Ringvorlesung Rassismusforschung TU Berlin 7 — Kien Nghi Ha: „Rassismus, Macht und Wissen(schaft)“

Teil 7 aus der Reihe Ringvorlesung Rassismusforschung

Vergangenen Montag (7.12.2015) gab es den Vortrag von Kien Nghi Ha über „Rassismus, Macht und Wissen(schaft) — Rassistische Exklusion und Weißsein in universitären Strukturen“ im Rahmen der Ringvorlesung Rassismusforschung an der TU Berlin. Das Interesse scheint ungebrochen, so zumindest deutet es die Anzahl an Besuchenden an. Es folgt eine Zusammenfassung.

[Unabhängig vom Vortrag, aber aktuell & zum Thema: Hashtag #CampusRassismus]

Bei den Veränderungen an schulischen Einrichtungen nach dem sogenannten „Pisa-Schock“ (2001) seien die tatsächlichen Ursachen für Bildungsunterschiede nicht berücksichtigt worden. Dafür gebe es heute „exzellente Universitäten“, in deren Selbstbildern von transnationaler Kooperation, Internationalisierung, Gender Mainstreaming, Diversität & Antidiskriminierung, Kosmopolitismus + Toleranz + Multikulturalismus die Rede ist — würden diese Ansprüche ernst genommen, würde der Vortrag unnötig sein.

Für das Problem der Benachteiligung in der Bildung müsse als Kontext die gesellschaftliche Kolonialität, also die koloniale Geschichte und ihre fortlaufenden Auswirkungen mit dem ihr eigenen Rassismus, anerkannt werden, statt nur die Annahme zu postulieren, alles sei vorbei. Konzepte von Moderne/Modernität stünden nicht im Gegensatz zur Kolonialität, sondern seien mit diesem verknüpft, wie auch der Kapitalismus mit sozialer Ungleichheit. Rassifizierung und Rassismus sollten nicht als Vorurteile, sondern müssten in ihrer Verknüpfung mit der historischen Wissensproduktion gesehen und verstanden werden. Zur Analyse dieser und weiterer Ebenen gesellschaftlicher Kolonialität diene der Ansatz Anibal Quijanos von der Coloniality of power.

Für die Definition von institutionellem Rassismus folgt Kien Nghi Ha der 1999 in London eingerichteten Macpherson-Kommission, die den institutionellen Rassismus um den rassistischen Mord an Stephen Lawrence und die darauf bezogenen Polizeiermittlungen untersuchte (Übersetzung dieser Definition ins Deutsche hier).

Machtvolle Produktion von Diskriminierung und Ungleichheit erfolge außer durch institutionellen Rassismus (Beispiel racial profiling) auch durch gesetzliche Benachteiligungen (Bsp. Aufenthalts-/Staatsbürger_innenschaftspolitik), durch strukturellen Rassismus (Bsp. Ausschlüsse und Benachteiligungen am „Arbeitsmarkt“), durch Chancenungleichheit/Auslese im Bildungssystem, durch diskriminierenden und gewaltvollen Alltagsrassismus sowie über genderbezogene Aspekte gegen LGTBI*.

Bei der Arbeitsmigrationspolitik lassen sich über inzwischen 100 Jahre bestehende tradierte Logiken feststellen, in denen der gesellschaftliche Verwertungsprozess der Arbeitsmigration dazu führt, dass etwa Gastarbeiter_innen mehrheitlich schlecht bezahlte und sozial stigmatisierte Arbeit erhielten. Kien Nghi Ha vermisst die Thematisierung dieser Marginalisierung von Gastarbeiter_innen in der BRD bei den offiziellen Feierstunden zu Gastarbeiter_innen-Jubiläen. Empirische Studien (bspw. von der OECD 2007, der Uni Konstanz 2010, des Sachverständigenrats 2014) belegten die Diskriminierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

