Spiegel TV macht wieder Stimmung

Im Mai 2012 erschien ein neuer Spiegel-TV-Beitrag zum Thema Migration in Berlin. Darin geht es um einen „lukrativen Trick mit der Gewerbeanmeldung“ (spiegel.de), durch den insbesondere Roma aus Bulgarien und Rumänien ins „Paradies Neukölln“ (spiegel.tv) gelangen würden. Die Botschaft ist eindeutig: Mit einem „Trick“ würden sich diese Menschen Zugang zu deutschen Sozialleistungen verschaffen. (Zufällig ist der Autor Hendrik Vöhringer derselbe wie von diesem Spiegel-TV-Beitrag 2011, meine Kritik dazu dort). Der neue Beitrag wird in der Beschreibung auf spiegel.de als „wertfreie Faktenanalyse“ angepriesen. Wesentliche Fakten habe ich mir darum mal genauer angesehen:

1: Der „Trick“

In der ersten Minute wird das Spiegel-TV-Publikum aus dem Off informiert:

„Viele Roma-Familien zieht es nach Berlin Neukölln. Eigentlich dürfen sie nach EU-Gesetzen nur drei Monate als Touristen hier sein, doch es gibt einen Trick: Wer ein Gewerbe anmeldet, darf unbefristet bleiben und hat Anspruch auf Sozialleistungen.“ [SpTV-Beitrag 0:47]

Die Formulierung ist missverständlich, denn es gibt keine Aufenthaltsgesetze, die sich speziell auf Roma beziehen. Außerdem ist es nicht verboten, sich spontan für eine legale Wohnsitznahme in einem EU-Land zu entschließen, denn EU-Staatsangehörige müssen sich nicht im Vorfeld festlegen, ob sie aus touristischen Gründen, zur Existenzgründung oder für ein Gaststudium ein EU-Land bereisen. Richtig ist: Für bulgarische und rumänische Staatsangehörige gelten bis 31.12.2013 aufgrund der vom deutschen Bundestag beschlossenen Einschränkung des Freizügigkeitsgesetzes hohe Hürden bei der Suche nach einem Arbeitsplatz in Deutschland. Nicht betroffen von dieser Einschränkung sind selbständige Berufe, das heißt die Anmeldung eines Gewerbes in Deutschland ist für Staatsangehörige Rumäniens und Bulgariens gesetzlich problemlos möglich. Darum führt die Ausländerbehörde Berlin auf ihrer Homepage aus, dass sich die Beschränkungen für bulgarische und rumänische Staatsangehörige auf eine „unselbstständige Erwerbstätigkeit (Beschäftigung)“ beziehen. Und auch die Stadt Hamburg informiert über die Rechte rumänischer und bulgarischer Staatsangehöriger verständlich:

„Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit ist nur abhängig von den üblichen auch für Deutsche geltenden gewerbe- und steuerrechtlichen Vorschriften und einer eventuell erforderlichen Zulassung zur Berufsausübung (z.B. bei Ärzten).“

In der „wertfreien Faktenanalyse“ von Spiegel TV wird es als „Trick“ bezeichnet, wenn Menschen in Deutschland ihr Recht auf Gewerbeanmeldung (das in behördlichen Online-Portalen nachlesbar ist) nutzen und damit folgerichtig gesetzlichen Anspruch auf eine Sozialleistung wie Kindergeld erhalten.

2: Die Anzahl der Gewerbeanmeldungen

Aus dem 2. Neuköllner Roma-Statusbericht (2012) zitiert Spiegel TV, „dass 1377 bulgarische und 1034 rumänische Personen ein Gewerbe in Neukölln angemeldet haben“. Das ist der Status Quo von März 2012, aber sind diese Zahlen besonders hoch? In Berlin melden mehrere Tausend Menschen im Jahr ohne deutsche Staatsbürgerschaft Gewerbe an, so zumindest heißt es für 2009 in einer Informationsbroschüre vom BildungsWerk in Kreuzberg (2011):

„Insgesamt wurden im Jahr 2009 von ausländischen Mitbürgern über 9.394 Gewerbe neu errichtet, was einem Anteil von 33% an allen Berliner Firmengründungen entspricht.“ (BWK-Broschüre „Erfolgreich Gründen in Berlin“, S.6)

Damit sind insgesamt 2400 von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen betriebene Gewerbe in einem bevölkerungsstarken Bezirk wie Neukölln eher kein Skandal. Und wenn laut der BWK-Broschüre die Zahl der Neugründungen durch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft bereits seit den 80er Jahren stetig wächst, dann sind diese Zahlen sogar einfach Ausdruck einer über 40 Jahre alten Entwicklung. Nein, Moment:

