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Ich kannte Christoph Schlingensief nicht persönlich und er hat auch nicht mein Leben verändert. Aber ich erinnere mich noch genau, wie ich und mein damaliger WG-Mitbewohner Schlingensiefs Film Terror 2000 zig Mal gesehen haben. Ganz oft waren dabei Freunde zu Besuch. Es war meine erste WG, man entwickelte sich, gerade 18 geworden, langsam zum politisch sensiblen Wesen. Ende 90er, eigentlich noch immer Nachwendezeit, mindestens Umbruch (zumal in Prenzlauer Berg). Damit fiel Schlingensief in eine wichtige Zeit, und mit dem, was er machte, nahm ich ihn definitiv als eine Besonderheit wahr. Über die nachhaltigen Spuren seines Wirkens wird sicher in den nächsten Tagen viel geschrieben und gesendet.
Als er dann sein TV-Projekt U 3000 (alle Folgen wurden in einer fahrenden U-Bahn gedreht, ab und zu gab es Stopps an festgelegten Stationen) bei MTV umsetzen durfte, wohnte ich bereits alleine in einer Einraumwohnung. Selbst für den „coolen“ Jugendsender war Schlingensief etwas sehr besonderes, im positiven Sinne. Irgendwie scheiterte die Sendung dann daran, dass Christoph Schlingensief den strengen Zeitplan nicht einhielt, den MTV von der BVG für die Drehs in der U-Bahn bzw. genauer gesagt für die Stops an den Stationen vorgegeben bekam. In einer Sendung fuhr der Zug dann weiter und Schlingensief stand mit dem Kameramann noch auf dem Bahnsteig. Danach gab es plötzlich dann keine Folge mehr.
Christoph Schlingensief war zum Ende meiner Teenager-Zeit eine wichtige Figur in meiner TV-Wahrnehmung. Er war irgendwie anders als alle, nicht so plump rebellisch wie so viele, sondern irgendwie spürte ich bei ihm mehr, mir fallen gerade keine Adjektive dafür ein. Ich weiß nicht, ob er sein Ende bei MTV dann als Scheitern sah, oder ob er keinen Bock mehr hatte auf den Laden und das ganze TV-Geschäft. Scheitern als Chance.
Unter Freunden bewunderten wir immer auch seine politischen Aktionen, von denen man hörte. Die Ausländer raus!-Container-Aktion in Wien war ein großes Ding. Im KaDeWe war er mit einer Gruppe weniger betuchter Menschen einkaufen und wenn ich mich richtig erinnere, versuchte er einmal, in einem Berliner Luxushotel obdachlose Menschen in leerstehenden Zimmern kostenlos unterzubringen. Ich erinnere mich auch, dass er vorhatte, aus dem Reichstag hunderte Banknoten von hohem Wert zu werfen, was er aber abblasen musste, weil die Sache vorher aufflog und ihm untersagt wurde.
Schlingensief suchte die Öffentlichkeit und die Aufmerksamkeit. Aber nie, um seine Person in den Mittelpunkt zu stellen, sondern er schaffte es, mit provokanten Aktionen Flutlichter auf die alltäglichen Schweinereien zu richten. Es gefällt kaum jemandem, an verdrängten Dreck erinnert zu werden.
Seit gestern ist er nun tot und ich finde das sehr seltsam. Ich kannte ihn nicht und wenn ich traurig bin, dann nicht über einen persönlichen Verlust. Für mich war er eine wichtige Figur in diesem ganzen Medien- und Kulturbetrieb. Diese Figur ist jetzt weg.
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Siehe auch:
Kulturzeit Extra vom 22.8.2010