Streichung der Hilfe für EU-Bürger*innen

Gastbeitrag von Fritzi

Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite in einem Übergangswohnheim für obdachlose Männer. Unsere Hilfe richtet sich an Menschen mit mehreren sozialen Schwierigkeiten, die sie ohne fremde Hilfe nicht überwinden können (§67 SGB XII). Die Einrichtung bietet auch ambulante Betreuung an, die sich an Menschen richtet, die Obdachlosigkeit nicht zu ihren sozialen Schwierigkeiten zählen. Zur Zeit betreue ich im ambulanten Bereich zwei junge Männer aus Großbritannien. Sie sind Brüder und an unsere Einrichtung gelangt, weil sie wegen Stromschulden Hilfe beim Bezirksamt gesucht haben. Die Sozialarbeiterin beim Bezirksamt (Abteilung Soziale Wohnhilfe) hat den Beiden ambulante Betreuung angeboten, weil sie während des persönlichen Gesprächs feststellte, dass die Stromschulden nur ein Symptom für mehrere Probleme sind. Zu Beginn meiner Hilfe stellten sich schnell die Ursachen der Schulden heraus und während des Hilfeverlaufs offenbarte sich zudem eine komplexe problembehaftete Biografie. Ich berichte nur das Noetigste aus der Vorgeschichte, damit die Lesenden sich ein wenig in die Situation einfuehlen können:

Der Vater ist nach Deutschland ausgewandert, als die Beiden sehr jung waren. Er hat ab und zu mal einen Brief geschickt. Ihre Mutter ist gestorben, als sie kurz vor Ende der Schule waren. Einen Tag nach der Beerdigung hat der Vater sie zu sich geholt. Dort wurden sie in der neuen Familie des Vaters untergebracht, ohne sich willkommen oder wohl zu fühlen. Im Prinzip kannten die Beiden den Vater, das Land, die Sprache nicht, und wollten gar nicht wirklich hier sein. Sie versuchten nach einiger Zeit wieder in England Fuß zu fassen, doch ohne soziale Unterstützung, weder aus einem Bekanntenkreis, noch vom Staat, wurde ihnen bald klar, dass sie in ihrer Heimat keine Perspektive haben. So entschieden sie sich zurück nach Deutschland zu kommen und noch einmal neu zu starten und wenigstens in der Nähe einer bekannten Person, ihrem Vater, zu sein.

Im Verlauf unserer Zusammenarbeit wurde ihnen einiges klar und sie haben angefangen ihre Lebenssituation zu ändern: Schuldenregulierung, Geldeinteilung, Suchtbearbeitung, Psychotherapie, intensive Arbeits- /Ausbildungssuche. Ich dachte die beiden sind auf einem guten Weg, bald wieder ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein weiter leben zu koennen. Dann kam ein Brief vom JobCenter: Es wurde beschlossen, dass im ALGII-Leistungsbezug stehenden EU-Bürger*innen diese Leistungen gestrichen werden. Als Grundlage nimmt die Regierung Art.16 Buchstabe b des Europäischen Fürsorgeabkommens, in dem steht, dass die Unterzeichnerstaaten des EFA Vorbehalte einlegen können:

„Jeder Vertragschließende hat dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen.“

Bisher fanden die in §7 SGB II geregelten Auschlussgründe für ALG II-Antragsteller*innen keine Anwendung auf EU-Bürger*innen, aber mit diesem Vorbehalt nun tritt §7 SGB II für diese wieder in Kraft. In dem Brief vom JobCenter steht, dass die Leistungen vorläufig einbeahlten werden, bis zur endgültigen Entscheidung der Leistungsberechtigung, spaetestens in 2 Monaten und natürlich um eine Anhaeufung von Schulden „…in Ihrem Interesse…“ zu vermeiden. Dieser Brief kommt am 22.3.2012 — 8 Tage vor Monatsende.

Ein Widerspruch und persönlicher Besuch beim JobCenter ergibt, dass Leistungen für April doch noch angewiesen werden. Aber ab Mai nicht mehr, bis zur Entscheidung. Einen Monat Zeit sich darauf vorzubereiten, dass danach eventuell gar nichts mehr kommt. Womöglich werden sogar noch Leistungen zurückgefordert, immerhin sei der Vorbehalt der Bundesregierung am 19.12.2011 in Kraft getreten.