„Inzwischen bilden sich in einigen Ecken Neuköllns wahre Gewerbe-Ghettos, in der ***Str. sind 61 Firmen angemeldet. In der ***Str. zu Spitzenzeiten sogar 91. Und allein in diesem Haus in der ***Str. gibt es 73 Gewerbe auf engstem Raum“ [SpTV-Beitrag 1:26]

„Ghettos“, aha. Für Berlin, die „Gründermetropole Nr.1 in Deutschland“ (Gründerindex 2012 der Bürgschaftsbank Berlin), sind unter 100 Gewerbe pro Straße völlig gängig, wenn nicht sogar wenig: Im Online-Auftritt der Berliner Gewerbedatenauskunft lassen sich angemeldete Gewerbe für alle Berliner Straßen anzeigen und, ob in Steglitz oder Prenzlauer Berg, Neukölln oder Marzahn, es gibt selten unter 100 und oft bis zu 500 angemeldete Gewerbe pro Straße.


Ein Stempel mit regisitrierter Gewerbe-Anzahl und Herkunft, Quelle: Spiegel TV

Erst die Kombination der Zahlen mit der bulgarischen und rumänischen Nationalflagge verdeutlicht ein zentrales Anliegen des Beitrags: Die Herkunft der gewerbemeldenden Menschen. Die Einblendung eines Stempels mit den Symbolen der Herkunftsländer zur Markierung der Berliner „Gewerbe-Ghettos“ treibt die „wertfreie Faktenanalyse“ voran.

3: Der deutsche Sozialstaat

Mehrmals geht es um den Anspruch auf Kindergeld:

„Die neuen Selbständigen sind meist im Abriss- und Baugewerbe tätig. Die Bezahlung ist schlecht – wie gut, dass es noch Kindergeld vom deutschen Staat gibt.“ [SpTV-Beitrag 1:45]

„Doch es gibt Trost. Die Familie hat inzwischen die Unterlagen für das Kindergeld zusammen. Der deutsche Sozialstaat hilft da gerne.“ [SpTV-Beitrag 8:22]

Mit Ironie wird der gesetzlich zugesicherte Anspruch von gewerbetreibenden Menschen auf Kindergeld kommentiert, als würde etwas damit nicht stimmen. In diesem Sinne hat auch der Immobilienmakler Lutz Thinius „inzwischen Zweifel am System“ (SpTV-Beitrag 5:47). Dieser Mann, der sich laut Spiegel TV „um zahlreiche Roma-Familien kümmert“ (ebd.), schätzt die Situation von Roma in Berlin so ein: „Die ham’s sehr leicht“ (SpTV-Beitrag 5:57). Nur warum muss er sich dann um sie „kümmern“? Mögliche Hinweise gibt ein stern.de-Artikel von Juni 2011 über die Immobilien-Geschäfte von Thinius. (Über Hintergründe von Berliner Immobilienaktivitäten im Zusammenhang mit Notlagen bulgarischer und rumänischer Staatsangehöriger berichtete vor wenigen Tagen auch das Magazin Frontal21.) Wie ein Teil der Berliner Immobilienbranche von der Situation der Roma profitiert, darüber sagt Spiegel TV nichts, aber über den Sozialstaat darf ein Immobilienmakler in die Kamera plaudern. Und das, wo inzwischen aktuelle Forschungsergebnisse über die Zusammenhänge von Sozialleistungen und Migration vorliegen, die das populistische Vorurteil einer kausalen Verbindung blass aussehen lassen.

Fazit

Die Inanspruchnahme von geltendem Recht zur Gewerbeanmeldung in Deutschland durch bulgarische und rumänische Staatsangehörige, unter ihnen Roma, bezeichnet Spiegel TV als „Trick“. Vergleichsweise gewöhnliche Berliner Gewerbe-Zahlen werden nach Herkunft sortiert und mit Nationalkolorit-Stempeln als „Gewerbe-Ghettos“ beweisartig präsentiert. Der rechtmäßige Zugang zu Sozialleistungen wie Kindergeld wird ironisch kommentiert und ein Immobilienmakler darf mit seinen Einschätzungen das Zerrbild vom „Paradies Neukölln“ flankieren. Das ist keine Informationsvermittlung, sondern einseitige Stimmungsmache gegen soziale Grundrechte. Denn Fakten, die dem rassistischen Narrativ der „Zuwanderung in den Sozialstaat“ widersprechen, werden in dem Spiegel-TV-Beitrag genau so ignoriert, wie die profitablen Geschäfte, die einige Berliner Immoblilienbüros auf Kosten von Roma aus Rumänien und Bulgarien treiben. Was Spiegel TV hier als „wertfreie Faktenanalyse“ anbietet, verdient eher das Label „astreiner Populismus“.

