Ach lass gut sein

Der 1952 in Rumänien geborene und 1987 vor den Repressionen gegen die deutsche Minderheit unter Ceauşescu nach Deutschland geflohene Schriftsteller und Publizist Richard Wagner schreibt für „die Achse des Guten“ (achgut.com).


Erst jetzt stieß ich auf einen gut drei Wochen alten Artikel, in dem sich Richard Wagner zu den heiß diskutierten Roma in Berlin äußert. Für „die Achse des Guten“, die nach eigenen Angaben „populären Mythen auf den Grund zu gehen“ versucht, zeigt der Autor mit seinem Artikel Roma ohne Grenzen?, was er über „die Roma“ denkt.

Gleich einleitend betont Wagner, dass es für „das Roma-Problem“ keine Lösung gibt. Wie sein „Roma-Problem“ dabei genau aussieht, bleibt offen, den Bezugsrahmen bildet die Phantasie der einzelnen Leser. Der Begriff „Problem“ mit einem vorangestellten ethnischen Attribut ist ja nicht ungewöhnlich, man kann sogar jede beliebige Gruppe vor das Wort „Problem“ stellen, ob es diese Gruppe nun de facto geben mag oder nicht. Wer stand nicht schon vor einem unlösbaren Problem?

Es deutet sich an, was Wagner wurmt:

„Ein Gemeinwesen kann nur erfolgreich bestehen, wenn die, die sich ihm angeschlossen haben, sich an die vereinbarten Spielregeln halten, also die Geschäftsgrundlage berücksichtigen. Die Roma, jene, von denen hier die Rede ist, sind Spieler, die die Regeln ignorieren. Sie konstituieren sich zur Gruppe, um damit ein Individualrecht zu erwerben, das ihnen als einzelnen Personen so nicht zustehen würde.“

Das Wort „Spielregeln“ bleibt eine weitere unklare Größe, auch hier muss jeder Lesende selbst erahnen, was Wagner damit meinen könnte. Er mag das deutsche Verbot vom Übernachten im Park oder das „Wild-Camping“-Verbot meinen, auf das die Roma von der Berliner Polizei mehrmals hingewiesen wurden. Er könnte aber auch ungeschriebene Regeln meinen. Aber wie kann jemand wie Wagner die gesellschaftlichen „Spielregeln“ als unabänderliche Konstante verstehen? In einer Demokratie sind es doch eben jene ungeschriebenen gesellschaftlichen „Spielregeln“, die es täglich zu überprüfen gilt. Frauen, Homosexuelle, Menschen mit dunklerer Hautfarbe und viele andere haben sich aus der Stigmatisierung heraus als Gruppen konstituiert, um herrschende „Spielregeln“ zu durchbrechen und der Gesellschaft häppchenweise neue Freiheiten abzuringen. Bis dahin gab es für sie gesellschaftlich die Rote Karte. Ist Richard Wagner der Meinung, dass nur die jeweils herrschende Gesellschaftsmehrheit die „Spielregeln“ festlegen darf?

„Das ist, kurz gesagt, die Statusfrage um die Roma aus Rumänien, die im Berliner Görlitzer Park kampierten und die auf jeden Fall in Berlin bleiben wollen. Viele Menschen möchten in Berlin bleiben. Und es ist in der Regel ja auch möglich. Und zwar für den Einzelnen, für die Person, nicht für die Gruppe.“

Weil die „Spielregeln“ dagegensprechen?

„Die Roma aus Rumänien sind EU-Bürger. Als solche genießen sie die Rechte und Freiheiten eines EU-Bürgers in Deutschland, aber nicht die Rechte der deutschen Staatsbürger. Dafür haben sie alle Rechte eines rumänischen Staatsbürgers. Es gibt keine gesetzliche Diskriminierung der Roma in Rumänien, auch wenn das gelegentlich in den deutschen Medien suggeriert wird.“

