Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 8 — Pascal Grosse: „Koloniale Rassenpolitik vor und nach dem 1. Weltkrieg“

Teil 8 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Am vergangenen Montag (14.12.2015) war der für dieses Jahr letzte Termin der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin, und an dem sprach Pascal Grosse über „Koloniale Rassenpolitik vor und nach dem 1. Weltkrieg“. Auf der Grundlage einiger Notizen, die ich mir in dem gut gefüllten Hörsaal machte, folgt hier wieder eine Zusammenfassung des Vorgetragenen.

Eingangs hält Pascal Grosse fest, dass eine koloniale Beziehung nicht nur für die Kolonisierten, sondern auch für die koloniale Macht Veränderungen bedeute. Diese Wechselbeziehung lasse sich für den deutschen Kontext in der Gegenüberstellung der zwei Bilder „Kamerun“ (1891) und „Ausländer in Berlin“ (1903/1905) veranschaulichen.

Ein Blick auf die uns umgebenden Erinnerungsorte könne die Kolonialzeit in der Gegenwart sichtbar machen. Hier nennt Pascal Grosse das Afrikanische Viertel in Berlin Wedding, ein ursprünglich für Tierschauen konzipiertes Areal, wo noch immer Straßen und Plätze nach den Kolonialisten Carl Peters, Gustav Nachtigal oder Adolf Lüderitz benannt sind. Da nach dem Mauerfall die Namen kommunistischer und antifaschistischer Protagonist_innen problemlos entfernt wurden, sei es bezeichnend, dass Kolonialherren als Namensgeber bis heute offenbar kein Problem darstellen. (Mein Einschub: Nach 1990 umbenannt wurden z.B. Leninallee, Wilhelm-Pieck-Str., Dimitroffstr., und zur anhaltenden Idealisierung deutscher Kolonialherren im Afrikanischen Viertel siehe z.B. hier.) Auf dem Friedhof Columbiadamm in Berlin Neukölln steht der 1907 aufgestellte Gedenkstein, der an die „heldenhaften“ deutschen Kolonialtruppen erinnert, die 1904 den Genozid an den Herero und Nama begannen. Ein zusätzlicher Gedenkstein für die Opfer wurde 2009 eingeweiht. Auch die Personalie und die Statue von Robert Koch müssten im Kontext deutscher Kolonien gedeutet werden, die die Matrix für die Arbeit Kochs bildeten. Rudolf Virchow mit seiner Schädel- und Skelettsammlung sei ebenfalls in dem Zusammenhang zu nennen. Die Charité übergab am 30.09.2011 erstmals 20 Gebeine ermordeter Herero und Nama an ihre Nachfahren. (Aktuelles zu dem Thema auch hier.) Orte der Erinnerung an das koloniale System, das die Voraussetzung für diese Form des Transfers von Menschen bildete, müssten vergegenwärtigt werden.

Die kolonialen Dominanzbeziehungen zeigten sich nicht nur auf der militärischen und politischen Ebene, sondern schlugen sich auch in Namen und Bildern von Konsumprodukten der Kolonisierenden nieder. Schwarze Menschen repräsentierten hier Exotik (Bsp. Genussmittel) oder Unvollkommenheit und Defizite (Bsp. Kosmetik, Reinigungsmittel). Auch juristisch ist der Kapitalismus mit dem Kolonialismus verbunden, denn für deutsche Geschäftsmenschen bedeutete die Kolonisierung in den betroffenen Gebieten einen Übergang von ungeordneten in geordnete Handelsbeziehungen.

Der mit Ende des I. Weltkriegs 1919 besiegelte Verlust deutscher Kolonien habe zur Ausblendung von Kolonialismus in den Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs beigetragen. BRD und DDR waren nach 1945 nicht mit Unabhängigkeitsbewegungen konfrontiert, die deutsche Rolle während des Kolonialismus wurde heruntergespielt. Dabei gebe es mit der Kolonialwissenschaft einen Bereich, in dem deutsche Akteur_innen durch besondere Sorgfalt hervorstachen, und wo sie sich in verschiedenen Forschungsbereichen (z.B. Medizin, Ethnologie, Ingenieurswissenschaften) dank Kolonialismus profilierten. Diese koloniale Stärke basiere auf einem theoretischen Fundament, das eng mit einem Namen verknüpft sei: Bernhard Dernburg. Der Unternehmer und Politiker setzte sich für eine Abwendung von zerstörender Kolonisierung hin zur größtmöglichen Ausschöpfung des „Bodens, seiner Fauna und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonisierenden Nationen“ ein. Dies habe zu einer Versachlichung und Verwissenschaftlichung der Kolonisierung geführt, und der Ausbeutung einen ethischen Anstrich gegeben. Das Konzept der Nutzbarmachung von Menschen ließ sich problemlos mit der kolonialen Rassen-/Reproduktionpolitik verknüpfen. Im „Woermann-Preisausschreiben“ von 1912 wurde die deutsche Öffentlichkeit am Nachdenken über die Erhöhung der Erträge aus den Kolonien beteiligt. Maßnahmen wie Säuglingspflege, Impfungen und Geburtshilfe folgten dem Interesse an höchstmöglicher Wirtschaftlichkeit der Kolonisierten, die gleichzeitig keinen Zugang zu Europa erhielten und in den Kolonien für die weißen Europäer_innen arbeiteten. Hilfskonzepte der Gegenwart müssten vor diesem historischen Hintergrund bewertet werden.