Was die Hamburger Medienanstalt beim Thema Einwanderung sachlich findet

[Trigger-Warnung: Hinweise auf die rassistische Fremdbezeichnung von Rom_nija]

Anfang des Jahres reichte Johannes Hykel (der hier mit einem Gastbeitrag vertreten ist) eine Beschwerde wegen des tendenziösen, mit rassistischen Begriffen arbeitenden Spiegel-TV-Berichts (hier der Originalbeitrag, hier meine Kritik) bei der zuständigen Medienanstalt Hamburg/ Schleswig-Holstein ein. Deren ernüchternde Antwort kam vor einigen Tagen, darin heißt es u.a. „diskriminierende Darstellungen sind nicht erkennbar“. Die Hamburger Landesmedienanstalt findet den Beitrag sachlich. Wo ist die kritische Haltung dieser Institution, die sich der Überprüfung journalistischer Mindeststandards verschrieben hat? Hat die Landesmedienanstalt die problematischen Punkte vielleicht übersehen? Warum wird das Bedrohungsszenario nicht kritisiert, dass der Beitrag im Zusammenhang mit Roma aufbaut? Warum werden Begriffe wie „Clan“, „Treck der Armutsflüchtlinge“ oder „Welle von Armutsflüchtlingen“ in dem Zusammenhang nicht als unzulässig und rassistisch erkannt, warum wird das als sachlich durchgelassen?

Johannes Hykel gab sich mit der Antwort nicht zufrieden und hat die Medienanstalt an den Problemgehalt des Spiegel-TV-Beitrags erinnert. Hier nun zunächst die sehr eigene Einschätzung der Medienanstalt Hamburg/ Schleswig Holstein und im Anschluss daran die Antwort von Johannes Hykel, die ich auch unterzeichnet habe:

Sehr geehrter Herr Hykel,

ich komme zurück auf Ihre Beschwerde über den Beitrag „Von Bukarest in den deutschen Sozialstaat: Klein-Rumänien in der Harzerstraße in Berlin“ im Programm von „Spiegel.tv“ und möchte Sie hiermit über das Prüfergebnis informieren.

Unsere Recherchen zu dem Fall haben ergeben, dass es zu dem von Ihnen monierten Beitrag bereits zwei Vorprüfungen durch andere Institutionen gegeben hat. So war bereits im November 2011 gegen die TV-Ausstrahlung im Programm von RTL Programmbeschwerde eingelegt worden. Die Prüfung durch die für RTL zuständige Niedersächsische Landesmedienanstalt hatte keinen Anfangsverdacht auf einen Verstoß gegen die medienrecht­lichen Bestimmungen ergeben. Auch beim Deutschen Presserat war eine entsprechende Beschwerde eingegangen. Der Presserat konnte keine Verletzung der publizistischen Grundsätze feststellen. Unsere ergänzende Prüfung der Sendung hat diese Ergebnisse bestätigt.

Ein Angriff gegen die Menschenwürde der gezeigten Per­sonen lässt sich den Formulierungen und Darstellungsweisen des Beitrags nicht entnehmen. Der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden ist, wird durch den Beitrag nicht infragegestellt. Auch diskriminierende Darstellungen sind nicht erkennbar, da der Beitrag sachlich gehalten ist und keine herabwürdigenden Aussagen über die Volksgruppe der Roma enthält. Die von Ihnen kritisierte Verwendung des Be­griffs „[***]ner“ kommt insgesamt zweimal vor und kann sicherlich mit guten Gründen kritisiert werden. Vor dem Hintergrund des ansonsten sachlich gehaltenen Beitrags ist dies jedoch noch nicht als Verstoß gegen den Pressekodex zu bewerten, zumal überwiegend neutrale Begriffe wie „Roma“, „Rumänen“ u.ä. benutzt werden.