Wagner verschweigt die entscheidende Information, dass es derzeit zwei Klassen von EU-Bürgern gibt. Für die erste Klasse trifft seine Aussage zu, aber die Roma in Berlin sind nicht Teil dieser Klasse. Denn als rumänische Staatsbürger sind sie zunächst nur EU-Bürger einer zweiten Klasse, für die bis 2011 das Freizügigkeitsgesetz innerhalb der EU in Bezug auf freie Arbeitsplatz- und Wohnortwahl noch nicht in Kraft ist. Und in deutschen Medien, wenn sie sich denn mit Roma-Diskriminierung in Rumänien befassen, wird meiner Kenntnis nach eher auf die Form der Diskriminierung hingewiesen, die ohne Gesetz möglich ist. Für seine These nennt Wagner keine Beispiele.

„Dass viele der Roma in Berlin bleiben möchten, hat mehr mit dem Sozialgefälle innerhalb der EU zu tun als mit einer Verfolgung in Rumänien. Dort gibt es zwar eine ausgeprägte Anti-Roma-Rhetorik, einen oft ungehemmten Verbalrassismus, aber die Pogromstimmung, die man in unserer Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen zu berichten weiß, ist so nicht vorhanden.“

Seit Rumänien in die EU will, gilt es dort nicht mehr als „chic“, „Z***-Hütten“ anzuzünden, das stimmt. Zusammenhänge wären interessant. Warum bilden in jenem von Wagner angeschnittenen Sozialgefälle ausgerechnet die als Roma / „Z***“ (fremd- oder selbst-) bezeichneten Menschen den untersten Rand? Wieso benennt Wagner nicht, dass Sozialstruktur und Rassismus (auch unter EU-tauglichen Gesetzen) miteinander verknüpft sind?

Wagner kritisiert dann, wie ich finde zurecht, den Habitus europäischer Political Correctness:

„[…] Wenn wir uns politisch korrekt zu verhalten wissen, heißt das automatisch, dass wir von dem, was wir sagen, auch überzeugt sind? Werden wir tatsächlich von der Richtigkeit unseres Verhaltens gelenkt oder nur von dessen gefühlter Notwendigkeit? Kann es nicht sein, dass das Bekenntnis zum politisch Korrekten ein Ausdruck von Opportunismus geworden ist und schon lange nicht mehr den Gegenstand von Zivilcourage ausmacht?“

Dieser vernünftige Gedankengang reicht bis zur Nationalstaatsgrenze:

„Man kann durchaus berechtigt über die Roma in Rumänien behaupten, sie seien diskriminiert, das aber könnte man in der gleichen Weise auch von der Banlieue-Bevölkerung in Frankreich sagen. Käme aber jemand auf die Idee, diesen Franzosen in Berlin ein Aufenthaltsrecht zu geben? Nein.“

Abgesehen davon, dass man einem Franzosen in Berlin weder Arbeit noch Wohnung verwehren darf, einem Rumänen wegen der Einschränkung der Freizügigkeit aber schon, geht es Wagner stets um Legalität und Gesetzesmäßigkeit. Er fragt nicht, warum diese Menschen kommen wollen. Warum verlässt man sein Land mit dem Gedanken, in Deutschland besser überleben zu können? Stellt sich Wagner diese Frage mit Blick auf die Roma? Nicht in diesem Artikel.

Aber erst in der zweiten Hälfte seines Artikels schießt Richard Wagner richtig los.

„In der Romafrage wird gerne moralisiert. Die von den Papiertigern der NGO’s auf den Weg gebrachte Thematik hat gute Chancen zur Chefsache in der europäischen Moralzentrale zu werden. Das Gutmenschentum, das hauptamtliche wie das ehrenamtliche, betreibt die moralische Landnahme. Nichts gegen die Arbeit, die viele Verbände vor Ort leisten, trotzdem aber muss man Einspruch gegen die Art und Weise erheben, wie manche Leute, Helfer und Experten zugleich, die Romafrage moralisieren, ja geradezu inszenieren, um die Aufmerksamkeit der Politik zu erzwingen. Nur für die Roma oder auch für sich selbst?“