Meiner Meinung nach sind dies unzumutbare Härten und sollten so nicht durchführbar sein. Mal abgesehen von der existenziellen Not, die sich fuer die Klient*innen urplötzlich auftut, bedeutet diese Entscheidung für die sozialpädagogische Arbeit, eine Verantwortung zur Sicherung einer schon bestandenen Existenz übernehmen zu müssen, in deren Konsequenz qualitatives Arbeiten unmöglich gemacht wird. Hinzu kommt noch, dass der Vorbehalt laut Senat auch für die sozialen Hilfen gem. SGB XII gilt:

„Für die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ist auch weiterhin nur ein Vorbehalt in Bezug auf die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten formuliert, der dazu führt, dass diese Leistungen nach entsprechender Prüfung gewährt werden können, jedoch kein Anspruch dafür auf der Grundlage des EFA besteht.“

Das heißt für Soziale Einrichtungen, dass bestehende Betreuungsverhältnisse nach SGB XII auf der gleichen Grundlage des Vorbehalts von heute auf morgen durch die Bezirksämter abgebrochen werden können und somit Unionsbürger*innen in schon besonders schwierigen sozialen Lagen mit diesem existenziellen Problem allein gelassen werden. Die Referate und Anwält*innen raten zum Antrag auf Eilverfahren vor Gericht, dass die Leistungen als einstweilige Verfuegung weiter angewiesen werden.

Aber was, wenn dieser Vorbehalt zum Gesetz wird und nicht nur meine Klienten, sondern auch viele andere seit Jahren in Deutschland lebende Unionsbürger*innen, die sich darauf verlassen mussten, dass Sozialleistungen gezahlt werden, ab Mai keine Miete mehr zahlen koennen, nicht mehr krankenversichert sind und sich und ihre Angehoerigen nicht mehr ernähren koennen? Ist das fair? Wird bei solchen Entscheidungen an gesellschaftliche Folgen gedacht, wie höhere Armut, Kriminalität, Obdachlosigkeit? Wird darueber nachgedacht, dass hier lebende Unionsbuerger*innen – wenn das das Ziel dieses Vorbehaltes der Bundesregierung sein soll – nicht von heut auf morgen in das Land, von dem sie zufaellig einen Pass haben, zurückkehren koennen? Meine Klienten haben nicht die finanziellen Mittel zurückzukehren, geschweige denn einen Platz zum Leben oder eine Perspektive. Und diese Entscheidung deutscher Sozialpolitik nimmt ihnen den letzten Rest einer Chance.

____________
Siehe auch Interview mit Dorothee Frings: „Gleichbehandlung ist Pflicht“.

Einige Bemerkungen zur aktuellen Debatte um die Morde des NSU

Gastbeitrag von Johannes Hykel

Die derzeitige Debatte um die Morde der sogenannten Zwickauer Terrorzelle mutet recht typisch für Debatten zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland an. Typisch deswegen, weil sie eine Logik der Trennung in „Wir“ und die „Anderen“ verfolgt. Besonders prägnant kommt dies in der Metapher des „braunen Sumpfes“ zum Ausdruck, der, wie es Sigmar Gabriel in einem Spiegel-Online-Interview vom 15.11.2011 bezeichnet, angesichts der Morde ausgetrocknet werden müsse. Doch der „braune Sumpf“ ist nicht etwa der Verfassungsschutz oder die Kriminalbehörden, sondern es sind damit die extrem rechten AkteurInnen rund um die Zwickauer Terrorzelle gemeint. In dem von allen Bundestagsfraktionen am 22.11.2011 unterzeichneten Entschließungsantrag zu der vereinbarten Debatte. Mordserie der Neonazi-Bande und die Arbeit der Sicherheitsbehörden (pdf) wird zwar eingeräumt, dass „die Strukturen der Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Länderebene dringend überprüft werden müssen“, dennoch ist nicht zu erwarten, dass eine radikale Umstrukturierung bspw. des Verfassungsschutzes oder anderer Behörden daraus folgen wird. Insofern berührt diese Kritik auch nicht die Trennung in „Wir“ und die „Anderen“.

