Teil 9 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung
Am letzten Montag (4.1.2015) referierte Philipp Dorestal im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Der Vortrag trug den Titel „Alltagsrassismus“. Nachdem es zunächst so aussah, als bliebe der Saal nur halbvoll, waren kurz vor Beginn fast alle Plätze besetzt. Hier folgt wieder ein zusammenfassender Überblick zum Vorgetragenen.
Rassismus: Allgegenwärtige Produktion von Differenz
Für die Definition von Rassismus folgt Philipp Dorestal dem differentialistischen Ansatz von Étienne Balibar und Stuart Hall (hier grob skizziert), und beschreibt Rassismus als System der Produktion von Differenz über Kategorien wie ‚Hautfarbe‘, Kultur oder Religion. Dieses System wirke in ‚Wir‘-vs.-‚Die‘-Logiken, Othering-Prozessen, Macht und Abwertung, und könne sich in der Praxis variantenreich entfalten, etwa in Form rassistischer Gesten oder Beschimpfungen sowie in physischen Übergriffen oder Grenzüberschreitungen. Rassistisches Handeln äußere sich durch das Abrufen bestehender rassistische Bilder, Diskurse und Normen, die in der konkreten Situation aktualisiert werden. Rassistische Handlungen sind demnach performativ und erfolgen durch Wiederholung. Nicht-Betroffene leugnen die von Betroffenen erfahrene Allgegenwart des Rassismus vor allem deswegen, weil sie sonst ihre eigene Sozialisation innerhalb einer rassistisch geprägten Gesellschaft anzuerkennen hätten. Mit anderen Worten, die Reflexion der eigenen Position im System Rassismus kann einfach vermieden werden, indem den Betroffenen ihre Rassismuserfahrung abgesprochen wird.
Kein Entkommen
Zur Identifikation und Benennung rassistischer Praktiken sei ein erweiterter Gewaltbegriff nötig, der über physische Verletzung hinausgeht. Kleine Spitzen, Gesten, Handlungen und microaggressions müssten als Gewalt anerkannt werden. Scham, Demütigung und Schuldgefühle kennzeichneten Rassismuserfahrungen. Die komplexe Wirkmacht von Rassismus ist allgegenwärtig, für Betroffene gibt es „kein Entkommen“. Therapieversuche der durch Rassismus erlebten Traumata blieben erfolglos, denn das hierfür notwendige Vermeiden re_traumatisierender Situationen ist bei Rassismus unmöglich.
Mit dem auf Jane Elliot zurückgehenden Blue-Eyed-Experiment wird in Workshops eine soziale Situation simuliert, in der weiße Menschen, die ‚Blauäugigen‘, systematisch mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Abwertung konfrontiert werden (in Deutschland bietet Jürgen Schlichter solche Workshops an). Auffällig sei, dass die weißen Teilnehmenden meist ihre Teilnahme vor dem Abschluss abbrechen, da sie der simulierten Situation nicht standhalten — einer Situation, die für PoC und Schwarze Menschen Alltag ist, die sie nicht ‚abbrechen‘ können.
Alltäglicher Rassismus bedeutet für Betroffene kontinuierliche seelische bzw. psychische Verletzungen aufgrund von Gewalterfahrung. Das fehlende Abbauen von Stress, der aus diesen Erfahrungen resultiert, kann zu Erkrankungen führen. Darüber hinaus können Momente der Erinnerung (ausgelöst z.B. durch unbewusste Trigger) retraumatisierend wirken.
„Woher kommst du (wirklich)?“
Die auf das Aussehen von Menschen bezogene Frage nach der (wirklichen) Herkunft impliziert „du gehörst nicht (wirklich) dazu“. Die so übermittelte Vorannahme, Körper von Schwarzen Menschen und PoC seien eine Anomalie (und Deutsch–Schwarz ein Oxymoron), erzeugt symbolischen Ausschluss. Obgleich die Frage aus Interesse oder Neugier gestellt wird, sei sie nicht unschuldig, denn mit ihr wird (auch ungewollt) weiß als Norm gesetzt. Das zeige sich auch daran, dass z.B. weiße Schwed_innen der 2. Generation in Deutschland diese Frage nicht hören, aber Schwarze Deutsche egal welcher Generation. (Einen lesenswerten Text mit konkretem, aktuellen Bezug zu dieser Thematik gibt es übrigens bei shehadistan.)