Ein Verstoß gegen die Achtung der Persönlichkeitsrechte ist ebenfalls nicht festzustellen. So ist hinsichtlich der gezeigten Listen des Gewerbeamts zu berücksichtigen, dass das Betreiben eines Gewerbes nicht dem Bereich der Privatsphäre, sondern der Sozialsphäre zuzuordnen ist. Die Privatsphäre der Gewerbetreibenden wird durch die
Nennung der Daten, unter denen sie ihr Gewerbe angemeldet haben, nicht berührt. § 14 Abs. 5 Gewerbeordnung legt zudem fest, dass der Name, die betriebliche Anschrift und die angezeigte Tätigkeit des Gewerbetreibenden allgemein zugänglich gemacht werden dürfen. Auch werden die von Ihnen angeführten Personen auf der Straße von den Reportern nicht mit ihrem Namen angesprochen. Die Repor­terin liest ihnen lediglich Namen von der Liste des Gewerbeamts vor und fragt, ob sie diese Personen kennen würden. Dass auch einige Personen gezeigt werden, die sich weigern, mit den Reportern zu sprechen, ist nicht als Missachtung ihrer Privatsphäre zu bewerten, zumal über sie nichts weiter zu erfahren ist und ihre Namen nicht genannt werden. Gleiches gilt für die bei der Befragung eines Passanten anwesenden Kinder, zumal diese selbst nicht angesprochen werden und die Abbildung von Personen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen, nicht unzulässig ist.

Der Beitrag kann vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussion um die Migration von Armutsflüchtlingen sicherlich kritisiert werden. So wäre eine differenzierte Darstellung wünschenswert gewesen. Ein Verstoß gegen die medienrechtlichen Bestimmungen lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen Erläuterungen weiterhelfen konnte. Abschließend möchte ich mich für Ihre Beschwerde bedanken, die zu einer kritischen Überprüfung des Beitrags Anlass gegeben hat.

Mit freundlichen Grüßen
[***]
Medienanstalt Hamburg / Schleswig-Holstein
Bereich Programm und Medienkompetenz
www.ma-hsh.de

Und die Antwort:

Sehr geehrt* ***,

vielen Dank für Ihre Antwort und die medienrechtliche Prüfung. Allerdings kann ich Ihre Argumentation in fast allen von mir monierten Punkten keineswegs nachvollziehen. Aber der Reihe nach.

Sie schreiben, dass sich ein „Angriff gegen die Menschenwürde der gezeigten Personen […] den Formulierungen und Darstellungsweisen des Beitrags nicht entnehmen [lässt]. […] Auch diskriminierende Darstellungen sind nicht erkennbar, da der Beitrag sachlich gehalten ist und keine herabwürdigenden Aussagen über die Volksgruppe der Roma enthält“.

Diese Einschätzung ist sehr erstaunlich, denn mit welchen Bildern und Praxen werden die als Roma markierten Menschen in dem Beitrag in Zusammenhang gebracht? Die Grundaussage des Beitrags ist doch eindeutig: Die Deutschen — als kollektives Wir — würden von „den“ Roma bedroht, die das Sozialsystem systematisch ausnutzen und illegale Praxen (u.a. Untervermietung, Scheinselbständigkeit) ausüben. Wäre der Beitrag, wie Sie behaupten, sachlich gehalten, dann würden bspw. vielmehr die komplexen Ursachen beleuchtet, die hinter den im Beitrag gezeigten Phänomenen stehen. (Dafür wäre es wohl auch nicht notwendig, Listen von der Gewerbeauskunft einzublenden und in Wohnungen eindringen zu wollen.)

Dass das Erwähnen des [***]-Wortes keine Diskriminierung sei, da es lediglich zweimal (da gebe ich Ihnen recht) vorkomme und „überwiegend neutrale Begriffe wie ‚Roma‘, ‚Rumänen‘ u.ä. benutzt werden“, kann ich in keinster Weise nachvollziehen. Jedes Erwähnen des [***]-Wortes ist eine Diskriminierung!! Hinzuzufügen ist, dass neben „Roma“ und „Rumänen“ Begriffe wie „Clan“, „Treck der Armutsflüchtlinge“ oder „Welle von Armutsflüchtlingen“ fallen, die mit den gezeigten Menschen in einen Zusammenhang gestellt werden. Sind diese Wörter aus Ihrer Sicht sachliche Bezeichnungen? Wird hier nicht ein spezifisches Bild provoziert, dass die oben formulierte Grundaussage eines Bedrohungsszenarios unterstreicht?