Was ist daran nun eigentlich das Kernproblem? Ist es angesichts der von dem „Trio“ durchgeführten Morde, dem Begehen weiterer zahlreicher Straftaten, den Verstrickungen in hohe Kreise der NPD sowie Kontakten zu extrem rechten HelfershelferInnen nicht richtig, von einem „braunen Sumpf“ zu sprechen und diesen auszutrocknen? Handelt es sich dabei nicht um extrem rechte Menschen, die mit „uns“, d.h. der Gesellschaft im Allgemeinen, letztlich nicht viel zu tun haben? Mit anderen Worten: Sind diese Menschen nicht schlicht gewaltbereite Neonazis, die sich nicht auf dem Boden der demokratisch verfassten Gesellschaft bewegen? – Auf den ersten Blick erscheinen diese Fragen rhetorisch, denn fraglos verfügte das „Trio“ über entsprechende Strukturen, die nun genauestens erkundet und entsprechend bekämpft werden müssen. (Und auch im Allgemeinen kann wohl niemand etwas dagegen haben, dass extrem rechte Strukturen bekämpft werden.) Das ist also nicht das Problem. Aus meiner Sicht liegt das Problem auf einer anderen Ebene: im Diskurs über den sogenannten Rechtsextremismus und entsprechenden gesellschaftlichen Konsequenzen, die daraus derzeit gezogen werden.

Dieser Diskurs über den Rechtsextremismus (re-)produziert nämlich eine Logik des „Wir“ und der „Anderen“ – oder, um es anders zu formulieren: er orientiert sich am Extremismus-Modell. Dieses Modell behauptet bekanntlich eine demokratische „Mitte“ und extreme „Ränder“, die die „Mitte“ bedrohen und die es daher zu bekämpfen gilt. Das Grundproblem dabei ist erstens, dass dieses Modell ein, wie es Andreas Klärner und Michael Kohlstruck hervorheben¹, relationales Modell ist, d.h. „Mitte“ und „Rand“ aufeinander verwiesen sind, so dass das Verhältnis von „Mitte“ und „Rand“ unendlich gedreht werden kann (je nach der eigenen politischen Positionierung). Dadurch wird zweitens die Position der „Mitte“ nicht beleuchtet, denn diese ist ja demokratisch und nicht-extremistisch. Sie bleibt damit ein weißer blinder Fleck. Drittens sind daher sämtliche Handlungen der sogenannten „Mitte“ demokratisch und nicht weiter legitimierungspflichtig im Rahmen dieses Modells. Damit ist die „Mitte“ der Maßstab für sich selbst oder, wie es Sartre in dem Drama Geschlossene Gesellschaft formulierte: „Die Hölle, das sind die anderen“.

Nach genau dieser Logik läuft die derzeitige Debatte: man konzentriert sich fast ausschließlich auf das „Täter-Trio“ und dessen Umfeld, diskutiert hektisch ein NPD-Verbot (so als ob damit das Problem gelöst wäre) sowie eine sogenannte Verbunddatei für auffällig gewordene gewalttätige Neonazis nach dem Vorbild der Anti-Terror-Datei. Zudem sollen entsprechende Strukturen von Verfassungsschutz und Kriminalpolizei überprüft und deren Zusammenarbeit verbessert werden. Die Debatte fokussiert sich damit ausschließlich auf Sicherheitsaspekte. Rechtsextremismus wird damit zu einem reinen Sicherheitsproblem erklärt, das man aber in den Griff kriegen könne, wenn nur die entsprechenden Strukturen dafür verbessert bzw. geschafft würden. Mit solchen Maßnahmen könne der „braune Sumpf“ dann endlich ausgetrocknet und beseitigt werden, so die dahinter liegende Annahme (was natürlich zu bezweifeln ist).