Der Nationalsozialismus habe die logistische Matrix geboten für etwas, das bereits vorgedacht war. Die Zwangssterilisation hunderter Schwarzer deutscher Kinder ab 1937 war Teil der praktischen Umsetzung kolonialer Rassenkonzepte und erfolgte eingebettet in einen Diskurs, demzufolge die weiße Rasse von der Fruchtbarkeit Schwarzer Menschen bedroht sei und aussterben werde.

Abschließend geht Pascal Grosse auf die von Hannah Arendt in The Origins of Totalitarianism formulierte These ein, das Konzept Rasse widerspreche der bürgerlichen Idee der Nation. Er befürwortet diese These und lehnt die Gleichsetzung von Nationalismus und Rassismus ab. Wenngleich der Nationalsozialismus versucht habe, den völkischen Rassismus mit dem Nationalismus zu vereinen, existiere ein Widerspruch zwischen Rassismus als transnationalem und Nationalismus als staatsbürgerschaftlichem Konzept. (Völkischer Nationalismus argumentiere demnach rassistisch und nicht nationalistisch, um völkisch zu sein.) Die Phänomene Nationalismus — Rasse — Imperialismus bilden für ihn keinen Dreiklang, sondern ein Spannungsverhältnis. Sie sollten für die Analyse daher entkoppelt werden.

Die Frage in der anschließenden Diskussion zu seiner Sicht auf Schnittmengen zwischen Kolonialrassismus und Antisemitismus beantwortet Pascal Grosse damit, dass das Konzept Rasse hier wie dort auf der Idee biologischer Reproduktion aufbaue: Das zentrale Anliegen der Eugenik, die Zukunft der ‚besten‘, also arischen Rasse zu sichern, bilde die gemeinsame Matrix zwischen Rassenantisemitismus und Kolonialrassismus. Er lehnt die These ab, die Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika hätten zu Auschwitz geführt, und versteht den Kolonialismus somit nicht als notwendige Voraussetzung für den Holocaust.

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Mit dem nächsten Vortrag geht es am Montag, 4.1.2016 weiter. Angekündigt ist Philipp Dorestal mit dem Titel „Alltagsrassismus“ (siehe dazu hier die facebook-Ankündigung und hier mein Blogeintrag).

Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 7 — Kien Nghi Ha: „Rassismus, Macht und Wissen(schaft)“

Teil 7 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Vergangenen Montag (7.12.2015) gab es den Vortrag von Kien Nghi Ha über „Rassismus, Macht und Wissen(schaft) — Rassistische Exklusion und Weißsein in universitären Strukturen“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Das Interesse scheint ungebrochen, so zumindest deutet es die Anzahl an Besuchenden an. Es folgt eine Zusammenfassung.

[Unabhängig vom Vortrag, aber aktuell & zum Thema: Hashtag #CampusRassismus]

Bei den Veränderungen an schulischen Einrichtungen nach dem sogenannten „Pisa-Schock“ (2001) seien die tatsächlichen Ursachen für Bildungsunterschiede nicht berücksichtigt worden. Dafür gebe es heute „exzellente Universitäten“, in deren Selbstbildern von transnationaler Kooperation, Internationalisierung, Gender Mainstreaming, Diversität & Antidiskriminierung, Kosmopolitismus + Toleranz + Multikulturalismus die Rede ist — würden diese Ansprüche ernst genommen, würde der Vortrag unnötig sein.

Für das Problem der Benachteiligung in der Bildung müsse als Kontext die gesellschaftliche Kolonialität, also die koloniale Geschichte und ihre fortlaufenden Auswirkungen mit dem ihr eigenen Rassismus, anerkannt werden, statt nur die Annahme zu postulieren, alles sei vorbei. Konzepte von Moderne/Modernität stünden nicht im Gegensatz zur Kolonialität, sondern seien mit diesem verknüpft, wie auch der Kapitalismus mit sozialer Ungleichheit. Rassifizierung und Rassismus sollten nicht als Vorurteile, sondern müssten in ihrer Verknüpfung mit der historischen Wissensproduktion gesehen und verstanden werden. Zur Analyse dieser und weiterer Ebenen gesellschaftlicher Kolonialität diene der Ansatz Anibal Quijanos von der Coloniality of power.

Für die Definition von institutionellem Rassismus folgt Kien Nghi Ha der 1999 in London eingerichteten Macpherson-Kommission, die den institutionellen Rassismus um den rassistischen Mord an Stephen Lawrence und die darauf bezogenen Polizeiermittlungen untersuchte (Übersetzung dieser Definition ins Deutsche hier).