Die Einblendung von Namen von der Gewerbeauskunft ist offensichtlich medienrechtlich zulässig. Auch das Ansprechen der sich weigernden Menschen sehen Sie nicht als Problem — mag medienrechtlich ebenfalls so sein. Allerdings übersehen Sie erstens, dass in einer Filmsequenz ein konkreter Name fällt — [0:40ff.]: ob XXX zu Hause sei (jedoch ohne Einblendung eines Gesichts) und dass Briefkästen mit deutlich zu lesenden Namen gefilmt werden [1:30ff.]. Darüber hinaus übersehen Sie, dass dies in einem *bestimmten* *Zusammenhang* geschieht, der wiederum mit der Grundaussage des Beitrags zusammenfällt. Dies u.a. genauer in dem Sinne, dass der Eindruck von etwas „Heimlichem“, „Verstecktem“ entsteht — etwas „Illegalem“, „Konspirativem“.

M.E. abstrahieren Sie in Ihrer Beurteilung von der Grundaussage des Beitrags, die einer rassistischen Logik folgt, in dem zwischen „Wir“ und „Ihnen“ unterschieden wird und eine machtvolle Abwertung der als Roma markierten Menschen vollzogen wird. Sie nehmen sich lediglich einzelne Aspekte heraus, die medienrechtlich zulässig sind, sehen aber nicht den *Gesamtzusammenhang* und die *Dramaturgie des Beitrages.* Schließlich widersprechen Sie sich: Auf der einen Seite betonen Sie zweimal, dass der Beitrag sachlich gehalten sei. Zum Schluss schreiben Sie jedoch, dass „vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussion um die Migration von Armutsflüchtlingen“ eine „differenzierte Darstellung wünschenswert gewesen“ wäre. Sachlichkeit und Differenzierung schließen sich in meinem Verständnis nun keineswegs aus,
bedingen sich vielmehr — zumal im Journalismus.

Mit freundlichen Grüßen

Johannes Hykel und Hendrik Kraft

Streichung der Hilfe für EU-Bürger*innen

Gastbeitrag von Fritzi

Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite in einem Übergangswohnheim für obdachlose Männer. Unsere Hilfe richtet sich an Menschen mit mehreren sozialen Schwierigkeiten, die sie ohne fremde Hilfe nicht überwinden können (§67 SGB XII). Die Einrichtung bietet auch ambulante Betreuung an, die sich an Menschen richtet, die Obdachlosigkeit nicht zu ihren sozialen Schwierigkeiten zählen. Zur Zeit betreue ich im ambulanten Bereich zwei junge Männer aus Großbritannien. Sie sind Brüder und an unsere Einrichtung gelangt, weil sie wegen Stromschulden Hilfe beim Bezirksamt gesucht haben. Die Sozialarbeiterin beim Bezirksamt (Abteilung Soziale Wohnhilfe) hat den Beiden ambulante Betreuung angeboten, weil sie während des persönlichen Gesprächs feststellte, dass die Stromschulden nur ein Symptom für mehrere Probleme sind. Zu Beginn meiner Hilfe stellten sich schnell die Ursachen der Schulden heraus und während des Hilfeverlaufs offenbarte sich zudem eine komplexe problembehaftete Biografie. Ich berichte nur das Noetigste aus der Vorgeschichte, damit die Lesenden sich ein wenig in die Situation einfuehlen können:

Der Vater ist nach Deutschland ausgewandert, als die Beiden sehr jung waren. Er hat ab und zu mal einen Brief geschickt. Ihre Mutter ist gestorben, als sie kurz vor Ende der Schule waren. Einen Tag nach der Beerdigung hat der Vater sie zu sich geholt. Dort wurden sie in der neuen Familie des Vaters untergebracht, ohne sich willkommen oder wohl zu fühlen. Im Prinzip kannten die Beiden den Vater, das Land, die Sprache nicht, und wollten gar nicht wirklich hier sein. Sie versuchten nach einiger Zeit wieder in England Fuß zu fassen, doch ohne soziale Unterstützung, weder aus einem Bekanntenkreis, noch vom Staat, wurde ihnen bald klar, dass sie in ihrer Heimat keine Perspektive haben. So entschieden sie sich zurück nach Deutschland zu kommen und noch einmal neu zu starten und wenigstens in der Nähe einer bekannten Person, ihrem Vater, zu sein.

