 30-Jährige ist stolz, als eine von rund 400 Kosovaren für die Kosovo Force (Kfor) zu arbeiten. „Alle wollen das“, sagt sie. Der Grund dafür ist simpel: Die Anstellung hilft ihrer ganzen Familie, denn mit 368 Euro netto im Monat liegt das Gehalt deutlich über dem Durchschnittseinkommen von 200 Euro. Auch die Krankenversicherung und den Rentenbeitrag zahlen die Truppen für sie, eine Seltenheit. „Für mich bedeutet die Kfor viel“, sagt sie auf Deutsch – denn auch den Sprachkurs spendierte die Nato-Mission.“

Die offizielle Arbeitslosen-Quote liegt bei rund 50%. Die Autorin stellt denn auch zurecht den krassen Gegensatz zwischen Hoffnungsträger KFOR und herrschender Armut heraus. Nur bleibt sie dabei auf der Ebene einer unreflektierten Zustandsbeschreibung, die sich liest, wie ein Werbeprospekt der NATO:

„Und tatsächlich sind die Stellen bei den ausländischen Truppen vielfältig: Es gibt Gärtner, Dolmetscher, Frisöre, Reinigungskräfte, Küchenhelfer, Bedienungen und Straßenbauer. Denn es gibt viel zu tun in den Camps. Aber auch außerhalb der Kfor-Zäune beeinflusst die Anwesenheit der Truppen das Wirtschaftsleben: So werden in Prizren die Kfor-Fahrzeuge in der örtlichen „Big Brother“-Auto-Werkstatt gewaschen und teilweise auch repariert. Benzin wird ebenfalls vor Ort gekauft. Ein einheimischer Bäcker backt das Brot für die Soldaten – extra nach deutschem Rezept und Hygieneauflagen. Das Truppen-Magazin „Maz & More“ wird wöchentlich vor Ort gedruckt, 15 Kosovaren sind damit beschäftigt. Und auch die Schmutzwäsche der Task Force Süd wird in Prizren gewaschen. Zwar gehört die Wäscherei nicht der Kfor – doch die Truppen sind der einzige Kunde.“

Wer will nach dieser Beschreibung den Abzug der NATO aus dem Kosovo?

Erst nachdem ich akzeptierte, dass die Autorin hier eine rein ökonomische Perspektive auf die Gegenwart im Kosovo bietet, verstehe ich die Logik des Artikels. Die Faktenlage ist überschaubar: Einige Menschen in einer verarmten europäischen Region sichern sich ihre Lebensgrundlage mit Diensten für die Armeen aus vorwiegend wohlhabenden Ländern. Die Autorin hat dafür eigene Worte:

„Seit zehn Jahren läuft das so, seitdem die „Kosovo Force“ der Vereinten Nationen in den ethnischen Bürgerkrieg zwischen Serben und Albanern eingeschritten ist. Seitdem sichert die Kfor nicht nur den Frieden. Sie ist auch einer der größten Arbeitgeber im Land geworden, der viele neue Arbeitsplätze schafft.“

Während uns in der ersten Hälfte des Artikels noch einzelne Menschen vorgestellt wurden, ist die Sprache der Autorin im zweiten Teil wesentlich wirtschaftswissenschaftlicher:

„Was das Kosovo wirklich zu bieten hat, sind Arbeitskräfte. Sie sind billig, denn jeder sucht dringend einen Job“

Wie zum Beispiel Rejhan bald. Denn die Rede ist von „rückläufigen Direktinvestitionen“, zwischen vielen Zahlen erfahre ich, dass Unternehmen lieber nach Bulgarien oder Rumänien gehen, dort herrscht nicht ganz so viel Korruption und Instabilität.

Die Autorin weiß auch, dass es dank dem österreichischen Kommandeur Thomas Starlinger „erstmals einen Masterplan für das Kosovo“ gibt. Wie der Plan aussieht, steht nicht geschrieben, aber

„Das Ziel ist dabei eindeutig: ein sich selbst erhaltendes Kosovo.“

Das klingt nach einem guten Ziel. Ob es wirklich der erste Kommandeur ist, der mit seinem „Masterplan“ dem Kosovo Gutes tun will, bleibt dahingestellt.