Zwei Phänomene nennt Philip Dorestal beispielhaft für die körperliche Erfahrbarkeit von Alltagsrassismus: Einmal die Grenzüberschreitung, bei der ungefragt in den private space von rassifizierten Menschen eingedrungen wird, und zudem die Ausgrenzung, also die (räumliche) Isolation der von Rassismus Betroffenen. Rassistische Praktiken dieser Art sind ohne weitere verbale Artikulation für die Betroffenen spürbar.
Political Correctness
Verbreitete Mechanismen zur Vermeidung der Thematisierung von Rassismus zeigten sich in der Annahme von ‚racelessness‘ (‚race‘ als Kategorie mit konkreten sozialen Auswirkungen wird nicht wahrgenommen) und im Propagieren von color blindness (die Existenz von ‚race‘ wird bewusst negiert). Als Abwehrmechanismus sei auch das Konzept der Political Correctness einzuordnen: Der politische Kampfbegriff mache Schwarze/PoC-Politiken unsichtbar und stelle neue, ungewohnte Subjektivitäten infrage. Als in den 60er, 70er Jahren in den USA die Aufnahme nicht-weißer, weiblicher, LGBT-Perspektiven in die akademischen Strukturen gefordert wurde und sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse allmählich veränderten, diente der Begriff Political Correctness zur Diskreditierung dieser Entwicklung und zur Leugnung von Rassismuserfahrungen. Mit despektierlichen Verweisen auf Political Correctness würde auch im deutschen Kontext versucht, die Sensibilisierung für Rassismus zu diffamieren. Veranschaulichend zitiert Philipp Dorestal aus dem vorgeblich abwägenden Werk von Matthias Dusini und Thomas Edlinger, „In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness“ (Suhrkamp 2012), das Begriffe wie „paranoides Angstsystem“, „Antidiskriminierungswächter“, „Chor der Viktimisierten“ oder „sich überidentifizierende Adressaten von Diskriminierung“ enthält.
Abschließend
Zum Schluss verweist Philip Dorestal auf zahlreiche Beispiele für praktische Rassismuserfahrungen in Schule, Freizeit und bei der Wohnungssuche und beschreibt Testing-Methoden, mit denen rassistische Praktiken juristisch relevant nachgewiesen werden können.
Fazit: Rassismus findet als wiederkehrende Erfahrung statt, die in allen Lebensbereichen — in subtiler oder offensichtlicher Form — auftritt, und zu erheblichen Folgen wie Traumatisierungen führen kann.
Als Empfehlung gibt Philip Dorestal noch Claudia Rankine: Citizen, An American Lyric mit auf den Weg (Lese-/Hörprobe).
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In der anschließenden Diskussion gibt Philip Dorestal auf Nachfrage an, aus Zeitgründen nicht alle wichtigen Aspekte im Zusammenhang mit (Alltags)Rassismus abgedeckt zu haben, so auch Intersektionalität.
Er verweist zudem auf seine Ablehnung des zu sehr kontextgebundenen Begriffs ‚Rasse‘, dessen emanzipatorische Bedeutungswendung er nicht für realistisch hält, weshalb er für den als kritische Analysekategorie im englischsprachigen Kontext verbreiteten Begriff ‚race‘ plädiert. (War in den letzten Vorträgen immer wieder Thema.) Zwar gelte es, das Ideal „alle Menschen sind gleich“ zu erreichen, aber Analysekategorien mit Bezug zur Realität blieben notwendig, solange das Ideal nicht erreicht sei.
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Montag, 11.1.2016 spricht Barbara Schäuble darüber, „Was die Antisemitismusforschung aus der Rassismusforschung lernen kann“ (dazu hier die facebook-Ankündigung und hier mein Blogeintrag).