Im Verlauf unserer Zusammenarbeit wurde ihnen einiges klar und sie haben angefangen ihre Lebenssituation zu ändern: Schuldenregulierung, Geldeinteilung, Suchtbearbeitung, Psychotherapie, intensive Arbeits- /Ausbildungssuche. Ich dachte die beiden sind auf einem guten Weg, bald wieder ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein weiter leben zu koennen. Dann kam ein Brief vom JobCenter: Es wurde beschlossen, dass im ALGII-Leistungsbezug stehenden EU-Bürger*innen diese Leistungen gestrichen werden. Als Grundlage nimmt die Regierung Art.16 Buchstabe b des Europäischen Fürsorgeabkommens, in dem steht, dass die Unterzeichnerstaaten des EFA Vorbehalte einlegen können:

„Jeder Vertragschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen.“

Bisher fanden die in §7 SGB II geregelten Auschlussgründe für ALG II-Antragsteller*innen keine Anwendung auf EU-Bürger*innen, aber mit diesem Vorbehalt nun tritt §7 SGB II für diese wieder in Kraft. In dem Brief vom JobCenter steht, dass die Leistungen vorläufig einbeahlten werden, bis zur endgültigen Entscheidung der Leistungsberechtigung, spaetestens in 2 Monaten und natürlich um eine Anhaeufung von Schulden „…in Ihrem Interesse…“ zu vermeiden. Dieser Brief kommt am 22.3.2012 — 8 Tage vor Monatsende.

Ein Widerspruch und persönlicher Besuch beim JobCenter ergibt, dass Leistungen für April doch noch angewiesen werden. Aber ab Mai nicht mehr, bis zur Entscheidung. Einen Monat Zeit sich darauf vorzubereiten, dass danach eventuell gar nichts mehr kommt. Womöglich werden sogar noch Leistungen zurückgefordert, immerhin sei der Vorbehalt der Bundesregierung am 19.12.2011 in Kraft getreten.

Meiner Meinung nach sind dies unzumutbare Härten und sollten so nicht durchführbar sein. Mal abgesehen von der existenziellen Not, die sich fuer die Klient*innen urplötzlich auftut, bedeutet diese Entscheidung für die sozialpädagogische Arbeit, eine Verantwortung zur Sicherung einer schon bestandenen Existenz übernehmen zu müssen, in deren Konsequenz qualitatives Arbeiten unmöglich gemacht wird. Hinzu kommt noch, dass der Vorbehalt laut Senat auch für die sozialen Hilfen gem. SGB XII gilt:

„Für die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ist auch weiterhin nur ein Vorbehalt in Bezug auf die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten formuliert, der dazu führt, dass diese Leistungen nach entsprechender Prüfung gewährt werden können, jedoch kein Anspruch dafür auf der Grundlage des EFA besteht.“

Das heißt für Soziale Einrichtungen, dass bestehende Betreuungsverhältnisse nach SGB XII auf der gleichen Grundlage des Vorbehalts von heute auf morgen durch die Bezirksämter abgebrochen werden können und somit Unionsbürger*innen in schon besonders schwierigen sozialen Lagen mit diesem existenziellen Problem allein gelassen werden. Die Referate und Anwält*innen raten zum Antrag auf Eilverfahren vor Gericht, dass die Leistungen als einstweilige Verfuegung weiter angewiesen werden.

Aber was, wenn dieser Vorbehalt zum Gesetz wird und nicht nur meine Klienten, sondern auch viele andere seit Jahren in Deutschland lebende Unionsbürger*innen, die sich darauf verlassen mussten, dass Sozialleistungen gezahlt werden, ab Mai keine Miete mehr zahlen koennen, nicht mehr krankenversichert sind und sich und ihre Angehoerigen nicht mehr ernähren koennen? Ist das fair? Wird bei solchen Entscheidungen an gesellschaftliche Folgen gedacht, wie höhere Armut, Kriminalität, Obdachlosigkeit? Wird darueber nachgedacht, dass hier lebende Unionsbuerger*innen – wenn das das Ziel dieses Vorbehaltes der Bundesregierung sein soll – nicht von heut auf morgen in das Land, von dem sie zufaellig einen Pass haben, zurückkehren koennen? Meine Klienten haben nicht die finanziellen Mittel zurückzukehren, geschweige denn einen Platz zum Leben oder eine Perspektive. Und diese Entscheidung deutscher Sozialpolitik nimmt ihnen den letzten Rest einer Chance.