Durch diesen Diskurs bleibt jedoch die scheinbare Normalität der „Mitte“ der Gesellschaft vollkommen ausgeblendet und unthematisiert. Zusammenhänge zwischen „Mitte“ und „extremem Rand“ bleiben verborgen, der „Extremismus der Mitte“ (Hans-Martin Lohmann) wird nicht hinterfragt. Rassismus und Nationalismus – zweifelsohne ideologische Kernelemente der extremen Rechten – erhalten in repräsentativen Umfragen in der Bevölkerung beispielsweise sehr hohe Zustimmungswerte (teilweise weit über 30%²). Zu fragen wäre weiterhin nach spezifischen Formen des Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft. Birgit Rommelspacher fasst Rassismus als ein „gesellschaftliches Verhältnis“³ auf, d.h. als ein Verhältnis, das auf verschiedenen Ebenen – politisch-rechtlich, institutionell sowie individuell – gewaltförmige Ausschlusspraxen und Diskriminierungen gegenüber bestimmten Personengruppen erzeugt. Weil Rassismus (und auch Nationalismus, wie u.a. angesichts der aktuellen Eurokrise deutlich zu sehen) jedoch für die Mehrheit der in Deutschland Lebenden letztlich Privilegien (ab-)sichert – seien dies bspw. nun ArbeitgeberInnen oder auch ArbeitnehmerInnen –, d.h. damit eine spezifische Funktion in der bürgerlichen Gesellschaft beim Kampf um knappe Ressourcen umfasst, bleibt er so unsichtbar und unthematisiert. Die im Kontext der Ermittlungen so bezeichneten „Döner-Morde“ und die Arbeitsgruppe „Bosporus“ der Kriminalpolizei verdeutlichen u.a. auf drastische Art und Weise die Verstrickungen in den Rassismus: eine binäre Trennung in „Wir“ und die „Anderen“: „Wir Deutschen“ und „die vom Bosporus“, „die mit den Dönerläden“ – mit entsprechenden Abwertungen und Konnotationen.

Daraus folgt, dass der Rassismus und Nationalismus der „Mitte“ (und sowohl Antisemitismus als auch autoritäre Politikvorstellungen) in erster Linie zu thematisieren und zu bekämpfen sind. Zu fragen und gesellschaftlich breit zu diskutieren wäre, wie eine Gesellschaft zu gestalten ist, in der es weniger Rassismus – und andere Ismen – gibt, d.h., was wir, die wir alle in diese widersprüchlichen Verhältnisse involviert sind, jeweils tun und verändern könn(t)en oder müss(t)en. Dass dabei ebenfalls gegen AkteurInnen und Strukturen einer extrem rechten Szene vorgegangen werden muss, versteht sich von selbst und ist nur konsequent. Allerdings gilt dabei stets, wie es Stephan Bundschuh so treffend formuliert, folgende Prämisse: Wer vom Rassismus nicht sprechen will, sollte vom Rechtsextremismus schweigen (pdf).

______________
¹ Klärner, A., Kohlstruck, M. (Hrsg.) (2006). Moderner Rechtsextremismus in Deutschland. Leck: Claussen und Busse. S.13.
² Decker, O., Weißmann, M., Kiess, J., Brähler, E. (2010). Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010 (pdf). Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. S. 76f.
³ Rommelspacher, B. (2009). Was ist eigentlich Rassismus? In: C. Melter & P. Mecheril (Hg.), Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung (25-38). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Gefahrentag

Ein Beitrag von Vincent G. aus Silberland


Abgabetermin für das Fach Bildhauerei. Nachdem ich die Grundstrukturen von der Tischlerei in Empfang genommen habe – feststellen müssend, dass meine Vorgaben nicht befolgt wurden – beschäftigte ich mich damit, die restlichen Utensilien zusammenzukaufen und meine Arbeit heute fertig zu stellen.

Das Geld fließt aus meinen Taschen raus, um sich später in eine Kunst umzuwandeln, Kleber, Farben, Druckkosten, Knallfolie, Bohrer und andere Dinge werden im Tausch gegen 100er Scheine erworben. Auf dem Hunderter prangt das Gesicht eines Massenmörders, der durch die „Wüstenkampagne“, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Indianer, Berühmtheit erlangte. Den Feldzug finanzierte er durch den Vorverkauf der später von den Ureinwohnern enteigneten Landstücke.

In einem Arbeitsdelirium brachte ich es fertig die Hälfte dessen, was ich mir vorgenommen hatte, zu beenden. Das Zimmer halbzertrümmert hinerlassend fuhr ich mit dem Taxi, um die kleine Vorstellung der Arbeiten zu improvisieren. Ich erhielt die Bestnote, aber die schmeckte nur halb, da ich durch Verspätungen während der Prüfung eine Diskussionseinladung nicht wahrnehmen konnte. Ich wurde eigentlich per Programmheft angekündigt. Nach Hause mit dem ganzen Prüfungskram um später dann noch zur Diskussion zu gelangen.

