„Die Proteste spiegeln vor allem die Stimmung der jungen Generation wider“

Ein Interview mit Julian Gröger, Chişinău


Der Lektor der Robert Bosch Stiftung Julian Gröger steht im täglichen Austausch mit den Menschen in der Republik Moldau, vorwiegend auf Rumänisch, teilweise auf Russisch. Seit eineinhalb Jahren lebt er in der Hauptstadt Chişinău, die in den letzten Tagen international etwas aufmerksamer wahrgenommen wurde, als gewöhnlich.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse schildert Julian Gröger seine Eindrücke von den Hoffnungen, Wünschen und Ängsten der Moldauer.

Seit einigen Tagen gehen in Chişinău Menschen auf die Straße, um gegen das Wahlergebnis zu protestieren. Nach Medienangaben richten sich die Proteste gegen den Wahlsieg der Kommunisten, die das dritte Mal in Folge die Parlamentswahlen gewonnen haben. Kannst du etwas konkretere Angaben über die Unzufriedenheit machen, die in diesen Protesten zum Ausdruck kommt?

Julian Gröger: Viele junge Menschen, etwa auch meine Studenten, haben ihre ganzen Hoffnungen in diese Wahlen gelegt. Sie wollten das Land nicht verlassen, sondern waren sich sicher, dass im Frühjahr 2009 ein Wechsel stattfinden wird und Moldova einen klaren Kurs in Richtung Europa einschlagen würde. Am Montag hatte ich im Kurs zwei Studentinnen, die zu weinen anfingen. Sie konnten es nicht fassen, dass die Kommunisten ihre Macht sogar noch ausgebaut haben. Die Konsequenz ist bei vielen nun, dass sie dieses Land nun auch verlassen wollen, wie es ja schon ein Großteil der jungen Bildungselite getan hat. Für sie waren diese Versammlungen in den letzten Tagen sehr wichtig, um zu sehen, dass sie mit ihrer Verzweiflung nicht allein sind.

Spiegelt sich deiner Meinung nach die Stimmung aus dem gesamten Land in den Protesten wider?

Julian Gröger: Ich habe mich sehr gewundert, wie wenig im Vorfeld der Wahlen in der Öffentlichkeit, aber auch im Privaten, über Politik diskutiert wurde. Die Proteste spiegeln vor allem die Stimmung der jungen Generation wider, die ihre Zukunft in Europa sieht. Ältere Menschen gab es zwar auch vereinzelt auf der Straße – und viele haben Verständnis, aber gerade diejenigen Moldauer, die kein Rumänisch können, fühlen sich eher angegriffen und halten zum Präsidenten, Vladimir Voronin. Das Land war 1990 gespalten und ich habe die Befürchtung, diese Spaltung wird nun wieder deutlicher.

Welche Hoffnungen, Wünsche und Ängste haben die Menschen, die dort momentan auf die Straße gehen?

Julian Gröger: Die Opposition und eine Studentenvereinigung haben zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufgerufen. Mit diesen Protesten kamen noch andere, tiefere Wünsche hoch. Vor dem Regierungsgebäude wurde die rumänische Fahne gehisst. Einige von ihnen träumen wohl von einer Wiedervereinigung mit Rumänien, andere wünschen sich eher ein starkes Moldova in der EU. Sie wünschen sich Reisefreiheit, mehr Chancen und ein höheres Lebensniveau. Außerdem haben sie die alten Kommunisten satt und haben Angst, dass alles nochmal so, mindestens vier Jahre lang, weiter geht. Sie haben Angst, ihre besten Jahre in einem Land zu verbringen, das ihnen wenig Chancen zur persönlichen Entwicklung gibt. Das waren meine Eindrücke.

Und welche Hoffnungen, Wünsche und Ängste haben die Menschen, die die „Partei der Kommunisten“ wählten?

Julian Gröger: Das sind wohl am meisten Leute von Dörfern, aus Gagausien oder andere Bevölkerungsteile, die kein Rumänisch beherrschen. Es ging die Angst um, dass bei einem Wahlsieg der Liberalen jeder Rumänisch beherrschen müsse, um eine Arbeit zu bekommen. Diese Wähler wünschen sich Stabilität und haben Angst vor Veränderungen. Natürlich hat auch die Weltwirtschaftskrise die Angst vor Liberalismus bekräftigt. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Wähler den Kommunisten wirklich vertrauen oder hoffen, dass das Leben mit ihrer Hilfe besser wird. Das Ansehen von Politikern in diesem Land ist generell denkbar schlecht. Sie fürchten dieses Schreckgespenst „rumänische Wiedervereinigung“ und wünschen sich höhere Renten.

Also gibt es bereits eine Aufspaltung innerhalb der Gesellschaft zwischen Rumänien- versus Russland-orientierten Menschen?

Julian Gröger: Ja, und leider reißen diese Risse gerade wieder weiter auf. Ich merke das an mir selber, wie ich in den letzten Tagen wieder genauer hingehört habe, ob jemand Rumänisch oder Russisch spricht. Leider hat es auch kein Politiker verstanden, diese zwei Lager zu einen und zu sagen, dass Moldova ein zweisprachiges Land ist und dass dies seinen Reiz und seinen Charakter ausmacht. Als der Vladimir Voronin eine Pressekonferenz auf Russisch hielt und ein Journalist ihn bat, auf Rumänisch zu sprechen (was er normalerweise auch tut), da antwortete der Präsident, er spreche kein Rumänisch, sondern nur Moldauisch. Er trifft damit eine Wunde, an der so viele, besonders junge Menschen leiden. Es wurde über Jahrzehnte versucht, eine Fake-Identität aufzubauen. Dass Moldova ein eigenes Staatsgebilde ist und sich auch durchaus auf mehreren Ebenen von Rumänien unterscheidet, stellt in intellektuellen Kreisen kaum jemand in Frage, aber warum kann man es nicht so sagen wie es ist: Es ist mit Rumänisch und Russisch ein zweisprachiges Land, in dem mehrere Volksgruppen friedlich zusammenleben. Das sind Moldauer.