____________
Siehe auch Interview mit Dorothee Frings: „Gleichbehandlung ist Pflicht“.

„Wir sind gegen das Wort [***]ner“¹

[Trigger-Warnung: Foto mit ausgeschriebeneer rassistischer Fremdbezeichnung von Rom_nija]


https://www.facebook.com/photo.php?fbid=3316593906635&set=p.3316593906635&type=1&theater

¹Hinweis: Nach dem berechtigten Hinweis vom Braunen Mob e.V., dass die rassistische Fremdbezeichnung von Betroffenen als verbale Gewalt erfahren werden kann, habe ich es in der Überschrift unkenntlich gemacht und den entsprechenden Tweet gelöscht. Um ihre Ablehnung zu diesem Begriff zu zeigen, zitieren Betroffene selbst auf dem Foto den Begriff, was etwas anderes ist, als wenn ich diesen Begriff losgelöst von dem Foto verbreite.

_____________
Weitere Infos:
Homepage von Harri Stojka,
ROMBASE Uni Graz über die Familie Stojka

Antwort von Spiegel TV: „Ihre Kritik können wir in keiner Weise nachvollziehen“

Der zuständige Redakteur Hendrik Vöhringer von Spiegel TV hat sich auf meine letzte Bitte um Stellungnahme gemeldet. Soviel vorweg: Er geht leider nicht auf meine Punkte, sondern nur auf den Offenen Brief der FFM ein. Warum, weiß ich erstmal nicht. Ich hab meine Bitte um Stellungnahme nochmal erneut geschrieben (unten), zunächst hier aber die ganze Antwort von Herrn Vöhringer:

Sehr geehrter Herr Kraft,
vielen Dank erst mal für Ihr Interesse an der Sendung. Gleichzeitig bitte ich die Verzögerung bei der Beantwortung Ihres Schreibens zu entschuldigen. Gerne hole ich das hiermit nach.

Ihre Kritik an dem Beitrag können wir in keiner Weise nachvollziehen, Ihre Vorwürfe einer einseitigen Berichterstattung weisen wir entschieden zurück. Uns geht es um die Beschreibung von sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Missständen. Die Herkunft oder Nationalität von Personen spielen für uns keine Rolle. Wir lassen uns von Rudolf Augstein leiten: „Sagen, was ist.“

Konkret zu dem Filmbeitrag: Finden Sie es nicht auch seltsam, wie übrigens auch das Neuköllner Gewerbeamt in Berlin, dass allein in der Harzerstrasse über 90 Gewerbeanmeldungen vorliegen? Wie Sie dem Beitrag entnehmen können, ist es uns sehr schwer gefallen, die angeblich selbstständigen Unternehmer ausfindig zu machen. Wenn jemand ein Gewerbe anmeldet, dann kann man doch davon ausgehen, dass er/sie auch Arbeit/Aufträge finden will. Wie soll das aber gehen, wenn keiner Werbung macht? Wenn teilweise die Meldeadressen nicht stimmen?

Weiter möchten wir darauf hinweisen, dass die Gewerbedatenbank in Berlin für die Öffentlichkeit frei zugänglich ist. Es handelt sich hier also keineswegs um geheime Daten. Hier der dazu passende Link: https://www.berlin.de/gewerbeauskunft/eauskunft/ega?op=su

Außerdem möchten wir Sie darauf hinweisen, dass in dem Beitrag die Begriffe „Illegale“, „Scheinselbstständige“ und „Sozialschmarotzer“ (wie von Ihnen behauptet) nicht vorkommen. Dass wir mit unserer Berichterstattung „Pogrome auf Roma“ begünstigen würden, glauben Sie doch selbst nicht. Gerne verweisen wir auch auf die Beurteilung des Deutschen Presserates auf eine Beschwerde vom 28.9.2011. Hier heißt es unter anderem: „Einen Verstoß gegen die Menschenwürde können wir nicht erkennen, da die dargestellten Personen nicht herabgewürdigt oder in irgendeiner Form verächtlich dargestellt werden.“ Weiter heißt es: „Diskriminierend ist der Beitrag nach unserer Auffassung ebenfalls nicht. Das Aufzeigen von Problemen gehört zu den ureigensten Aufgaben des Journalismus. (…) Unserer Auffassung nach wird an keiner Stelle in dem Video die Ethnie an sich diskriminierend dargestellt oder in den Vordergrund gerückt.“ (Quelle: Deutscher Presserat vom 13.1.2012)

Wir haben schon mehrere Beiträge über die Situation der Minderheiten in Rumänien erstellt. Über das Elend, über die Not in diesem Land. Und auch über die Diskriminierung. Im Anhang haben wir Ihnen weitere Beispiele
unserer journalistischen Arbeit angefügt.

