Von wegen Selbstkritik: UNO-Menschenrechtsrat stellt Fragen an Deutschland

Deutschland muss sich von anderen UNO-Mitgliedsstaaten am heutigen Donnerstag im Menschenrechtsrat kritische Fragen stellen lassen. Alle UNO-Mitgliedsstaaten werden wohl regelmäßig auf diese Weise befragt, um gravierende Menschenrechtsverstöße aufzudecken und Empfehlungen für deren Beseitigung zu geben. Neben Übergriffen durch die Polizei und die Situation der Frauen in Deutschland sind Rassismus und die terroristischen Morde des NSU Themen der Fragen. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP) sagte laut taz zu den bevorstehenden Fragen:

„Wir stellen uns diesem Verfahren mit großer Ernsthaftigkeit, damit es auch andere Regierungen tun, und stellen damit unsere Fähigkeit zur Selbstkritik unter Beweis“ (taz.de: Bundesregierung im Kreuzverhör)

Diese Ansage vom deutschen Menschenrechtsbeauftragten ist ziemlich überheblich. Was hat Deutschlands Selbstbild als Musterschüler mit der Befragung durch das UN-Gremium zu tun? Es gibt mit den oben genannten Themen ja offenbar ausreichend Stoff für eine Befragung. Im besten Fall können deutsche Behörden durch die Befragung etwas über die Menschenrechtssituation in Deutschland lernen. Stattdessen wird schon im Vorfeld auf „andere Regierungen“ verwiesen.

Außerdem ist der Begriff Selbstkritik, wenn er auch ins Selbstbild passt, logisch falsch. Es kann berechtigte Kritik von anderen UNO-Mitgliedsstaaten erwartet werden, aber das hat nichts mit Selbstkritik zu tun. Schon gar nicht angesichts einer solchen regelmäßig stattfindenden Befragung aller UNO-Mitgliedsstaaten. Die Themen der Befragung — sowie die Rüge der Antirassismuskommission der UNO vor ein paar Tagen (CERD-report, english, pdf) — sind eher ein Hinweis darauf, dass der angebrachte Zeitpunkt für Selbstkritik von deutschen Behörden längst überschritten wurde.

riseup-Blocking: Fragen an das Rechenzentrum der Uni Jena

Gestern schrieb ich darüber, dass Thüringer Rechenzentren E-Mails von riseup.net blocken und damit die E-Mailfunktion von Adressen u.a. der Hosts uni-jena.de und uni-erfurt.de eingeschränkt ist. Heute habe ich dem Leiter des Rechenzentrums der Uni Jena dazu eine E-Mail geschickt:

Sehr geehrter Herr [*Leiter des URZ*],

in Ihrer Funktion als Leiter des Universitätsrechenzentrums (URZ) der Universität Jena (FSU) wende ich mich an Sie mit einem dringenden Anliegen, das ich in einem E-Mail-Dialog mit dem Mitarbeiter des URZ der FSU, [*URZ-Mitarbeiter*], nicht klären konnte. Das Problem: Meine E-Mail-Adresse hendrik [punkt] kraft [at] uni-jena.de kann neuerdings keine Mails mehr von E-Mail-Adressen mit dem Host riseup.net empfangen und informiert mich auch nicht über missglückte Anschreibversuche. Da ich neben meiner uni-jena.de-Adresse auch eine riseup.net-Mailadresse nutze, ist das zweite Problem: Ich kann mit meiner riseup-E-Mail-Adresse keine Personen mit uni-jena-Adressen mehr anschreiben und erhalte stattdessen eine „undelivered“-Meldung mit dem Inhalt „user unknown“, wobei die von mir angeschriebene Person von ihrem uni-jena.de-Mailaccount nicht über meinen Kontaktversuch informiert wird. Herr [*URZ-Mitarbeiter*] konnte meine Verwunderung über diese neue Einschränkung der E-Mail-Funktion nicht entkräften, mutmaßte mir gegenüber, dass es sich dabei um eine Form der Spam-Bekämpfung handele und verwies mich auf eine Website der Firma CISCO, wo ich mich über aktuelle Server-Reputations informieren solle. Angesichts eines derartigen Eingriffs in meinen Mailverkehr verwunderte mich diese unbefriedigende Antwort. Ich gehe davon aus, dass das URZ die administrative Hoheit über die URZ-Infrastruktur besitzt. Herr [*Leiter des URZ*], was können Sie dafür tun, dass ich mit meiner uni-jena.de-Adresse wieder uneingeschränkt Mails von riseup-Hosts empfangen kann und dass ich mit meiner riseup-Adresse wieder Mails mit dem Host uni-jena.de anschreiben kann? Warum erfolgt eine komplette Blockade des riseup-Hosts und wird nicht, wie bisher üblich, Mailverkehr von verdächtigten Servern in einem separaten Spam-Ordner gesammelt, damit Betroffene sehen, wenn als Spam eingestuft wird, was kein Spam ist? Können Sie sagen, welche Hosts aktuell neben riseup von dem Blocking betroffen sind? Und abschließend: Wann hätten Sie vorgehabt, mich und andere Betroffene über diesen Eingriff zu informieren oder das System dahingehend anzupassen, dass wenigstens eine elektronische Information für Studierende erscheint, wenn an sie gesendete E-Mails nicht durchgelassen werden?