Machtvolle Produktion von Diskriminierung und Ungleichheit erfolge außer durch institutionellen Rassismus (Beispiel racial profiling) auch durch gesetzliche Benachteiligungen (Bsp. Aufenthalts-/Staatsbürger_innenschaftspolitik), durch strukturellen Rassismus (Bsp. Ausschlüsse und Benachteiligungen am „Arbeitsmarkt“), durch Chancenungleichheit/Auslese im Bildungssystem, durch diskriminierenden und gewaltvollen Alltagsrassismus sowie über genderbezogene Aspekte gegen LGTBI*.

Bei der Arbeitsmigrationspolitik lassen sich über inzwischen 100 Jahre bestehende tradierte Logiken feststellen, in denen der gesellschaftliche Verwertungsprozess der Arbeitsmigration dazu führt, dass etwa Gastarbeiter_innen mehrheitlich schlecht bezahlte und sozial stigmatisierte Arbeit erhielten. Kien Nghi Ha vermisst die Thematisierung dieser Marginalisierung von Gastarbeiter_innen in der BRD bei den offiziellen Feierstunden zu Gastarbeiter_innen-Jubiläen. Empirische Studien (bspw. von der OECD 2007, der Uni Konstanz 2010, des Sachverständigenrats 2014) belegten die Diskriminierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

An Universitäten zeigten sich Formen rassistischer Diskriminierung und Exklusion 1. institutionell durch starke Unterrepräsentation von Deutschen of Color, Muslim_innen, postkolonialen Migrant_innen u.a. „Minderheiten“ auf allen Ebenen des Unibetriebs, 2. epistemisch durch Marginalisierung und Nicht-Anerkennung in der akademischen Wissensproduktion (whitewashing knowledge, rassistisches Wissen) und 3. in diskriminierender Alltagskultur (rassistische Attacken, Bemerkungen, Witze…). Der Endbericht zum Projekt „Diskriminierungsfreie Hochschule“ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes verweise auf starke Forschungsdefizite in den Bereichen Exklusion, Diskriminierung und Whiteness, und bestätige die These von der Existenz eines „White Male Middle-Class Club“. Mit anderen Worten: Nicht mangelnde Bildung, sondern rassistische Exklusion ist der zentrale Faktor, der in Deutschland Zugänge zu Ressourcen und Institutionen blockiert.

Für genauere Belege derartiger Ausschlusspraktiken wäre Ethnic Monitoring notwendig, eine Praxis, die wiederum ein Dilemma bedeute: Die Erfassung von Kategorien wie Ethnizität, Race und Religion (wie in den USA und UK üblich) führe zum Problem von Definition und Zugehörigkeit und könnte Diskriminierungsprozesse womöglich reproduzieren — allerdings würden Diskriminierungsprozesse sichtbarer und zielgruppenorientierte Förderungen/Quotenregelungen (affirmative/positive action) erleichtert oder erst ermöglicht. Kien Nghi Ha plädiert für das Instrument des Ethnic Monitoring. Untersuchungsergebnisse des Projekts „Vielfalt entscheidet“ geben Hinweise auf die Diskrepanzen „kultureller Vielfalt“ in deutschen Stiftungen und in Berliner Kulturbetrieben.

Das aus der Dominanz weißer Akteur_innen entstandene wissenschaftliche Wissen könne vor dem Hintergrund gängiger Selbstbilder und Ansprüche in mehrerer Hinsicht als überlegenes Wissen bezeichnet werden. In seiner gesellschaftlichen Anerkennung, ‚Rationalität‘, ‚Objektivität‘ und daraus folgender Allgemeingültigkeit liege der machtvolle Charakter dieses Wissens. Was bei diesen Ansprüchen und Selbstbildern an Wissen(schaft) zu kurz komme, sei die Tatsache, dass Wissen immer situiertes Wissen ist. Denn jegliche Wissensproduktion erfolgt kontextgebunden -> zeitlich, kulturell, politisch, sozio-ökonomisch, mit Positionen in den Kategorien Geschlecht/soz. Hintergrund oder Ethnizität. So können bspw. wissenschaftliche Begriffe zur Bezeichnung von als nicht-weiß gelesenen Menschen als epistemologische/kulturpolitische Setzungen gelten, die durch Evolutionen und Widerstände geprägt sind: Ihre Entwicklung verlaufe von ‚Fremd-/Gastarbeiter‘, ‚Ausländer‘ über ‚MmM‘ vs. ‚Zuwanderer‘ vs. ‚(postkoloniale) Einwanderer‘ vs. ‚Postmigranten‘ zu ‚ethnische Minderheit‘, ’sichtbare Minorität‘, ‚People of Color‘ und ‚Türkisch-deutsch‘, ‚Schwarze Deutsche‘, Asiatische Deutsche, ‚Andere Deutsche‘, ‚Neue Deutsche‘, ‚Postmigrant*innen‘ usw.

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Die Vortragsfolien von Kien Nghi Ha wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte per E-Mail gesendet und können sicherlich @ TU Berlin angefragt werden.

Für Montag den 14.12.2015 ist Pascal Grosse angekündigt und wird über „Koloniale Rassenpolitik vor und nach dem 1. Weltkrieg“ sprechen (facebook-Ankündigung, meinen Blogpost dazu gibt es hier).

Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 6 — Astrid Messerschmidt: „Rassismuskritische Bildung als machtreflexiver pädagogischer Ansatz“

Teil 6 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

In einem wieder voller werdenden Hörsaal (mit mindestens 10 am Boden sitzenden Gästen) sprach Astrid Messerschmidt am letzten Montag, 30.11.2015, im Rahmen der TU-Ringvorlesung Rassismusforschung über Rassismuskritik aus bildungswissenschaftlicher Perspektive. Nachfolgend gibt es wieder eine Zusammenfassung.

Mit dem Begriff der bundesdeutschen Migrationsgesellschaft beschreibt Astrid Messerschmidt alle in Deutschland lebenden Menschen, auch die ohne jüngere Familienmigrationsgeschichte, wobei die BRD und Vorgängerstaaten nicht erst seit gestern, sondern schon lange vor dem II.WK Migrationsgesellschaft gewesen seien. Die migrationsgesellschaftliche Bildung und Forschung kann laut Astrid Messerschmidt nur vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Nationalsozialismus stattfinden. Hier kommt die Wirkung machtvoller Institutionen wie der Schule ins Spiel: Diese seien beim Thema Rassismus momentan eher nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Denn wie solle (vor genanntem Hintergrund) in einer Gesellschaft mit derart viel übermitteltem rassistischen Wissen ausgerechnet eine bewahrende Institution wie die Schule frei von diesem Wissen sein? Der Rassismus an Schulen sei nicht intendiert, aber würde sich in Handlungs- und Denkmustern fortschreiben. Das Projekt „Schule ohne Rassismus“ trage — trotz gutgemeinter Intention — einen falschen Titel und müsse eigentlich „Schule mit Rassismus“ heißen, als Zeichen, dass der Status Quo anerkannt wird, um einen realistischen Ausgangspunkt für Strategien gegen Rassismus zu beschreiben. In der aktuellen Form bestünde bei dem Projekt die Gefahr, dass es bereits an einer adäquaten Analyse scheitert. Astrid Messerschmidt betont mehrmals die notwendige Unterscheidung zwischen programmatchem Staatsrassismus und demokratischem Alltagsrassismus, wobei ersterer mit einer staatspolitisch getragenen, offenen Agenda rassistischer Verfolgung einhergehe und zweiter in demokratischen Institutionen im Alltag seine Wirkmacht entfalte, ohne offen intendiert zu sein. Für die aktuelle Situation in Deutschland sei nicht von einem Staatsrassismus, sondern von einem demokratischen Alltagsrassismus auszugehen. Die Auseinandersetzung mit letzterem bedeute, Institutionen wie Schule oder Polizei als Teil des Problems zu erkennen und Pädagog_innen sowie Akteur_innen in machtvollen Bildungseinrichtungen für Rassismus zu sensibilisieren, dem sie nicht mit offener Intention folgten.

Zum zeitgeschichtlichen Kontext erläutert Astrid Messerschmidt die Konstruktion des Gegensatzes zwischen Europa und Nichteuropa, die mit der Erfindung von Menschenrassen einherging und als (wissenschaftliche) Legitimation zur Abwertung und schließlich Kolonisierung von außerhalb Europas lebenden Menschen führte. In Anlehnung an den Begriff der Postkolonialität spricht Astrid Messerschmidt von der deutschen als postnationalsozialistischer Gesellschaft, um die ebenfalls in die Gegenwart reichende Wirkung der NS-Zeit begrifflich zu fassen. Kolonialismus und Nationalsozialismus seien vorbei, aber nicht vergangen — bis heute wirken die Idee und das Bild einer herkunftsbezogenen Gemeinschaft in Deutschland nach. Ein Unterschied wäre, dass im Kolonialrassismus eine unterlegene Gegnerschaft konstruiert wurde und das Gegenbild im Antisemitismus ein überlegenes gewesen sei. Übereinstimmend und bis heute aktiv sei die Idee der guten und reinen deutschen Gesellschaft. Zudem existiere der „Wunsch, unschuldig zu sein“ (Christian Schneider 2010). Im Zusammenhang mit der Vermeidung, die nationalsozialistischen Taten im Zusammenhang mit der eigenen (Familien)Geschichte anzuerkennen und zu begreifen („Distanzbedürfnis“), existiere auch das Bedürfnis in der Gegenwart Rassismus nur bei den ‚Anderen‘ zu sehen, etwa bei extrem Rechten oder in der (Nazi-)Vergangenheit. Folglich erscheine Rassismus als Randerscheinung in der Gesellschaft und in der Geschichte, also als Ausnahme.

Mit dem Ansatz der Mehrfachzugehörigkeiten in der Migrationspädagogik (und dem Abschied vom Konzept der Interkulturalität) sollen gleiche Rechte und gleiche Zugänge zu Ressourcen im Alltag in den Fokus rücken und Kritik an der dauerhaften othering-Markierung ‚Migrationshintergrund‘ geübt werden. Als Leitgedanke diene die von Theodor W. Adorno (1951) formulierte Vorstellung „ohne Angst verschieden sein“ zu können. Statt die Kategorien Kultur, Nation, Sprache, Religion als Fremdmacher zu reproduzieren, diene Paul Mecherils Konzept der natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeit als Orientierung, mit dem das Entweder-Oder der Abstammungslogik aufgegeben wird.