Sicher, man kann für oder gegen den NATO-Krieg und die Besetzung des Kosovo sein. Die deutschen Medien entschieden sich mehrheitlich für die kompromisslose Verteidigung der deutschen und NATO-Strategie. Aber dass auf Spiegel Online der KFOR als Motor der kosovarischen Wirtschaft nachgeweint wird, ohne auf den Zynismus einer so paradoxen Situation näher einzugehen, führt mir doch einmal mehr den Zustand eines deutschen „Leitmediums“ vor Augen. Die einzige Aussage des Textes ist, dass wirtschaftlicher Aufschwung alle Probleme löst und dass das Militär im gegebenen Fall Teil dieser Lösung ist – nicht mehr nur als gewalttätiges Druckmittel, sondern als Wirtschaftsfaktor.

Die Autorin fragt nicht, ob der Krieg und die jahrelange Stationierung von Armeen auch wirtschaftliche Vorteile etwa für die entsendenden Länder bedeuten. Sie blendet aus, welche Folgen es für eine Gesellschaft hat, wenn eine militarisierte Alltags-Struktur einzig als Überlebenschance von den Menschen wahrgenommen wird. Sie präsentiert in ihrem Artikel keine einzige Idee oder Hoffnung für die Menschen im Kosovo, jenseits der Perspektive, als „billige Arbeitskräfte“ für Investoren zu enden. Der gesamte Fokus der Auseinandersetzung mit den Problemen dieser Menschen basiert auf der Vorstellung, dass sie für irgendjemanden arbeiten, um sich ihr Überleben zu erwerben.

Eine Logik, nach der Menschen als Standortfaktoren und „billige Arbeitskräfte“ bewertet werden, wird von einer jungen Journalistin im Jahre 2009 nicht mehr hinterfragt, sondern verbreitet.


Zum Thema:
Einen Job kriegen im Kosovo,
Die NATO in den Medien

Die NATO in den Medien

Eine „Doku“, eine neue, und zwar eine NATO-treue


Pünktlich, noch vor dem Gipfel, erfolgte in der Nacht zum 2. April die Erstausstrahlung der Dokumentation „Bündnis ohne Kompass – Wohin steuert die NATO?“ von Kai Niklasch. Der Film ist das 45-minütige unkritische Portrait des Militärbündnisses aus der Perspektive seiner Anhänger und Befürworter.

Nach einer Einleitung mit Bildern von den einstürzenden Twin-Towers folgen die ersten Talking Heads, unter denen auch Frau Clinton ist. Sie weist darauf hin, dass die USA und Europa heute vor denselben Bedrohungen stehen. Anschließend wird mit einem kommentierten Bilderrückblick erläutert, dass das Bündnis nach dem II. Weltkrieg der Verteidigung von Norwegen bis zur Türkei diente. Nur nebenbei wird erwähnt, dass die Anfrage auf Aufnahme der Sowjetunion 1954 abgelehnt wurde, während die BRD 1955 dem Bündnis beitrat. So wurde die Gründung des Warschauer Pakts provoziert. Ob ein Charakteristikum der NATO in der klaren Strategie der Konfrontation liegen könnte, wird nicht gefragt, obwohl diese Frage sich mit den dargestellten Fakten aufdrängt. Stattdessen werden historische Bilder gezeigt, zu denen abwechselnd Jamie Shea, Angela Merkel und Egon Bahr ihre Erinnerungen an die NATO reflektieren, die stets mit Frieden und Sicherheit verbunden sind. Kritik gibt es nicht.

Mit Frankreichs neuer Entschlossenheit nach mehr Einfluss in der bisher US-dominierten NATO wird auf die Gegenwart geschwenkt. Jürgen Todenhöfer ist der erste Kriegskritiker, der zu Wort kommt. Er erinnert daran, dass die Bilder der von NATO-Bomben in Afghanistan getöteten Frauen und Kinder Hass unter Muslimen auslösen können. Zu sehen sind solche Bilder nicht. Stattdessen wird dem Zuschauer vom Kommentator mitgeteilt, dass eine Strategie zum „Kampf um die Herzen“ fehlte – ohne Frage nach einem Warum und ohne Hinterfragen von militärischen Einsätzen. Bilder folgen dann wieder reichlich, allerdings sehen wir einen verletzten deutschen Soldaten in Afghanistan, der in einem Interview rückblickend die erlebte Autobomben-Explosion beschreibt. Die Verletzbarkeit der NATO wird durch den verwundeten Soldaten gezeigt, die Opfer der NATO nicht.