Welche NGOs moralisieren? Es fehlen Beispiele. Meint er Human Rights Watch (Vergiftet mit Blei)? Meint er Amnesty International (Jahresbericht Rumänien 2009)? Und die Studie zur rassistischen Diskriminierung in Europa stammt von den Papiertigern der Moralzentrale (Vergessen in Europa)? Und „Gutmenschen“, wie die vom Standard (Slowakische Polizisten misshandelten Roma-Kinder), von der Presse (Rassistische Gewalt versetzt tschechische Roma in Angst), von BBC (‚Lessons learned‘ on race attacks) sowie Nikoleta Popkostadinowa (Kein Mathe, kein Wasser in Stoliponowo) oder Andrej Ivanji (Leben zwischen Ratten und Müll) sind es, die „die Romafrage“ inszenieren?

Mir scheint, das Unkonkrete und die fehlenden Beispiele in Wagners Artikel haben System.

„Man ist offenbar bestrebt, das Roma-Thema zu einem gesamteuropäischen Problem umzudefinieren.“

Diese Aussage von Richard Wagner ist sogar ein bisschen lustig, denn wenn es kein europäisches Thema ist, dann nur ein tschechisches, slowakisches, britisches, polnisches, rumänisches, ungarisches, kosovarisches, bosnisches, italienisches, serbisches, bulgarisches, mazedonisches, … Aber kein europäisches.

„Wie immer in solchen Fällen, wenn die Moralpächter den Europäer in die Pflicht nehmen, wird kräftig zugelangt, Geschichtsklitterung inklusive. Oft genug erweist sich der im allgemeinen Getümmel ausgerufene Pflicht-Antirassismus als das, was er vor dem Hintergrund des politisch Korrekten längst geworden ist: eine Formel der moralischen Schutzgelderpressung.“

Das Thema ist Richard Wagner wohl ein Grund zu großem Ärgernis. Oder ist das eine Beschwerde und er sieht sich als Opfer? Warum nicht ohne Pflicht antirassistisch sein? Stören Wagner eher die Fakten oder eher diejenigen, die sie benennen?

„Wie man’s auch angeht, es bleibt die Wahrheit, dass das ungelöste rumänische Roma-Problem nicht in Berlin verwaltet werden kann, weil es in seinem Kern Teil der sozialen Lage in Rumänien ist. Man sollte für die Roma nicht weiter Gruppensonderrechte einklagen, statt dessen ihnen besser ihre individuellen Rechte und Pflichten klarmachen, und zwar jenseits der Frage, ob Bettelei und Kleinkriminalität als kulturelle Merkmale anzuerkennen sind oder nicht. Es gilt die Gleichstellung zu betonen, nicht den Sonderstatus.“

Der Hinweis darauf, dass Deutschland nicht für die Probleme anderer Länder zuständig ist, wird ja von vielen gern gegeben, warum nicht auch von Richard Wagner. Wo er gelesen hat, dass Bettelei und Kleinkriminalität kulturelle Merkmale sein könnten, sagt er auch nicht. Schade, das hätte mich jetzt wirklich sogar interessiert. Schön, wenn er die Gleichstellung der Roma von nun an mit betont. Während er eben noch meint, „man sollte ihnen … klarmachen“, wechselt er einen Absatz später, abschließend, seine Empfehlung:

„Im Übrigen muss man die Roma aus Berlin auch nicht abschieben, das Abschieben innerhalb der EU ist, bei fehlenden Grenzkontrollen, ohnehin zwecklos. Man erreicht damit nur eine Diskurs-Eskalation im Sinn der NGO’s. Die Roma werden so zu Abgeschobenen. Dabei würde es genügen, ihre Forderungen zu ignorieren. Sie gehen dann erfahrungsgemäß von selbst.“

Wagner kommt nun doch noch zu seinem ganz persönlichen Lösungsansatz und nennt zwei Methoden, dass diese Leute wieder gehen, mit anderen Worten: Möglichkeiten, sie loszuwerden. Weil Abschiebung zu viel Aufsehen erregt (und „ohnehin zwecklos“ ist), empfiehlt Wagner „erfahrungsgemäß“: Ignoranz.