Für die Machtanalyse im Zusammenhang mit Bildung müsse das eigene Involviertsein in gesellschaftlich hegemonial gewordene Wertvorstellungen und Alltagsrassismus kritisch hinterfragt werden. Hierfür eigne sich der horizontale Machtbegriff Foucaults/Deleuzes, der den machtintegrierenden und -normalisierenden Anspruch von Institutionen wie Kliniken, Gefängnissen oder eben Schulen einbezieht.

Bildungsräume seien Machträume, die es zu analysieren gelte. Im Studium herrschen Leistungsvorstellungen und erfolgen Bewertungen, was im Gegensatz zum Verständnis akademischer Diskursivität stehe, das von freiem, konstruktiven Austausch ausgeht. Zudem sei die Universität von Repräsentationsverhältnissen nach gesellschaftlichen Mustern geprägt, die sich darauf auswirken, wer Zugang zur Uni hat und wer nicht, und innerhalb derer sich Alltagsrassismus reproduziert. Ähnlich an Schulen: Die Reproduktion von Ungleichheit im deutschen Schulsystem war bereits 2006 Gegenstand eines UN-Berichts (pdf, DE, dazu auch wikipedia). In der Schule, die als machtvolle Instanz sozialer Platzanweisung zu verstehen sei, würden Ausgrenzungs- und Ungleichwertigkeitsvorstellungen normalisiert und dabei nicht thematisiert. Zudem erfolge durch die Adressierung der Eltern eine Übertragung der Bildungsverantwortung und eine Reproduktion der Klassenverhältnisse. Ein Bewusstsein für die Schule in der Migrationsgesellschaft sei nocht nicht ausreichend entwickelt.

Für das rassismuskritische Studieren sei neben Kenntnissen über die historischen Hintergründe insbesondere Selbstkritik notwendig. Statt moralisierend über Rassismus zu sprechen fordert Astrid Messerschmidt die Entwicklung eines Bewusstseins, wie Studierende und Akteur_innen selbst in hegemonialen und rassistischen Strukturen verwickelt sind. Menschen, die einverstanden mit den Verhältnissen sind, seien auch mit der skizzierten Form der Bildungsarbeit nicht erreichbar.

Astrid Messerschmidt weist auf den von ihr mit initiierten Aufruf für solidarische Bildung hin, in dem eine über die „Integration von Migrant_innen“ hinausreichende Revision von Bildungseinrichtungen gefordert wird.

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Die Vortragsfolien von Astrid Messerschmidt wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte per E-Mail gesndet und können sicherlich @ TU Berlin angefragt werden.

Für Montag den 7.12.2015 ist Kien Nghi Ha angekündigt mit dem Vortragstitel „Rassismus, Macht und Wissen(schaft)“ (facebook-Ankündigung, zu meinem Blogeintrag hier entlang).

Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 5 — Natasha A. Kelly: „Rassismus, Macht und Sprache“

Teil 5 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Nachdem Lann Hornscheidt den Vortrag bei der Ringvorlesung Rassismusforschung der TU Berlin absagte, hat spontan Natasha A. Kelly zugesagt und zum angekündigten (unveränderten) Thema am letzten Montag, 23.11.2015, vorgetragen: Rassismus — Macht — Sprache.

Offenbar pegelt sich die Zahl der Interessierten und Studierenden ein, kaum mehr Menschen sitzen auf dem Boden, die Sitzreihen sind alle voll besetzt, der Raum in der Bibliothek der TU Berlin ist gefüllt. Nachfolgend gibt es wieder eine kurze Zusammenfassung des Referats.

Natasha A. Kelly leitet ihren Vortrag mit einem auf Video präsentierten Spoken-Words-Beitrag einer Schwarzen Künstlerin ein, die sich u.a. der Wirkmacht weißer Kolonialsprache auf die Kolonisierten widmet. Die Wirkmacht von Sprache im Allgemeinen sowie die rassistischen Dimensionen im Besonderen geben die Richtung des Referats vor.

Nach ihrem Rassismusverständnis (Natasha A. Kelly sagt bewusst „Mein Rassismusverständnis“) ist Rassismus dasselbe wie White Supremacy. In Anlehnung an Frances Cress Welsing sieht Natasha A. Kelly in einem ursprünglichen Unterlegenheitsgefühl weißer Europäer_innen eine Ursache für die, sozusagen kompensatorische, Überlegenheitsideologie und ihrer (wissenschaftlichen) Biologisierung, Rassifizierung und Kolonialisierung Schwarzer Menschen. Der Vorstellung europäischer, zivilisierter, kutlureller Überlegenheit liege die Intention zugrunde, das Überleben weißer Menschen zu sichern. Die stärkste Waffe für diese Mission sei die Schriftsprache, die mit der Bibel und der Erzählung eines weißen Jesus und einer weißen Maria in die kolonisierten Gebiete gebracht wurde. Bis heute dominiere die Wahrnehmung von weißen Menschen als gelehrt etc. und von Schwarzen Menschen als naturnah etc. als Folge kolonialer Narrative.

