Am vergangenen Montag (25.1.2016) präsentierte Jane Schuch ihren Beitrag unter dem Titel „Bildsamkeit: Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Antiziganismus“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Ich war dort und gebe hier eine Zusammenfassung des Vorgetragenen.
[Content Note: Einige Links führen zu Texten, die die rassistische Fremdbezeichnung von Sinti und Roma enthalten. Diese Links sind mit CN gekennzeichnet.]
Begriff
Jane Schuch stellt einleitend klar, dass sie sich als Aktivistin und Sintiza bewusst für die Verwendung des Begriffs Antiziganismus entschieden habe, der unter Sinti und Roma wegen der enthaltenen rassistischen Fremdbezeichnung zum Teil abgelehnt wird (vgl. 1, 2). Er bringe, parallel zum Begriff Antisemitismus, die historische Dimension der Sinti- und Roma-Feindschaft zum Ausdruck.
Der in den 1920er Jahren vom sowjetischen Aktivisten und Autor Aleksandr German eingeführte Terminus sei im Rahmen der „tsiganologischen“* Forschung von Bernhard Streck in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum in klar rassistischen Kontexten verwendet worden, bevor er sich in jüngerer Zeit zur Bezeichnung des Rassismus gegen Sinti und Roma verbreitete. Das drängendere Problem als die Frage nach dem Begriff bestehe aber in der kontinuierlichen Dominanz weißer Wissenschaftler_innen, und in der damit einhergehenden Ausgrenzung von Sinti und Roma aus dem entsprechenden Forschungsbereich, wie es Isidora Randjelović in einem Artikel [CN] beschreibt.
Bildungsvorstellungen und die Rassifizierung von Sinti und Roma
Die menschliche Fähigkeit des Lernens und die damit verbundene Konstruktion des Selbst wurde mit dem Konzept der Bildsamkeit des Menschen Anfang des 19.Jh. von Johann Friedrich Herbart in die Pädagogik eingebracht. Die neuen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen hätten sich auf die rassifizierenden Konzepte über Sinti und Roma ausgewirkt: Das von mittelalterlichen Spionagevorwürfen über spätere romantisierende Idealisierungen und Abwertungen als Bestien reichende historisch geprägte Bild habe nun die Funktion erhalten, als Gegenentwurf zur Aufklärung und Zivilisation zu dienen. Während Bildung als Zivilisierungsperspektive galt — und damit weniger als Mittel zur Mündigkeit, denn zur Umerziehung — wurde den Sinti und Roma demnach pauschal u.a. Wildnis, Aberglaube und Randständigkeit zugeschrieben.
Diese Vorstellungen begründeten die folgenreiche Praxis staatlicher Umerziehungsprogramme: Auf Anordnungen der Kaiserin Maria Theresia während ihrer Regierungszeit (1740-1780) in Österreich-Ungarn nahmen Behörden den Sinti und Roma ihre Kinder weg [CN]. Für das heute thüringische Friedrichslohra sind missionarisch motivierte Umerziehungsmaßnahmen gegenüber Sinti einschließlich der Wegnahme von Kindern zu Beginn des 19.Jh. dokumentiert [CN]. Der an Herders „Volksgeist“-Vorstellung anknüpfende erzieherische Mehrheitsblick, weiter verfestigt vom „Tsiganologen“ Grellmann*, sei auch ausschlaggebend für die im 19.Jh. intensivierten rassistischen Polizeipraktiken, bei denen Sinti und Roma per se als kriminell erfasst und behandelt wurden (1899 wurde speziell eine „Reichzentrale zur Bekämpfung des [***]nerunwesens“ [CN] gegründet).
Feldforschung im Interesse der Rassenhygiene
Eva Justin [CN], die für die Rassenhygienische Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt (RHF) [CN] tätig war, promovierte 1943 an der Berliner Universität mit einer Dissertation über die Erziehung von Sinti und Roma. Die erbbiologisch argumentierende Arbeit behandelt das „Mischlingsproblem“, das durch Zwangssterilisation zu lösen sei, und gilt als eine theoretische Grundlage für den Porajmos, den Genozid an den Sinti und Roma. Begriffe wie Erziehbarkeit und Bildung würden an keiner Stelle in der Arbeit definiert und auch sonst beziehe sich die Arbeit nicht auf den Forschungsstand.