Mit freundlichen Grüßen

Anhang:
http://www.spiegel.de/video/video-1146038.html
http://www.spiegel.de/video/video-1040327.html
http://www.spiegel.de/video/video-1080433.html

———————————-
Hendrik Vöhringer

SPIEGEL TV GmbH

Meine Antwort:

Sehr geehrter Herr Vöhringer,

danke für Ihre Antwort. Leider bezieht die sich auf den Offenen Brief der “Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V.”, wie mir Ihre Zitate zeigen. Auf meine Kritikpunkte gehen Sie jedenfalls nicht ein, vielleicht verwechseln Sie die beiden Briefe. Um Ihnen das erneute Nachlesen zu ersparen, fasse ich meine drei Kernpunkte mit wiederholter Bitte um Ihre Stellungnahme zusammen und gehe bei der Gelegenheit auch auf Ihr Schreiben ein:

1.
Die Liste vom Gewerbeamt ist öffentlich, Gewerbe werden gewöhnlich beworben, da gebe ich Ihnen Recht. Sicherlich sind die Daten nicht geheim, aber angesichts der Stimmung und der Perspektive, die Sie in Ihrem Beitragstitel “Von Bukarest in den deutschen Sozialstaat: Klein-Rumänien in der Harzerstraße” bereits vorgeben, geschieht das ungeschwärzte Einblenden der Adressliste ja in einem bestimmten Kontext. Ihre Überschrift mit den Signalworten “Bukarest” und “Rumänien” widerspricht augenscheinlich Ihrer Aussage in der Mail “Die Herkunft oder Nationalität von Personen spielen für uns keine Rolle”. Für die Logik Ihres Beitrags ist es eben wesentlich, den “deutschen Sozialstaat” auf der einen und die rumänischen Einwander*innen auf der anderen Seite als Gegensatzpaar zu konstruieren. Und in diesem Zusammenhang ist das Einblenden der ungeschwärzten Liste mit Adressen dieser Einwander*innen kein neutrales Abbilden, sondern hoch problematisch. Warum haben Sie die Namen nicht geschwärzt oder einfach auf die Quelle im Internet verwiesen?

2.
Damit bin ich bei Ihrem Zitat von Augsteins Worten “Sagen, was ist.” Ich interpretiere diese als Bekenntnis zu intensiver journalistischer Recherche für Beiträge mit (neuem) Informationsgehalt. Dazu zähle ich nicht Ihr in dem Beitrag gezeigtes Filmen rumänischer Einwander*innen, die ganz klar erkennbar signalisieren, nicht gefilmt werden zu wollen (auch nicht, wenn ihre Adressen als Gewerbe gemeldet sind). Warum haben Sie für die Sendung nicht wenigstens die Gesichter dieser Menschen, darunter Minderjährige, unkenntlich gemacht?

3.
Über die Menschen, die Sie mit der Adressliste bei laufender Kamera suchen, heißt es gleich zu Beginn aus dem Off, die meisten seien Roma, die sich selbst “ț***”, “Z***” nennen. Sodann ist in Ihrem gesamten Beitrag mit Blick auf die gefilmten Menschen ausschließlich von “Z***” die Rede — das heißt Sie nehmen die rumänische Bezeichnung einiger Individuen untereinander als Grundlage für den undifferenzierten deutschen Begriff “Z***” und nutzen diesen, als sei er völlig neutral. Ist Ihnen bewusst, dass die Benutzung des N-Worts unter Schwarzen nicht bedeutet, dass diese und andere Menschen im deutschen Fernsehen mit dem N-Wort bezeichnet werden wollen? Können Sie sich vorstellen, dass Menschen, die sich untereinander “țigani” nennen, von Ihnen im deutschen Fernsehen nicht mit dem deutschen Wort “Z***” bezeichnet werden wollen?

Die von Ihnen angeführten Zitate des Presserats (dessen Arbeit wichtig und wertvoll ist) beantworten im konkreten Fall keine meiner Fragen. Darum bitte ich Sie erneut darum.

Übrigens, ist Ihnen bekannt, dass ‘Pro Deutschland’ für einen tausendfach in Berlin verteilten Flyer einen Screenshot Ihres besagten Beitrags unter der Überschrift ‘Spiegel TV schlägt “Z***alarm”‘ verwendet — und dass auf diesem Flyer ein Mann zu sehen ist, der von Ihnen gegen seinen Willen gefilmt wurde?

Mit freundlichen Grüßen
Hendrik Kraft.