Mit freundlichen Grüßen
Hendrik Kraft.

[Bitte beachten Sie, dass ich mir vorbehalte, meine E-Mail und Ihre Antwort zu Informations- und Dokumentationszwecken zu veröffentlichen]

Thüringer Rechenzentren blocken Mails von riseup.net

update: Mindestens ein riseup-Server als Absender betroffen, der neben uni-jena.de auch uni-erfurt.de-Adressen nicht anschreiben darf — mehr update unten

Ok, von vorne. Gestern sagte mir eine befreundete Person, meine uni-jena.de-Mailadresse würde eine „undelivered…“-Fehlermeldung antworten. Ich dachte mist, haben die jetzt meine uni-jena.de-Mailadresse abgeschaltet? Ich führte selbst den Test durch und schrieb mir von meiner riseup-Mailadresse eine Mail an die uni-jena-Adresse und tatsächlich, es kam dieselbe automatisuerte Info:

host ***.uni-jena.de[****] said: 550, User unknown (in reply to RCPT TO command).

Ich schrieb dem „Postmaster“ von der uni-jena-Adresse (die noch senden konnte) und erhielt noch am selben Abend eine Testmail von ihm an die uni-jena-Adresse. Super, läuft wieder, und ich bedankte mich erfreut. Am heutigen Morgen dann hatte ich eine neue Mail vom Postmaster im Posteingang:

„Vermutlich ist der absendende Host hoch spamverdächtig, diese Maschinen werden dann irregeleitet damit sie mit dem Spamversenden aufhören. Nachprüfen kann ich es nicht, hierzu wären mehr Angaben über die absendende Maschine (IP-Nummer, Datum. Uhrzeit) erforderlich, aber die haben Sie nicht mitgeschickt.“

Oha, Problem doch noch nicht gelöst? Sofort machte ich erneut den Test mit meiner riseup-Adresse und, genau, es ging immernoch nicht. So schickte ich dem Postmaster die ganze fehlermeldende Antwort, in der auch der Host riseup genannt wurde. Das wird ja wohl einfach sein, den SPAM-Filter entsprechend anzupassen, damit ich wieder Mails von riseup erhalten kann. Denkste. Auf meine übersendete Information erhielt ich diese Antwort:

„Ich habe Ihnen gestern eine Nachricht aus freenet.de geschickt, und die ist ja wohl angekommen. Ansonsten ist es tatsächlich so, da der absendende host von riseup eine sehr schlechte Reputation hat und deswegen von dieser Maschine nichts angenommen wird. Siehe auch Anhang. Für „betriebsinterne“ Kommunikation wie an unserer Uni ist dieser Provider somit nur sehr eingeschränkt tauglich. Und ebenso für allgemeine Kommunikation, da deren Server wohl auch gelegentlich vom FBI konfisziert werden (siehe auch https://www.taz.de/!91855/ )“

OK, riseup nur eingeschränkt tauglich, freenet dagegen ein vertrauenswürdiger Mail-Host. Und wer entscheidet das? Warum erfahre ich das als Betroffener zufällig? Ich fragte den Postmaster, 1. nach welchen Kriterien das Rechenzentrum der Uni Jena die Reputation eines Hosts bewertet und ob dafür die Ermittlungsmethoden in den USA ausschlaggebend seien, 2. welche Hosts neben riseup betroffen sind, 3. seit wann der Filter installiert ist, 4. wann die Betroffenen über den eingeschränkten Mailverkehr informiert werden. Als Antwort kam:

„Diese Anti-Spam Software wird an seit etwa 8 Jahren an allen Thüringer Hochschulen eingesetzt. Wir informieren niemanden da wir ja nicht wissen wann und von wo welche Nachrichten eintreffen oder auch nicht., im Zweifelsfalle können Sie auf der Webseite https://www.senderbase.org/ sich selbst über die Zuverlässigkeit der sendenden Maschine informieren. Wir bewerten dabei selbst gar nichts. Der Link sollte Ihnen nur zeigen, daß dieser Provider nicht zu den allerzuverlässigsten gezählt wird. Und immerhin hat der Absender ja erfahren, daß seine Nachricht das Ziel nicht erreicht hat und er konnte entsprechend reagieren.“

Zusammengefasst: Ab sofort werden für Mailadressen der Universität Jena alle Mails von mindestens einem Mailanbieter (riseup) blockiert und die Betroffenen werden darüber nicht informiert. Mir ist das per Zufall aufgefallen. Das RZ der Uni Jena sagt, es könne diese Blockierung eingehender Mails von riseup nicht beeinflussen. Das RZ der Uni Jena weiß nicht, für welche Hosts die Blockade noch zutrifft. Für weitere Informationen werde ich auf eine Website des US-amerikanischen Privatunternehmens CISCO verwiesen.

update 16.04.13 15:20:

Zu dem Hinweis auf die Cisco-Seite in den Kommentaren: Die roten Zeilen scheinen die geblockten Hostnamen zu zeigen ( https://www.senderbase.org/senderbase_queries/detaildomain?search_string=riseup.net ), die besagten Mails kamen vom Server mx1.riseup.net. D.h. Schreibende, die von riseup über andere Server geleitet werden, können wahrscheinlich noch an uni-jena-Adressen schreiben. Offen bleiben für mich die Fragen: Betrifft das potentiell alle Server, auch z.B. von yahoo oder googlemail? Bisher hatte ich auch auf meiner uni-jena-Adresse die Möglichkeit, Spam in einem Spam-Ordner selbst nachzuprüfen — ist das jetzt gängige Praxis, dass die vorgeschaltete Filtersoftware Mails nach Hostnamen komplett blockt, ohne dass ich Einfluss darauf habe? Wenn übernacht die „Reputation“ von E-Mail-Hosts sinken kann, welche sind morgen dran? Und vor allem: Findet das Rechenzentrum der Uni Jena, das ja die Hoheit über den eigenen Serververkehr haben müsste, diesen Eingriff in meinen Mailverkehr wirklich zumutbar?

Eben per Test herausbekommen, dass @uni-erfurt.de-Adressen auch meine riseup-Mails blocken. Ebenfalls mit oben zitierter „User unknown“-Meldung, die Spam bekämpfen soll aber meinen Mailverkehr bekämpft.

Siehe auch: riseup-Blocking: Fragen an das Rechenzentrum der Uni Jena und
uni-jena.de lässt wieder riseup.net-Mails durch

Von nützlichen und unnützen Menschen

Panorama berichtete am 7.3.13 von der Ausbeutung rumänischer und bulgarischer Menschen in der deutschen Arbeitswelt. Nach einem kurzen Einspieler mit aktuellen polemischen Zitaten des deutschen CSU-Innenministers Hans-Peter Friedrich spricht Anja Rechke einleitend zum Beitrag von den „übelsten Bedingungen“, unter denen Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Deutschland arbeiten:

„Andersrum wird nämlich ein Schuh draus. Nicht die Zuwanderer beuten uns aus, sondern wir beuten die Zuwanderer aus“ (ARD/ PANORAMA).

Der Panorama-Beitrag richtet seinen Fokus auf die Ausbeutungsverhältnisse in deutschen Betrieben. Entgegen der von Friedrich verbreiteten Mär von sozialleistungsbeziehenden Menschen aus Rumänien und Bulgarien sagt der Beitrag: „Die arbeiten doch hier. Und zwar hart“. Darin schwingt eine gefährliche Logik mit.

Es ist ja ein gutes und notwendig scheinendes Anliegen, der von Friedrich verbreiteten diffusen Stimmung mal Fakten entgegenzusetzen. Problematisch wirds bloß, wenn dabei die von Friedrich reproduzierten Kategorien zur Einteilung einwandernder Menschen übernommen und so als Prämisse zur Diskussion über Einwanderung akzeptiert werden. Wesentlicher Kern dieser Rhetorik ist die Herabwürdigung einwandernder Menschen zu Kostenfaktoren. (D’accord, die betrifft in anderen Fällen nicht nur einwandernde Menschen, aber es geht konkret um Friedrichs Rhetorik hier.) Dieser Einteilung von Einwanderung in Kategorien wie nützlich und unnütz sitzen Medien auf, wenn sie die Anzahl entlohnter unter den einwandernden Menschen als Kriterium übernehmen, nur um das Gegenteil von Friedrichs Aussage zu beweisen. Das ist ein Problem. Wenn alle nur noch in Kategorien nützlicher versus unnützer (sozialstaatsbelastender, Armuts-) Einwanderung argumentieren, sitzen wir in der Falle. Ich mein es gibt sicher Leute, die das so wollen, aber wenn das eine Mehrheit wird, sind fundamentale Grundrechte völlig über’n Haufen. Und darum kritisierte TheGurkenkaiser zurecht, dass die sich selbst als links (zumindest anti-rechts) verortende Seite Publikative.org in einem Artikel genau diese nationalökonomische Einteilung zur Bewertung von Einwanderung übernimmt. So ist bei Publikative.org ein Satz möglich wie dieser:

„Die Freizügigkeit innerhalb der EU kann neben vielen Vorteilen eben auch dazu führen, dass arme Menschen nach Deutschland kommen, die das deutsche Sozialsystem belasten.“ (Publikative.org)

Was sind EU-Rechte wie die „Freizügigkeit“ (die bereits Menschen aus Nicht-EU-Ländern diskriminieren) noch wert, wenn sie sogar innerhalb der EU für Menschen aus Rumänien und Bulgarien infrage stehen? Für „arme Menschen“? Das muss es wohl sein, wofür ein Begriff wie „Zeitgeist“ erfunden wurde, der sich zu dem Thema sonst eher bei Spiegel Online herumtreibt.

Der o.g. Panorama-Beitrag stellt die Rechte der einwandernden EU-Bürger*innen bei weitem nicht so drastisch infrage, wie SpOn oder das Publikative-Zitat. Trotzdem hätte ich mir jetzt allmählich auch die Thematisierung der Rechtsaußen-Rhetorik selbst gewünscht, die ja vor dem Panorama-Beitrag extra plakativ eingespielt wurde. Es bleibt in Friedrichs Logik, wenn wieder nur die Betroffenen ins Spiel gebracht werden, um das Gegenteil seiner Aussage zu beweisen. Stattdessen gehören wirkmächtige Akteure wie der deutsche Innenminister und ihre entmenschlichende Rhetorik selbst in den Fokus. Akteure, die sonst von angeblich europäischen Werten der Gleichbehandlung erzählen. Das wäre aber vielleicht etwas unangenehm, weil es an das in Deutschland verbreitete Selbstbild von einer Gesellschaft ginge, die solche Werte lebe (nicht nur aufschreibt!). Eigene Nase.

Rezension: „Reihe Tsiganologie Band 2“, Leipzig

[Trigger-Warnung: Hinweise auf die rassistischen Fremdbezeichnung von Rom_nija]

Vorweg: In diesem Gastbeitrag rezensiert Joachim Krauß eine aktuelle Publikation des Leipziger „Forum Tsiganologische Forschung“. Das inflationär in der zitierten Publikation gebrauchte [***]-Wort Wort zur rassistischen Fremdbezeichnung von Roma habe ich zur Vermeidung von Verletzungen unkenntlich gemacht..

tl;dr Die Leipziger „Tsiganolgie“ bringt in diesem neuen Band wenig Erhellendes, schaut nicht über die eigene Forschungsbereichsgrenze und weicht der notwendigen Auseinandersetzung mit der eigenen Forschungstradition konsequent aus.

Gastbeitrag von Joachim Krauß (TU Berlin)

Fabian und Theresa Jacobs (Hg.), Vielheiten. Leipziger Studien zu Roma/[***]ner-Kulturen. Reihe Tsiganologie Band 2, Leipzig: Universitätsverlag 2011, 346 Seiten.

Mit der vorliegenden, zwölf Beiträge umfassenden Publikation erscheint der zweite Band aus der Reihe Tsiganologie des Leipziger Instituts für Ethnologie. Während der erste im Jahr 2008 erschienene Sammelband auch Beiträge externer Autor*innen enthielt, sind in diesem ausschließlich in Leipzig entstandene Texte vertreten, die zum Großteil Studienabschlussarbeiten zur Grundlage haben. Insofern kann die Publikation als Leistungsschau der Leipziger „Tsiganologie“ gelten. Sie bietet die Gelegenheit, nach Entwicklungen, Kontinuitäten, Konzepten und Begrifflichkeiten zu fragen.