Justins eigene, an bürgerlichen Werten orientierte Kriterien wie Zuverlässigkeit, Fleiß, Ehrlichkeit oder Lernfähigkeit dienten als positive Marker zur Einschätzung von Erziehbarket. Demnach setze sie Erziehbarkeit bzw. Bildsamkeit mit Anpassung gleich. Voraussetzungen zur Bildsamkeit sehe sie bei Sinti und Roma nur bedingt oder gar nicht vorhanden. Justin kategorisiere Sinti und Roma mit klassisch rassistischem Vokabular als „primitiv“ und beschreibe sie als Menschen ohne Charakter.
Justins Beitrag habe direkt zur Sterilisation von Sinti und Roma als Teil der Rassenhygienepraktiken geführt. Ausdrücklich habe sie den Entzug staatlicher Sicherungsleistungen sowie den Zugriff des nationalsozialistischen Staates auf die Menschen empfohlen.
Fazit
Justins Dissertation sei als Forschungsarbeit zeitgenössischer Ethnologie einzuordnen. Sie sei von antiziganistischer Ideologie geprägt, veranschauliche die zu der Zeit üblichen Konzepte der Um-/Erziehung und diene als Stütze für die Forderung Robert Ritters, Sinti und Roma zu zerstören. Die Anwendung des Begriffs Bildsamkeit erfolge spezifisch im Sinne von Anpassung, und nicht im Sinne von Entfaltung des mündigen Subjekts.
Das Bild der bildungsfernen, nicht anpassungsfähigen Sinti und Roma ist noch immer nachweisbar verbreitet, es fehlt an Sensibilität für die rassistische Kontinuität im Bildungsbereich. Zudem werden Sinti und Roma in Projekten zur vermeintlichen Verbesserung der Situation aus den Ebenen der Konzeption, Leitung oder Durchführung ausgeschlossen.
Diskussion
Im Rahmen der abschließenden Diskussion mit dem Publikum verweist Jane Schuch auf die Tatsache, dass keine einzige Person, die für die rassenhygienische Erfassungsstelle arbeitete, nach 1945 verurteilt wurde. Eva Justin behielt ihren Doktorgrad und war an der Erhebung von Daten in der BRD beteiligt, wobei sie mit Sinti und Roma zu tun hatte.
Als weiterführende Literatur empfiehlt Jane Schuch diese Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma [pdf].
Mit Blick auf die fehlende Einbeziehung von Sinti und Roma nennt Jane Schuch beispielhaft den Berliner Senat: Bei der Konzeption des „Berliner Aktionsplans zur Einbeziehung ausländischer Roma“ sei mit keiner der vielen Berliner Roma-Initiativen zusammengearbeitet worden. Im Rahmen dieses Aktionsplans seien auch die sogenannten Willkommensklassen (de facto segregierte Schulklassen) eingerichtet bzw. fortgeführt worden, ebenfalls ohne Beteiligung von Roma.
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* Die „Tsiganologie“ ist ein traditionell rassistisch und biologistisch geprägter Forschungsbereich, der Sinti und Roma als Untersuchungsgegenstand versteht und im deutschen Sprachraum Ende des 18.Jh. entscheidend von Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann geprägt wurde. Nach wie vor existiert an der Universität Leipzig ein „Forum Tsiganologische Forschung“. Eine im Leipziger Universitätsverlag erschienene Publikation der Einrichtung wurde 2013 hier im Blog als Gastbeitrag rezensiert.
Vassilis Tsianos hat für kommenden Montag, 1.2.2016, abgesagt. Es war zuletzt unklar, ob eine andere Person ersatzweise vorträgt oder ob die Veranstaltung an dem Tag ausfällt. Die Veranstaltung fällt an dem Tag aus.
Im letzten Vortrag, am 8.2.2016, führt Stefanie Schüler-Springorum die in der Ringvorlesung gehaltenen Referate zusammen: „Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit: Konzepte, Konflikte, Fragen“ (facebook-Ankündigung).