An Universitäten zeigten sich Formen rassistischer Diskriminierung und Exklusion 1. institutionell durch starke Unterrepräsentation von Deutschen of Color, Muslim_innen, postkolonialen Migrant_innen u.a. „Minderheiten“ auf allen Ebenen des Unibetriebs, 2. epistemisch durch Marginalisierung und Nicht-Anerkennung in der akademischen Wissensproduktion (whitewashing knowledge, rassistisches Wissen) und 3. in diskriminierender Alltagskultur (rassistische Attacken, Bemerkungen, Witze…). Der Endbericht zum Projekt „Diskriminierungsfreie Hochschule“ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes verweise auf starke Forschungsdefizite in den Bereichen Exklusion, Diskriminierung und Whiteness, und bestätige die These von der Existenz eines „White Male Middle-Class Club“. Mit anderen Worten: Nicht mangelnde Bildung, sondern rassistische Exklusion ist der zentrale Faktor, der in Deutschland Zugänge zu Ressourcen und Institutionen blockiert.

Für genauere Belege derartiger Ausschlusspraktiken wäre Ethnic Monitoring notwendig, eine Praxis, die wiederum ein Dilemma bedeute: Die Erfassung von Kategorien wie Ethnizität, Race und Religion (wie in den USA und UK üblich) führe zum Problem von Definition und Zugehörigkeit und könnte Diskriminierungsprozesse womöglich reproduzieren — allerdings würden Diskriminierungsprozesse sichtbarer und zielgruppenorientierte Förderungen/Quotenregelungen (affirmative/positive action) erleichtert oder erst ermöglicht. Kien Nghi Ha plädiert für das Instrument des Ethnic Monitoring. Untersuchungsergebnisse des Projekts „Vielfalt entscheidet“ geben Hinweise auf die Diskrepanzen „kultureller Vielfalt“ in deutschen Stiftungen und in Berliner Kulturbetrieben.

Das aus der Dominanz weißer Akteur_innen entstandene wissenschaftliche Wissen könne vor dem Hintergrund gängiger Selbstbilder und Ansprüche in mehrerer Hinsicht als überlegenes Wissen bezeichnet werden. In seiner gesellschaftlichen Anerkennung, ‚Rationalität‘, ‚Objektivität‘ und daraus folgender Allgemeingültigkeit liege der machtvolle Charakter dieses Wissens. Was bei diesen Ansprüchen und Selbstbildern an Wissen(schaft) zu kurz komme, sei die Tatsache, dass Wissen immer situiertes Wissen ist. Denn jegliche Wissensproduktion erfolgt kontextgebunden -> zeitlich, kulturell, politisch, sozio-ökonomisch, mit Positionen in den Kategorien Geschlecht/soz. Hintergrund oder Ethnizität. So können bspw. wissenschaftliche Begriffe zur Bezeichnung von als nicht-weiß gelesenen Menschen als epistemologische/kulturpolitische Setzungen gelten, die durch Evolutionen und Widerstände geprägt sind: Ihre Entwicklung verlaufe von ‚Fremd-/Gastarbeiter‘, ‚Ausländer‘ über ‚MmM‘ vs. ‚Zuwanderer‘ vs. ‚(postkoloniale) Einwanderer‘ vs. ‚Postmigranten‘ zu ‚ethnische Minderheit‘, ’sichtbare Minorität‘, ‚People of Color‘ und ‚Türkisch-deutsch‘, ‚Schwarze Deutsche‘, Asiatische Deutsche, ‚Andere Deutsche‘, ‚Neue Deutsche‘, ‚Postmigrant*innen‘ usw.

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Die Vortragsfolien von Kien Nghi Ha wurden freundlicherweise von der TU Berlin an Interessierte per E-Mail gesendet und können sicherlich @ TU Berlin angefragt werden.

Für Montag den 14.12.2015 ist Pascal Grosse angekündigt und wird über „Koloniale Rassenpolitik vor und nach dem 1. Weltkrieg“ sprechen (facebook-Ankündigung, meinen Blogpost dazu gibt es hier).