Die ethnologische Forschung zu Sinti und Roma und den ihnen zugerechneten Gruppen stellt noch immer ein hochproblematisches Forschungsfeld dar. Darin kommt dem im Jahr 2010 emeritierten Leiter des Leipziger Instituts für Ethnologie Bernhard Streck seit über dreißig Jahren sowohl eine wichtige als auch kontroverse Rolle zu. Seinem Wirken ist die Etablierung der „Tsiganologie“ als Studieninhalt und Forschungsfeld in Leipzig zu verdanken. Folgerichtig fungiert er auch als einer der Herausgeber der Reihe. Ihm ist das rezensierte Buch gewidmet. Streck war einer der Protagonist*innen des „Gießener Projektes für Tsiganologie“ in den 1970er/80er Jahren und hatte sich frühzeitig gegen die Bürgerrechtsbewegung der Sinti in Deutschland gewandt. Über zehn Jahre lehrte er „Tsiganologie“ als ethnologisches Spezialthema in Leipzig.

Hier nun präsentieren einige seiner Schüler*innen die Früchte ihrer und damit seiner Arbeit. Der zeitliche Untersuchungsrahmen liegt in der Gegenwart, räumlich erstrecken sich die Texte vom indischen Subkontinent über Europa bis nach Südamerika. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind überaus heterogen. Sie umfassen Versuche der Medienanalyse, des Sprachvergleichs und der Humangeographie. Daneben stehen musikethnologische und ethnografische Darstellungen, die von ideologie- und wissenschaftskritischen Texten begleitet werden. Diese Spannbreite stellt an die Herausgeber*innen hohe Anforderungen, soll der Band nicht als ungeordnetes Sammelsurium erscheinen. Fabian und Theresa Jacobs kommen dieser Aufgabe nicht nach. Die Texte sind weder räumlich noch thematisch gegliedert. Ihre Reihenfolge ist willkürlich und erfährt keine Erläuterung. In ihrem Geleitwort unterlassen es Herausgeberin und Herausgeber zudem, den Buchtitel und den Forschungsstand zu erläutern. Der Titel „Vielheiten“ scheint den Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari entlehnt zu sein. Darauf deutet u.a., dass die beiden Herausgeber*innen die Leipziger Forschung zu einem Netzwerkknoten gereift sehen (S.7) und eine Vielzahl der Texte auf Postmoderne und Poststrukturalismus Bezug nimmt. Überdies sind es so kritische Leipziger Wortschöpfungen wie „[***]nerrhizom“, die ein geringes Problembewusstsein gegenüber biologistischen Formulierungen zeigen. Gerade letzteres verweist auf die dringende Notwendigkeit, sich mit der eigenen Forschungsgeschichte auseinanderzusetzen. Öffentlich wahrnehmbar ist dies seitens der Leipziger „Tsiganologen“ bisher nicht erfolgt.

Diese Unterlassung findet in dem Band ihre Fortsetzung, wie der Beitrag von Maria Melms und Michael Hönicke verdeutlicht: Antiziganismus und Tsiganologie. Versuch einer Standortbestimmung. (S.175-198) Die Autor*innen bemühen sich um eine Verortung der „Tsiganologie“, weshalb der Beitrag an dieser Stelle ausführlicher gewürdigt werden soll, bevor auf die Beiträge zu osteuropäischen Themen einzugehen ist. Als „Tsiganolog*innen“ scheint den Autor*innen eine Infragestellung des eigenen Forschungsschwerpunktes und der gewählten Konzepte und Begrifflichkeiten fremd zu sein. Umfassende Zweifel halten sie hingegen gegenüber der „Antiziganismusforschung“ für begründet. Ihr Anliegen ist legitim: Letztlich möchten sie die Perspektivenvielfalt und höhere Erklärungskraft der „Tsiganologie“ verdeutlichen. Problematisch ist jedoch ihre Vorgehensweise, die guter wissenschaftlicher Praxis zu wider läuft. Sie führen Autoren gegen den Begriff des „Antiziganismus“ ins Feld, berücksichtigen aber deren grundlegenden Einwände gegen die „Tsiganologie“ nicht ansatzweise. Es war der Historiker Michael Zimmermann, der wiederholt eine gut begründete Kritik an der inflationären und unzureichend reflektierten Verwendung des Antiziganismusbegriffs formulierte. Melms und Hönicke zitieren ihn umfassend. Dabei ignorieren sie Zimmermanns Analyse tsiganologischer Forschung vollständig. Bereits 1996 hatte er diagnostiziert, dass die mangelnde Beachtung historischer Entwicklungen aus der Vorstellung resultiert, Kultur und Lebensweise der Sinti und Roma wären besonders resistente, strukturbildende, dauerhafte und raumübergreifende Merkmale, die sich autonom gegenüber den Mehrheitsgesellschaften verhielten.¹