Lässt sich eine Aufspaltung der Gesellschaft auch geografisch erkennen, etwa zwischen Stadt- und Landbevölkerung?

Julian Gröger: Gerade habe ich im Fernsehen gesehen, wie es in Comrat (Hauptstadt der russischsprachigen Gagausen im Süden) und sogar auch in Bălţi (zweitgrößte Stadt, nördlich von Chişinău) pro-kommunistische Demonstrationen gab. Ich habe gerade eher das Gefühl, dass Chişinău eine pro-europäische, liberale Insel ist. Einen großen Unterschied zwischen Land- und Stadtbevölkerung gibt es aber durchaus auch. Auf dem Land ist man es vielleicht einfach noch gewohnt, kommunistisch zu wählen. Dort ist der Altersdurchschnitt wesentlich höher als in Städten und die Abwanderung („Brain-Drain„) ist dort sehr deutlich spürbar.

Sprechen die Menschen problemlos Russisch und Rumänisch (bzw. „Moldauisch„) oder tendenziell eher nur eine der beiden Sprachen? Also gibt es eine tatsächliche Zweisprachigkeit der Bevölkerung oder nur zwei verschiedensprachige Gesellschaftsgruppen?

Julian Gröger: Die meisten jungen Menschen sind wirklich zweisprachig. Jeder, der Rumänisch als Muttersprache hat, kann auch sehr gut Russisch. Umgekehrt ist es nicht immer so, aber meistens. Etwas anders ist es bei den Älteren, die bis 1990 nur Russisch brauchten und auch bis heute kein Rumänisch gelernt haben. Einen Vorwurf kann man ihnen meistens nicht machen. Ich fand es in den letzten eineinhalb Jahre sehr cool, wie die Moldauer mit dieser Situation gelebt haben. Streitereien habe ich selten erlebt. Ich hoffe, diese positive Tendenz zur Zweisprachigkeit wird durch die neuesten Ereignisse nicht gestört.

Welche konkrete Rolle spielt Rumänien für die Menschen in der Republik Moldau?

Julian Gröger: Eigentlich eine sehr geringe. Ich wundere mich auch manchmal, wie wenig präsent die Rumänen hier sind. Internationale Kulturarbeit machen Franzosen, Polen, Deutsche und ein paar andere Staaten, aber Rumänien ist hier wenig sichtbar, auch was Programme für Studenten angeht. Bukarest ist für die meisten so, wie Moskau oder Rom, ein anderer Ort, an dem man arbeiten und mehr Geld als in Chişinău verdienen kann – mehr nicht.

Und welche Rolle spielt Rumänien für die moldauische Politik?

Julian Gröger: Der liberale Bürgermeister, der vor zwei Jahren gewählt wurde, sucht die Nähe zu rumänischen Politikern, die der Präsident tunlichst vermeidet. So kommt es zu den Situationen, dass vom Bürgermeister eingeladene, rumänische Politiker an der Grenze zu Moldova auf Order der Kommunisten nicht ins Land gelassen werden.

Und welche politische Rolle spielt Russland?

Julian Gröger: Durch das abtrünnige Transnistrien hat Moskau noch einen Daumen auf Moldova. Nur Moskau kann diesen Konflikt wohl lösen, wenn es denn mal will. Der Transnistrien-Konflikt hält Moldova in wirtschaftlicher, aber auch politischer Entwicklung stark zurück. Moldova ist daher auch 20 Jahre nach der Herauslösung aus der SU noch stark abhängig von Moskau – wirtschaftlich und politisch.

In den westlichen Medien heißt es, die Moldauer lehnen mehrheitlich eine einseitig russophile Politik und damit auch die politischen Entwicklungen in Transnistrien ab. Was ist dein Eindruck?

Julian Gröger: Ja, das ist unbedingt richtig. Vor vier Jahren musste Voronin im Wahlkampf starke pro-europäische Zugeständnisse machen, um die Wahl zu gewinnen. Seit dem fährt er einen Zickzack-Kurs. Mit einseitiger, russophiler Politik hätten die Kommunisten wenig Chancen gehabt. Ich habe das Gefühl, dass die große Mehrheit der Bevölkerung eher nach Europa schaut, als nach Russland.

Wie schätzt du die momentane emotionale Stimmung im Land ein? Droht tatsächlich Instabilität?

Julian Gröger: Heute (Mittwoch) bin ich durch die Straßen gelaufen und habe so etwas wie Katerstimmung verspürt. Es fühlt sich wie der Aufräum-Tag nach einem Festival an. Viele sind wohl auch schockiert von den gestrigen Ereignissen und deren Bilder, die das Moldauische Fernsehen nun rauf und runter spielt. Natürlich nutzen die Kommunisten mit ihrem Fernsehsender auch noch mal die Gelegenheit, zu zeigen, was für Randalierer da am Werk waren und lassen so die Opposition sehr schlecht aussehen. Ich habe das Gefühl, der Präsident hat die Bevölkerung heute genügend eingeschüchtert (Schießbefehle, harte Strafen etc.) und ich bin ziemlich sicher, dass sehr bald schon wieder normaler, „kommunistischer“ Alltag eintritt. Ich möchte mit den Anführungszeichen betonen, dass die sogenannten Kommunisten natürlichen keine im klassischen Sinne kommunistische Politik machen.

Vielen Dank nach Chişinău an Julian Gröger. Die Fragen stellte Hendrik Kraft.


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