Natasha A. Kelly nennt W. E. B. Du Bois als Beispiel dafür, wie bereits zum Ende des 19., Anfang des 20. Jh. die soziale Dimension von Rassismus problematisiert wurde: Nicht tatsächliche Rassen, sondern an die Rassifizierung von Menschen geknüpfte Zugänge zu Ressourcen bestimmten die soziale Realität rassifizierter Menschen. Eine solche Wahrnehmung von Rassen als soziale Realität — im Sinne eines racial turns — fordert Natasha A. Kelly auch für deutschsprachige Kontexte und plädiert (wie der Vortragende von letzter Woche) für eine Beibehaltung bei gleichzeitiger Resignifizierung des Begriffs Rasse.

Nach der definitorischen Annäherung beschreibt Natasha A. Kelly die vielschichtige Wirkmacht von Rassismus, die auf der sprachlichen, der visuellen und der kognitiven Ebene gleichzeitig zum tragen komme. Sie illustriert das am N-Wort, dem Inbegriff weißer Vorherrschaft: Der Begriff selbst betrifft die sprachliche Ebene. Gleichzeitig wird auf der visuellen Ebene ein sichtbares Merkmal, zum Beispiel in der Kategorie ‚Hautfarbe‘, hervorgerufen — durch den Begriff, also unmittelbar mit diesem verbunden. Auf der kognitiven Ebene werden Vorstellungen von ‚Kultur‘ oder vermeintlichen Eigenschaften im weiteren Sinne aktiviert, die mit dem Begriff und der visuellen Vorstellung verbunden sind — also jene erlernten (stereotypen) Konzepte vergegenwärtigt, die unter den entsprechenden begrifflichen und visuellen Markern abgespeichert sind. Rassismus wirkt gleichzeitig auf den drei Ebenen.

Natasha A. Kelly erinnert daran, dass die Vermeidung des N-Wortes eine Errungenschaft Schwarzer Communities ist, und dass sämtliche Rechtfertigungsversuche („Kunst“, „Meinungsfreiheit“, „Satire“) den rassistischen Wirkkomplex des Begriffs kein bisschen reduzieren. (Jüngeres Beispiel, wie weiße Akteur_innen versuchen mit der Verwendung des rassistischen N-Worts originell zu sein hier). Mit Verweis auf Frantz Fanon beschreibt sie die Unmöglichkeit, die historischen Verhältnisse bei der Verwendung rassistischer Sprache auszublenden: Die Erfahrungen der kolonisierten Subjekte blieben in traumatisierender Weise als historischer Schmerz für die Nachfahren präsent — weiße Akteur_innen hingegen könnten sich nicht aus ihrer Relation zu den Kolonisierten lösen, sie tragen als Nachfahren der Kolonisierenden eine historische Schuld, die auch bei der Verwendung rassistischer Sprache nicht ausgeblendet werden könne. Das historische Verhältnis zwischen kolonisiertem und kolonisierendem Subjekt wird bei der Verwendung rassistischer Sprache stets aktiviert, dazu bedarf es keiner spezifischen Intention.

In einer genaueren Betrachtung des Verhältnisses zwischen Rassismus und Sprache — mit Sprachhandlungen werden Wirklichkeiten gewortet, Identitäten konstruiert — erläutert Natasha A. Kelly Möglichkeiten, wie Rassismus sich auch im Unterlassen von Sprachhandlung äußern kann: Im deutschen Feminismus beispielsweise sei die Ausblendung von Rassismus durch Nicht-Thematisierung verbreitet, wodurch Realitäten von Schwarzen Frauen, Frauen of Colour gar nicht in Betracht gezogen würden. Feminismus, bei dem ‚race‘ kein Thema ist, sei white feminism. Neben solcher Praxis der ‚Entnennung‘, in der Weißsein durch Nicht-Nennung als Norm reproduziert und Abweichng davon unsichtbar gemacht wird (theoretisch basierend auf bell hooks, begrifflich eingegrenzt von Lann Hornscheidt), existiert die Praxis der ‚Enterwähnung‘, in der Selbstbezeichnungen der von Rassismus Betroffenen ignoriert, also die Betroffenen mit ihrer selbstgewählten Bezeichnung nicht erwähnt werden (Zurückgehend auf Alanna Lockward). Um über etwas zu sprechen, müsse dies benannt werden. Durch ‚Entnennung‘ und ‚Enterwähnung‘ werde die Thematisierung nicht-weißer Perspektiven verhindert.