So wie Zimmermann äußerte auch der von den Autor*innen zitierte Berthold Bartel eine weitgehende Kritik an tsiganologischer Textproduktion und Konzeption. Wie schon Zimmermann machte auch er die hochproblematischen Äußerungen Strecks zur Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus nochmals deutlich.² Vor diesem Hintergrund ist es kein Lapsus, wenn Melms und Hönicke diese Autoren für ihre Argumentation nutzen, aber die Auseinandersetzung mit der eigenen Forschungsgeschichte unterlassen. Sie reklamieren für sich, mit der „relationistischen Tsiganologie“ oder dem „tsiganologischen Relationismus“ neue Wege zu gehen: „[***]ner ist für uns ein relationaler Begriff, der vor allem Gruppen bezeichnet, die in einem besonderen Verhältnis […] zur Mehrheitsgesellschaft stehen.“ Dabei seien sie in der Lage, die Minderheit „doppelrelational, als Affirmation und Negation der Mehrheitskultur, z.B. in Form von wirtschaftlicher Symbiose und kultureller Dissidenz“ zu verstehen (S.192). Um diese Begriffe – mit besonderem Fokus auf angeblicher „kultureller Dissidenz“ – kreisen alle Publikationen der Leipziger „Tsiganologie“. Die „Gießener Tsiganologie“ operierte in den 1980er Jahren mit dem Begriff „Eigensinn“, um „kulturelle Fremdheit“ zu markieren. Diesbezüglich formulierte Zimmermann: „[…] sie [die „Tsiganologie“] unterschätzte das soziale Elend unter den Betroffenen, ebenso wie die Anziehungskraft die die Mehrheitsgesellschaft auf sie ausübte.“³ Wie gering die Weiterentwicklung ist, lässt sich an den Beiträgen zu Osteuropa verdeutlichen.

Zuvor ist noch auf weitere Beispiele für einen fragwürdigen Umgang mit Texten anderer Autoren zu verweisen. Um eigene Aussagen argumentativ abzustützen formulieren Melms und Hönicke unter Rückgriff auf einen Text von Mark Münzel: „Das Problem einer rein ideologiekritischen Dekonstruktion (…) (des Terminus [***]ner) ist, dass sie ihrerseits ideologisch ist, indem sie grundsätzlich von der Nichtexistenz (…) (von [***]nern) ausgeht, die nicht zum (…) (eigenen Weltbild passen)“ (S.183). Münzels Vorlage bezog sich auf einen vollkommen anderen Zusammenhang, sie steht im Kontext der Frage von Kannibalismus in der Brasilienbeschreibung Hans Stadens im 16. Jahrhundert. Im Original heißt es: „Das Problem einer rein ideologiekritischen Dekonstruktion von Staden ist, dass sie ihrerseits ideologisch ist, indem sie grundsätzlich von der Nichtexistenz der Anthropophagie ausgeht, die nicht zum westlichen Weltbild passt.“⁴ Diese Vorgehensweise ist wissenschaftlich unlauter.

Fünf Beiträge stehen im engen oder weiteren osteuropäischen Kontext. So der erste Text im Band von Julia Glei, Weibliche Lebenswelten – Rituale vor dem Spiegel und im Haushalt in Shutka/Mazedonien (S.11-33). Bei diesem Beitrag handelt es sich vorrangig um ein Nachdenken über das Schreiben in der Ethnologie und einen Schreibversuch anhand eines Aufenthaltes bei einer Romafamilie in Šuto Orizari, einem Ortsteil der mazedonischen Hauptstadt Skopje, der als größte Romasiedlung Europas gilt. Glei entscheidet sich für die Ethnopoesie. Die Umsetzung erinnert an die Darstellung von Roma in Reise-, Landes- und Völkerbeschreibungen des 19. Jahrhunderts, die verheerende Langzeitwirkungen hatten. Es ist das hervorstechende Merkmal des ethnographischen Schreibens über Roma, dass Unwissen durch besonders bildreiche und drastische Sprache und spekulative Ausführungen kaschiert wurde. Gleis Beitrag stellt sich inhaltlich und formal in diese Tradition, da es die Autorin versäumt, Informationen über den Ort, das soziale und ökonomische Umfeld sowie die sehr unterschiedliche Geschichte der an den betreffenden Orten lebenden Roma einzubetten. Die Literatur zur Lage und Rolle der Frauen im ost- und südosteuropäischen Raum wird von Glei nicht reflektiert. Sie stellt ihre Beobachtungen ausschließlich in den Kontext von Untersuchungsergebnissen zu „[***]ner“gruppen anderer Regionen. Den Vergleich zur umgebenen Mehrheitsbevölkerung zieht sie nicht. Damit manifestiert sich einmal mehr einer der Grundmängel der „Tsiganologie“.