Dabei sei der Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan eigentlich unklar, wird kurz erwähnt, während die eingeblendeten Bilder von den Gefahren (für die Deutschen) an der Front erzählen. Volker Rühe nennt es in entrüsteter Weise ein Versagen, dass die deutsche Regierung bis heute so tue, als sei die Bundeswehr in „bewaffneter Entwicklungshilfe“, statt endlich vom „militärischen Kampf“ zu reden.

Die Botschaft des Films ergibt sich aus der Blickrichtung der vielen erzählenden NATO-Akteure, die ohne gegensätzliche Positionen durch den Film führen. Es mutet noch immer bizarr an, wenn Joschka Fischer erzählt, dass er im Gespräch mit Milošević keinen ernsthaften Friedenswillen hat erkennen können, um dann einmal mehr die Bomben auf Serbien zu rechtfertigen. In der erhaben-staatsmännischen Manier wirken seine erzieherischen Worte bedrohlich. Er ist in dem Moment die personifizierte NATO, ohne Selbstkritik und Zweifel. Niemand widerspricht.

Kritische Töne sind bei den Repräsentanten der NATO sicher nicht zu erwarten, aber warum tauchen in dem Film generell keine NATO-kritischen Fragen auf? Die Kontroversen um den Kosovo-Einsatz werden mit ein paar Worten vom Kommentator abgehakt:

„Der damalige Vorwurf an die NATO: Sie habe ihre Moral über das geltende Recht gestellt und Streubomben eingesetzt – Es sei nicht nur um Moral gegangen, sondern auch um Sicherheit; so ein Gegenargument.“

Der Film unterschlägt wichtige Tatsachen über die militärischen Angriffe der NATO-Länder gegen Serbien, die vor allem im Hinblick auf den Filmtitel zur Vollständigkeit eines Portraits der NATO gehören:

  • Verheerende Fehler in der Kriegsführung, wie die Bombardierung eines Flüchtlingskonvois (Meldungen bei Berliner Zeitung und Spiegel),
  • die von Amnesty International als „Kriegsverbrechen der NATO“ bezeichneten Verstöße gegen das Völkerrecht (insbesondere Luftangriffe gegen zivile Einrichtungen, Verwendung verbotener Munition),
  • die Erfindung des „Hufeisenplans“, 1999 vom ehemaligen Bundeswehrgeneral und OSZE-Berater Heinz Loquai als Lüge enttarnt (auch die taz berichtete)
  • und die Manipulation von Information zur Rechtfertigung der Angriffe im Vorfeld des Krieges (in der Dokumentation „Es begann mit einer Lüge“ befassten sich Jo Angerer und Mathias Werth 2001 damit, zu finden als Video-Stream und als Manuskript und auch die österreichische Tageszeitung der Standard weiß in kritischer Weise an die Bombardements zu erinnern).

Diese kritischen Punkte fehlen gänzlich in dem Bild, das Kai Niklasch in seiner Dokumentation von der NATO zeichnet. Einzig von „Friedensbewegten“ ist in dem Film die Rede, die in ihrer Mitgliederzahl nicht an die Antikriegsbewegung der 70er Jahre heranreiche – was vielleicht das Fehlen ihrer Perspektive in dem Film erklärt. „Ihr Protest richtet sich gegen die NATO als Relikt des Kalten Krieges“, hört man den Kommentator ohne weitere zusammenhängende Erläuterung sagen. Eine Aktivistin berichtet, dass sie Gegenmacht „von unten“ aufbauen wolle, aber Argumente der Friedensinitiative fehlen im Film. Die Darstellung der Friedensbewegung erfolgt als inhaltsleeres Phänomen, das thematisch ohne Einordnung bleibt:

„Sich Aufmerksamkeit verschaffen, wenn auch nur mit ganz einfachen Mitteln, das ist, was sie umtreibt. […] Jedes Ziel sei ein zu Hause, steht auf ihren Papphüten, jede Bombe also eine Bombe zu viel. Sie kämpfen für eine friedliche Welt, fürchten Atomwaffen, wollen deren Abschaffung und die NATO ist für sie kein Verteidigungsbündnis.“

Die Bilder dazu zeigen ungefährlich aussehende Menschen und Kinder, nachdem auch Polizisten zu sehen waren, die gewaltvoll gegen friedliche Demonstranten vorgingen. Der kommentierte Kontext: Es sind nur wenige, sie sind friedlich.

Der Film präsentiert die NATO als ein historisch gewachsenes, unumstößliches Phänomen, das dem Zuschauer mit großen historischen Bildern (Reden von Präsidenten, Kanzlern, wichtige Konferenzen, Checkpoint Charlie, Mauerfall, 11.9.) als Teil seiner Realität und Identität verbildlicht wird. Die Friedensbewegung bekommt die Rolle einer vernachlässigbaren Begleiterscheinung und Kritiker der NATO kommen gar nicht zu Wort – so verzichtet der Film auf Gegenargumente, was zu einer völlig einseitigen Darstellung des Militärbündnisses führt und mit den ausgewählten Talking Heads wie ein Werbefilm für die NATO wirkt. Die Frage, was die NATO eigentlich für eine Funktion hat, bleibt nicht nur unbeantwortet, sie wird gar nicht ernsthaft angesprochen.

Eine Dokumentation, die Schwächen und tödliche Fehler der NATO verschweigt, trägt gar nichts zur Auseinandersetzung mit dieser Militärorganisation bei. Zum Filmschluss heißt es: „Nur mit einer klaren Richtung erlebt das Bündnis eine erfolgreiche Fortsetzungsgeschichte.“ Mit einer klaren Richtung und mit journalistischen Geburtstagsgeschenken wie dem von Kai Niklasch.


„Bündnis ohne Kompass – Wohin steuert die NATO?“ in der ZDF-Mediathek oder direkt als Stream (Bandbreite 2000+ oder 1000 und Modem)

Einen Job kriegen im Kosovo

… das ist eine vergleichsweise schwierige Angelegenheit, die sich in einer statistischen Arbeitslosenquote von 40% für das ganze Kosovo ausdrückt.


Für die europaweit jüngste Durchschnittsbevölkerung fehlen Perspektiven zur Selbstversorgung. Eine Hoffnung für junge Menschen im Kosovo bieten pikanterweise die US-geführten Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan. Die Militärbasis Camp Bondsteel, die in der Vergangenheit wegen dort von den USA begangener Menschenrechtsverletzungen Schlagzeilen machte (siehe Artikel aus Spiegel und JungerWelt), gilt laut der Sendung Zoom Europa vom 11.2.2009 auf arte als „größtes Rekrutierungszentrum für Hilfskräfte im Irak und in Afghanistan“. Bei einer Bewerbung an der Militärbasis (die auch als größte von den USA nach dem Vietnamkrieg im Ausland erbaute gilt) wird jungen Leuten aus dem Kosovo ein Monatslohn von knapp 6000 US$ in Aussicht gestellt, wenn sie verschiedene Hilfsarbeiten für die US-Armee in Baghdad oder Kandahar verrichten.

Im arte-Bericht wird betont, dass serbische und albanische Kosovaren dort, wo sie ihr Leben für das US-Militär riskieren, sogar als Kollegen miteinander auskommen. Tiefer wird leider nicht in die Thematik vorgedrungen, dabei gibt der Bericht interessante Anhaltspunkte zu wichtigen Fragen: Sind „ethnische Grenzen“ (wie sie bei der „Balkanberichterstattung“ in der Vergangenheit postuliert wurden) doch durchlässiger als soziale Grenzen? Wollen wir uns an Krieg als Einkommensperspektive im 21. Jahrhundert gewöhnen? Interessiert uns das überhaupt?

„Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft“ …