Über die Unsichtbarmachung nicht-weißer Perspektiven gelangt Natasha A. Kelly zur Critical Whiteness. Diese Theorie werde fälschlicherweise oft der weißen Wissenschaft zugeordnet, obwohl es sich dabei um ein von Schwarzen Menschen für Schwarze Menschen entwickeltes Modell handelt, dessen Ausgangspunkt die Perspektive des Schwarzen Objekts sei. Die Entwicklung und Betonung eigener Perspektiven aus der Sicht Betroffener auf die rassistischen Machtverhältnisse und die kritische Auseinandersetzung mit der weißen Machtposition gehe bereits auf widerständige Gesangs_Sprach_Handlungs_praxen während der Sklaverei zurück. Diese Perspektiven würden allerdings in der weißen Geschichtsschreibung nicht wahrgenommen — sondern erst jetzt, als die kritische Betrachtung der weißen Perspektive via Critical Whiteness von weißen Menschen übernommen wird, als vermeintlich weiße Theorie beachtet. Das sei ein Missverständnis und beruhe auf der fehlenden Anerkennung Schwarzer Wissens- und Theoriegeschichte, die zur Critical Whiteness von Toni Morrison nachhaltig beeinflusst wurde, wobei von genanntem W. E. B. Du Bois bereits vor über 100 Jahren Grundlagen zur Critical Whiteness zusammengetragen wurden. Du Bois, der sich als Black Marxist einordnete und die Theorien von Marx um den Aspekt ‚race‘ erweiterte, beschrieb die sozialen Auswirkungen von Rassismus auf die rassifizierten ‚black subjects‘, denen der Aufstieg auf das Level von ‚white subjects‘ durch eine trennende ‚colour line‘ verwehrt bliebe. Trotz formaler Übereinstimmungen von sozialen Eigenschaften mit weißen Subjekten würde die ‚colour line‘ dafür sorgen, das rassifizierte Subjekte nie in der sozialen Ebene von ‚white subjects‘ angelangen. Die ‚colour line‘ versperrt Zugänge zu Macht und Ressourcen, die weißen Subjekten vorbehalten sind.

Natasha A. Kellys Empfehlungen zum Weiterlesen:

  • Du Bois, W. E. B.: The Souls of Black Folk (Die Seelen der Schwarzen)
  • Fanon, Frantz: The Wretched Of The Earth (Die verdammten dieser Erde), Black Skin, White Masks (Schwarze Haut, Weiße Masken)
  • hooks, bell: alles
  • Morrison, Toni: Playing In The Dark – Whiteness and the Literary Imagination (Im Dunkeln spielen: Weiße Kultur und literarische Imagination)
  • Welsing, Frances Cress: The Isis Papers: The Keys to the Colors

  • Natasha A. Kelly weist außerdem auf die von ihr mit initiierte Ausstellung EDEWA hin, die noch bis 12.12. in der Weserstr. 179 in Berlin zu sehen ist.

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    Für Montag den 30.11.2015 ist Astrid Messerschmidt angekündigt mit dem Vortragstitel „Rassismuskritische Bildung als machtreflexiver pädagogischer Ansatz“ (facebook-Ankündigung, und hierlang zum Blog-Beitrag).

    Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 4 — Cengiz Barskanmaz: „Rassismus, Macht und Recht“

    Teil 4 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

    Letzten Montag (16.11.2015) sprach Cengiz Barskanmaz über „Rassismus, Macht und Recht“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung der TU Berlin. Es waren etwas weniger Interessierte anwesend als beim letzten Mal, so dass diesmal der ein oder andere Platz leer blieb und nur ein Mensch auf dem Boden saß. Die Raumkalkulation der TU Berlin ging damit erstmals auf. Es folgt wieder eine kurze Zusammenfassung.

    Cengiz Barskanmaz betrachtet aus einer jusristischen Perspektive die Schnittstellen zwischen den Konzepten Recht, Macht und Rassismus, wobei der Vortrag auf das Verhältnis von Recht und Rassismus fokussiere. Auf rechtlich-institutioneller Ebene werde das Verständnis von Rassismus durch das ICERD (international), die EMRK (in Europa) und das Grundgesetz (in Deutschland) juristisch definiert und geregelt — der Anspruch an diese Institutionen sei, mit ihren rechtlichen Maßgaben Schutz vor Rassismus zu bieten. Um die Ausgestaltung dieser Relation zwischen Recht und Rassismus zu analysieren, biete sich methodisch die Critical Race Theory an.