Inhaltlich schließt sich der siebte Beitrag an: Andrea Steinke, Die Mitte ist überall – Überlegungen zu „Shutka Book of Records“, dem Fremden und der Exzentrizität (S.147-174). Grundlage des Textes ist der Film des Regisseurs Aleksandar Manic „Shutka – Stadt der Roma, aus dem Jahr 2005, worin er das Leben von 15 Bewohnern der Siedlung künstlerisch dokumentiert. Die Autorin macht deutlich, dass es sich bei dem Film um eine Kunstproduktion handelt, weshalb eine Abbildung der Realität nicht erwartet werden könne. Daher laufe die von Romavertreter*innen geäußerte Kritik, es handele sich um eine Fehldarstellung und Überzeichnung der Roma, fehl. Dieser Hinweis ist sicher richtig. Fraglich ist vor diesem Hintergrund, wie Steinke der Film dazu dienen kann, Überlegungen zur realen Kultur von Roma anzustellen: „Die Kulturen der Roma/[***]ner sind jene, die sich bei genauer Betrachtung am hartnäckigsten einer Festschreibung entziehen, weil sie sich verschiedenster ‚fremder‘ Kulturelemente bedienen und ‚Zonen der Ununterscheidbarkeit‘ schaffen.“ (S.165). Ihre Ausführungen sind ohne eigenen empirischen Gehalt. Sie referiert Literatur aus anderen zeitlichen und räumlichen Untersuchungszusammenhängen und sieht ihre Idee anhand des Filmes in Shutka bestätigt: eine Stadt der Roma als Hort des Widerstands und der Exzentrik.

Zu Beitrag 5: Tobias Marx, Die Offene Roma-Gesellschaft? – Zur Kritik der Integrationsideologie des OSI und der Decade of Roma Inclusion 2005-2015 (S.95-124). Der Autor versteht seinen Text als ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Offenen Gesellschaft im Kontext der Integrationsversuche in den Ländern Ost- und Südosteuropa. Seinen Schwerpunkt legt er hierbei auf die Ideologiekritik. Über die Integrationsversuche und deren politische, ökonomische sowie soziale Rahmenbedingungen erfährt die Leserin und der Leser nur wenig. Eine Kritik an den Aktivitäten George Soros‘ und seiner Stiftung ist legitim. Auch lässt sich die Frage nach der Bedrohung kultureller Identität durch eindimensionale Integrationsstrategien diskutieren. Wenn dies allerdings geschieht, ohne sich mit den Voraussetzungen und vielschichtigen Diskriminierungsformen in den osteuropäischen Gesellschaften auseinanderzusetzen, gerät die Kritik fehl. Auch in diesem Beitrag scheinen unverkennbar Parallelen zur „Gießener Tsiganologie“ auf, deren Vertreter*innen so vehement gegen jegliche Integrationsmaßnahmen argumentierten.

Die zwei weiteren Beiträge mit Osteuropabezug sind: Esther Nieft, Überall schön, doch zu Hause am besten? – Einschätzungen der Wohnstandortentscheidungen, materiellen Wohnsituation und internen Segmentierung der Bewohner_innen einer ostslowakischen osada (S.257-289) und Nina Stoffers, „Gypsymania!“ Oder: Warum der Hype in der Clubmusik doch nicht so neu ist – Eine Untersuchungen zu Phänomenen der Akzeptanz in der Sozial- und Kulturgeschichte von Roma-/[***]nermusikern (S.199-232).