„Als ich nach Hause kam, stand die Haustür sperrangelweit offen!“ sagte mir mein Mitbewohner. (Ich wohne in Constitución, einem, Schilderungen nach, gefährlichen Viertel. Ich hatte das Haus vor etwa drei Stunden verlassen, das heißt, sollte ich der Übeltäter gewesen sein, stand die Tür drei Stunden offen. Kameras und Computer waren aber noch im Haus). Also zur Diskussionsrunde mit Publikum.

Ich setze mich, grüße nett, und versuche in die vorgetragenen Themenfelder einzudringen. Nach ca. 10 min. steht die vor mir sitzende Frau auf. Sie sucht ihre Sachen zusammen und greift unter ihren Sitz, doch da ist nichts. Sie fragt, ob ich ihr Köfferchen gesehen habe, woraufhin ich verneine. Dort ist kein Köfferchen. Sie verlässt halbpanisch den Raum, aber das Köfferchen scheint nicht aufzutauchen. Sie verschwindet. Andere Menschen betreten den Raum und wieder andere verlassen ihn. Der jetzt vor mir sitzende Mann guckt sich nervös um. Schon wieder. Er beugt sich immer wieder nach vorne und guckt auf sein Handy oder kramt in seinem Rucksack. Er ist gut gekleidet. Ah, o.k.! Vor ihm sitzt der Dekan meiner Uni. Die Füße des vor mir Sitzenden strecken sich immer wieder in Richtung Dekan. Wie nervös er ist, für eine doch eher behäbige Veranstaltung! Nach vorne beugen, umgucken und die Hände langsam in Richtung Rucksack des Dekans strecken. Aha, er will also den Rucksack entwenden. Mit den Füßen holt er ihn immer näher an sich heran. Er sieht sich um, ich drehe mich kurz weg. Meine Konzentration ist hin bzw. widmet sich diesem zu auffälligen Verhalten des vor mir Sitzenden. Der Rucksack des Dekans rückt immer näher an ihn heran. Fast, nein der Dekan ergreift den Rucksack und entnimmt eine größere digitale Spiegelreflexkamera, um ein Foto von der Bühne zu schießen. Der vor mir Sitzende simuliert, dass er ein Anruf erhält und verlässt den Saal. Nach 5 min. kehrt er zurück. Wird er es nun schaffen die Kamera zu entwenden? Er ist viel zu auffällig. Mein Dekan ist ein Vogel. Während der Diskussion wurde das Publikum aufgefordert, kleine Zettel mit Diskussionsanregungen in eine Kiste zu werfe. Der erste Zettel wird vorgelesen und es wird nach dem Verfasser ausgerufen: Es ist der Dekan! Dieser lässt es sich natürlich nicht nehmen, gleich mal eine Rede aus der Publikumsreihe zu schwingen um unterschwellig festzustellen, warum er denn nicht auf der Tribüne sitze. Währenddessen ist der Dieb weiterhin damit beschäftigt den Rucksack in Reichweite zu rücken, was zu einem bizarren Schauspiel führt. Während der eine redet und ihm der gesamte Saal die Aufmerksamkeit widmet ist der hinter ihm Sitzende damit beschäftigt, eine möglichst unauffällige Operation durchzuführen. Ich komme nicht um die Fragen herum: Ist der Dieb arm und benötigt den kleinen Diebstahl um seinen Lebensunterhalt zu sichern? Stehe ich auf und sage Bescheid? Was für eine bizarre Szenerie. Alle die neben mir sitzen, nehmen nichts dergleichen wahr. Bilde ich mir alles nur ein?

Eine Freundin setzt sich neben den vermeintlichen Dieb. Ich nähere mich ihr von hinten an und berichte von meinen Beobachtungen. Wir müssen lachen. Die Veranstaltung ist beendet und der zu auffällige Dieb schafft es nicht, die schöne Digitalkamera zu entwenden. Er hat es auch nicht verdient, denn er war viel zu auffällig. Zumindest applaudierte er immer an den Momenten, an denen das Publikum applaudieren sollte.

Andere Sachen sind auch verschwunden.