    Cengiz Barskanmaz folgt einer Definition, wonach Rassismus als Oberbegriff verschiedene Rassismen pluralisiert, etwa postkolonialen, antimuslimischen, antijüdischen oder Anti-Roma-Rassismus (er meidet ausdrücklich bewusst den immer weiter verbreiteten AZ-Begriff.) Ein zentrales Problem erkennt Cengiz Barskanmaz in der Frage um die Bedeutung des juristischen Begriffs ‚Rasse‘: Nach wie vor taucht ‚Rasse‘ in deutschsprachigen Gesetzestexten auf (z.B. in Art. 3, Abs. 3 GG), wodurch die tatsächliche Existenz menschlicher ‚Rassen‘ impliziert wird — gleichzeitig werde der englischsprachige Begriff ‚race‘ inzwischen als analytischer Begriff sozialer Positionierung verwendet, auch in deutschsprachigen Kontexten zur Vermeidung des Wortes ‚Rasse‘. Das Ausweichen auf den englischen Terminus hält Cengiz Barskanmaz für überflüssig und fordert, den Begriff ‚Rasse‘ ebenfalls ausschließlich im Sinne einer „performativen Kategorie“ zu verwenden, wie das englische ‚race‘, auf das dann nicht mehr ausgewichen werden müsste. Diese Begriffsbedeutung werde auch der sozialen und politischen Selbstbezeichnung ‚Schwarz‘ als racial category gerecht, die sich nicht auf die Existenz von ‚Rassen‘ bezieht, sondern auf eine Positionierung innerhalb rassistischer Strukturen. In diesem Sinne könne sich auch ‚Rasse“ auf die konstruktivisitische und sozial relevante Bedeutung beziehen — dafür brauche es die Übersetzung dieser Analysekategorie zu ‚race‘ nicht. Cengiz Barskanmaz betonte, der rassistische Bedeutungsgehalt von ‚Rasse‘ ließe sich nicht durch die Tilgung des Begriffs bekämpfen, im Gegenteil, lebe ihr biologistischer Gehalt bereits jetzt in unhinterfragten Ersatzbegriffen wie ‚Ethnizität‘ oder ‚Hautfarbe‘ fort, die genau jene Rassifizierung von Menschen fortführten, die durch den Verzicht auf ‚Rasse‘ eigentlich beendet werden sollte. So verhalte sich seiner Ansicht nach der Begriff ‚Ethnizität‘ zu ‚Rasse‘ wie ‚Ausländerfeindlichkeit‘ zu ‚Rassismus‘: Für die Analyse notwendige Benennungen würden vermieden und verwaschen. Vielmehr gelte es daher, die soziale Bedeutung rassismuskritischer Ansätze in die Bedeutung des Begriffs ‚Rasse‘ zu übernehmen, der als juristischer Terminus real existiert. Und der als „performative Kategorie“ immer aktiviert werde, wenn von Schwaren Menschen, PoC oder weißen Menschen die Rede ist.

    Seine Position für den Beibehalt des Begriffs ‚Rasse‘ in deutschen Gesetzestexten habe er auch als vom Berliner Senat gefragter Experte deutlich gemacht, und damit das Gegenteil der Empfehlungen bspw. der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (siehe Positionspapier dazu) oder des Deutschen Instituts für Menschenrechte (siehe Stallungnahme dazu) vertreten, die für die Streichung sind. (Zuletzt scheiterte die Streichung des Begriffs im Berliner Abgeordnetenhaus im Mai 2015.)

    Der rassismuskritischen Bedeutungsaufladung des Begriffs ‚Rasse‘ steht die historische, traditionell geprägte biologistische Bedeutung des Begriffs gegenüber. Und mit dieser kann er nach wie vor als Bestätigung für die Existenz von ‚Rassen‘ angeführt werden. In diesem Sinne gab es die Nachfrage aus dem Publikum, wie denn Juristinnen davon zu überzeugen seien, dass ‚Rasse‘ im Gericht nicht mehr in der biologistischen Bedeutung (mit der der Begriff in die Gesetzestexte nach 1945 gelangte), sondern fortan ausschließlich als soziale Konstruktion, als Analyserkategorie verstanden werde. Darauf entgegnete Cengiz Barskanmaz, dass der Kampf gegen Rassismus von der Begriffsdiskussion entkoppelt werden müsse. Juristische Akteur_innen und andere Menschen, wo es nötig ist, an die Nichtexistenz von ‚Rassen‘ zu erinnern, sei grundsätzlich als eigenständige Aufgabe der Sensibilisierung und Rassismusanalyse zu verstehen.

    Cengiz Barskanmaz ist grundsätzlich für eine machtkritische Rechtsforschung, die soziale Kategorien zwar kritisch reflektiert, aber ihre hohe Relevanz in Betracht zieht. Kategorien wie ‚Rasse‘, ‚Hautfarbe‘, ‚ethnische Herkunft‘, ‚Nationalität‘, ‚Sprache‘, ‚Religion‘ oder ‚Geschlecht‘ müssten hinterfragt werden, aber sie existierten als gesellschaftlich relevante Zuschreibungsebenen, „ob wir das wollen oder nicht“. Aus ihrer sozialen Relevanz heraus haben diese Kategorien Bedeutung als juristisch zu bewertende Diskriminierungsmerkmale. Das heißt, es müsse mit ihnen juristisch gearbeitet werden, ohne ihnen essenzialisierenden Charakter zuzuschreiben. Rassismus und essenzialisierende Sichtweisen kämen zwar vor in der (deutschen) Rechtssprechung, allerdings sollte das kritisiert und dafür sensibilisiert werden, ohne die Kritik allein auf die zur Diskriminierungsdefinition notwendigen Kategorien auszurichten.
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    Mit der präsentierten Thematik setzt sich Cengiz Barskanmaz auch in diesen zwei Aufsätzen auseinander: „Rasse – Unwort des Antidiskriminierungsrechts?“, Kritische Justiz 3/2011, 382-389 [pdf], und: „Rassismus, Postkolonialismus und Recht – Zu einer deutschen Critical Race Theory?“, Kritische Justiz 3/2008, 296-302 [pdf].

    Für den nächsten Montag, 23.11.2015, hat Lann Hornscheidt abgesagt (so der Newsletter). Es steht noch nicht fest, ob eine andere Person ersatzweise vorträgt. Natasha A. Kelly wird den Vortrag zu „Rassismus, Macht und Sprache“ übernehmen (facebook-Mitteilung, und hier entlang zum Beitrag hier im Blog).