Zu nennen ist weiterhin der Beitrag von Anne Losemann, „Beobachten, wie wir beobachten“ – Pressediskurse über [***]ner in Mitteldeutschland (S.125-146). Die Analyse der Printmedien hat in den Jahren seit 1990 dank des einfachen und sicheren Quellenzugangs eine relativ umfassende Literatur hervorgebracht. Diese zeigt die große Persistenz in der Tradierung von Sinti- und Romabildern in der deutschen Presse, die oft genug unbestreitbar rassistische Züge trägt, auf. In Losemanns Text werden die Literatur und ihre Ergebnisse allerdings kaum rezipiert. Die Presse in den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt scheint, glaubt man ihren Ergebnissen, von der bisher analysierten Presse abzuweichen. Skepsis befällt den Rezipienten jedoch, wenn die Autorin einerseits den Journalisten große Distanz zu den Beschriebenen diagnostiziert und andererseits meint, „[…], dass regionale Presseerzeugnisse gerade für das Studium nichtsesshafter Gruppen ertragreich sein können, da Dokumente dieser Art als ‚Glücksfälle‘ für das ethnografische Erkenntnisinteresse gelten dürften.“ (S.139) Der Text macht darüber hinaus die im gesamten Band erkennbare Problematik der „[***]ner“-Definition deutlich. Ob Wertfreiheit in der Verwendung des Begriffs deshalb gegeben ist, weil die Autor*innen es für sich reklamieren, ist angesichts der sehr komplexen Begriffsgeschichte mehr als fraglich. Sie halten den Begriff für genauer als die Bezeichnungen „Sinti“ oder „Roma“, da er nicht ausschließend und damit umfassender sei, gerade wenn Unsicherheit darüber bestehe, um was für eine Gruppe es sich im konkreten Fall handelt. In der Umsetzung führen sie diese Annahme ad absurdum: Losemann, wenn ein Pressetext von Sinti in der DDR spricht und sie daraus „[***]ner“ in der DDR macht. Nief, deren Untersuchungsgruppe offensichtlich Romanes sprechend ist, die Autorin aber nicht daran hindert, die Begriffe „[***]ner“ und „Roma“ gleich zu setzten. Das gleiche Problem stellt sich in dem Beitrag von Janina Heckl, Tsiganismen im Französichen – Die Spuren von Roma- und Sinti-Wortschatz in der Sprache Voltaires (S. 73-93). Der Autorin geht es um Entlehnungen aus dem Romanes im französischen Sprachgebrauch. Wieso die Begriffsbildung „Tsiganismen“ eine wertfreie und genauere Bezeichnung sein soll, erklärt sie nicht.

Weitere Beiträge sind Márcio Vilar, Vom Dreißigsten Tag nach dem Tod eines alten Calon (S. 35-49), weitgehend der Wiederabdruck eines 2010 online publizierten Textes, und Agustina Carrizo-Reimann, Topografie der Vielfalt. Barrios gitanos in Buenos Aires (S.51-72). Welchem Ziel die Aufnahme des Textes von Clara Wieck, Zwischen Kontinuität und Wandel – Die Vag Bagria Rajasthans (S.233-256) dient, erläutern weder Herausgeber*innen noch Autorin. Es lässt sich nur vermuten, dass die von Wieck in Anlehnung an „Kontrastkultur“ gewählte Begrifflichkeit auf Parallelitäten zu „[***]nerkulturen“ nach Leipziger Tsiganolog*innenverständnis hinweisen sollen.

Den Abschluss bildet Harika Dauths Text Mobilität und Flexibilität: wandernde Konzepte und ihre Experten – Eine nomadologische Reise in die postmoderne Tsiganologie (S.291-326), der längste Beitrag und eine Art Manifest „postmoderner Tsiganologie“: Zum Untersuchungsgegenstand werden alle menschlichen Zusammenhänge und selbstreflexiv auch die Tsiganolog*innen.

Letztlich bleibt ein ungeordneter Sammelband, in dem kaum etwas über Roma zu erfahren ist. Neue Sicht- oder Herangehensweisen finden sich so wenig wie Auseinandersetzungen mit der aktuellen nicht-„tsiganologischen“ Forschungsliteratur, die sich gerade in den osteuropäischen Ländern entwickelt und ausdifferenziert hat. Erhellend sind die meisten Beiträge allein hinsichtlich der vielfältigen Wege, auf denen die Leipziger „Tsiganolgie“ der dringend notwendigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Forschungstradition konsequent ausweicht.

_________________________
¹ Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der [***]nerfrage“. Hamburg 1996, S.28.
² Gleichfalls: „Der Name [***]ner wurde nicht negativ tabuisiert, er behielt auch im 3. Reich seinen alten Doppelcharakter aus Zerlumptheit und Romantik.“ Streck, Nationalistische Methoden zur „Lösung der [***]nerfrage“, in: Ethnologische Absichten 7 (1981), S.62. Zit. nach Berthold P. Bartel, Vom Antitsiganismus zum antiziganism. Zur Genese eines unbestimmten Begriffs, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Jg. 60 (2008), H.3, S.198.
³ Michael Zimmermann: Antiziganismus – ein Pedant zum Antisemitismus? Überlegungen zu einem bundesdeutschen Neologismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 (2007), 4, S.305.
⁴ Mark Münzel, Vier Lesarten eines Buches: Zur Rezeption von Hans Stadens ‚Wahrhaftige Historia’, in: Domschke, R. u.a. (Hg.): Martius-Staden-Jahrbuch 53 (2006), S.19.